Der Erklärungsdruck wird größer, weshalb nach der Konsultation des RSS-Feed der Tagesschau mein Blick auf Spiegel Online fällt. Es ist vermutlich eine Marotte aus der Zeit, in der Spiegel Online noch nicht ganz so offensichtlich als Studenten-BILD daher kam. Wofür diese Gewohnheit aber doch recht gut ist: Man findet oft allerhand spannende Übersetzungsfehler.
Nach der Verhaftung von Wikileaks-Chef Julian Assange twitterte Wikileaks gestern:
Today’s actions against our editor-in-chief Julian Assange won’t affect our operations: we will release more cables tonight as normal.
(via Screenshot auf Bildblog.de, Hervorhebung von mir.)
Spiegel Online wird mit einer zweifelhaften Interpretation nicht allein gewesen sein, aber bei SPON übersetzte man gestern die oben fett gedruckte Stelle in einer ersten Version so…
Wir werden heute Nacht mehr Botschaftsdepeschen veröffentlichen, als normal.
(via Screenshot auf Bildblog.de)
…und hatte sie bis 17 Uhr nach Angaben von Bildblog in diese Übersetzung (Stand: 13:12 Uhr, 8.12.) geändert:
Wir werden heute Nacht mehr Botschaftsdepeschen veröffentlichen, wie üblich.
Spiegel hatte also aus dem als ein wie gemacht (und normal durch üblich ersetzt). Oder anders: Aus Komparativ wurde Gleichheit.
Für Sprecher süddeutscher Dialekte: Im ersten Fall werden mehr Depeschen veröffentlicht, im zweiten Fall ändert sich an der Veröffentlichungsfrequenz nichts. Im Schriftdeutsch steht im Komparativ als, bei Gleichheit wie. Warum ich das betone? Weil in süddeutschen Dialekten diese Unterscheidung nicht gemacht wird: Ich hab mehr Geld wie du ist hier der Normalfall. Die Unterscheidung wird nur durch mehr/größer und genauso viel/groß gemacht. Wer daran Zweifel hat, darf gerne einen norddeutschen Deutschlehrer in einer alemannischen Oberstufe dazu befragen.
Noch vor der Lektüre des Bildblogpost stolperte ich also über die überarbeitete Spiegelversion. Dabei korrigierte ich die Formulierung mehr…wie üblich fast automatisch in mehr…als üblich, weil mehr… einen vermeintlichen Komparativ ankündigte, der aber keiner (mehr) war oder sein sollte. Die geänderte Formulierung ging aber aus einem Komparativ nach SPON-Interpretation hervor. (Wir merken: An dieser Stelle wird es recht unübersichtlich und potentiell zirkulär.) Ich sage “fast automatisch” deshalb, weil ich mir in den vergangenen Jahren den wie-Komparativ recht erfolgreich abtrainiert und den Konventionen meiner norddeutschen Umgebung angepasst habe, obwohl wie für mich eigentlich immer noch die natürlichere Alternative ist.
Vielleicht liegt es an mir: Für meine süddeutschen Ohren sind beide Versionen nahezu synonym, von Registerunterschieden abgesehen: Sie bedeuten beide also, dass mehr Depeschen veröffentlicht werden. Indiz? Mir war Inhalt und Sinn der zitierten Wikileaksaussage überhaupt nicht klar; das wurde sie erst mit der Lektüre des Originals im Bildblog. Und weil Spiegel den ersten Teil des Twitterposts nicht zitierte, interpretierte ich die Aussage in einer ersten Reaktion auch eher wie einen Rachfeldzug von Wikileaks, ganz nach dem Motto “Jetzt erst recht”.
Die wie/als-Unterscheidung wird ja von einem nicht unbeträchtlichen Teil der Sprachgemeinschaft nicht gemacht. Nun darf man natürlich einwenden, dass der Spiegel in Hamburg sitzt — wobei mein für dieses Phänomen geschärftes Ohr in Hamburger Eckkneipen erstaunlich viele wie-Komparative vernimmt. Und eine gewisse Kenntnis der deutschen Hochsprache mag der Spiegel schon von seinen Lesern erwarten dürfen.
Unglücklich ist die Formulierung des Spiegels trotzdem — sie ist zumindest tendenziell uneindeutig zwischen beiden Lesarten. Das Missverständnis lag von Anfang an darin, more mit ‘mehr’ zu übersetzen. Dann kommt man aus dieser Falle auch nicht mehr so einfach raus. Mehr…, wie üblich ist nach den Konventionen unserer Standard- und Schrifstsprache natürlich eine Möglichkeit, den Inhalt der Wikileaksaussage korrekt wieder zu geben. Trotzdem klingt sie für mich auch nach dem zwanzigsten Mal nicht idiomatisch, sondern eher wie das Geschreibsel eines schwäbischen Spiegel-Praktikanten, der bewusst oder unbewusst das Gegenteil behauptet.
Bildblog übersetzt das Wikileaks-Gezwitscher sinngemäßer und damit sehr viel eindeutiger:
Wir werden wie üblich heute Nacht weitere Botschaftsdepeschen veröffentlichen.
Hier ist eine ambige Interpretation ausgeschlossen. Auch für Leute, die größere Klugscheißer sind, wie ich.
Ich bin auch ein größerer Klugscheißer, genau wie du. 😉
Schmäh ohne: “wie” und “als” unterscheide ich auch als sehr austriazistisch sprechender Österreicher sehr streng… “Weil” als Hauptsatzeinleitung hingegen versemmle ich regelmäßig, aber das dürfte nix spezifisch dem süddeutschen Sprachraum Angehöriges sein.
Aber wie und als konsequent zu unterscheiden ist zumindest für uns beide eine erlernte Fähigkeit. Das belegen die Grabenkämpfe, die wir mit unserer norddeutschen Deutschlehrerin noch bis in die Oberstufe (!) geführt haben. Obwohl ich es mittlerweile “korrekt” verwende (zu erkennen daran, dass mich seit der erfolgreichen “Umstellung” kein Hanseat mehr zurecht gewiesen hat), finde ich es bei Beispielen wie oben nicht eindeutig. Dass ich weiß, was gemeint ist, ist unabhängig von der Frage, ob es idiomatisch klingt.
Zu “weil”: Das ist gewissermaßen ein Klassiker in der Sprachkritikskritik. Du hast recht, weil mit Hauptsatzstellung ist kein dialektales Phänomen, noch nicht mal eins einer speziellen Schicht. Aber es folgt recht klaren Mustern. Ohne ins Detail zu gehen, nur so viel: beide Konstruktionen sind (wieder mal) nicht synonym. Ich nehme mal ein Beispiel von André Meinunger (2008: 89):
Es muss geregnet haben, weil mein Auto Dellen hat.
Es muss geregnet haben, weil mein Auto hat Dellen.
Der erste Satz lässt auch die Interpretation zu, dass die Tatsache, dass mein Auto Dellen hat, der Grund für den Regen ist. Im zweiten Fall sind die Dellen eindeutig lediglich das Resultat des Regens. In der Schriftsprache wird dieser Unterschied nicht gemacht (sondern eventuell anders) — und ehrlich, wir interpretieren den Satz ja nicht “falsch”, weil wir wissen, dass Dellen in meinem Auto keinen Regen auslösen können. Dass sie es auch sprachlich nicht können, dafür sorgt in diesem Fall die Hauptsatzstellung. Also nix mit versemmeln, sondern nur wirklich sehr deutliche und wiederkehrende Muster im Zuge einer oft nicht unwesentlichen Differenzierung.
Also noch ein Lesetipp (ich mache demnächst eine Linkliste):
Meinunger, André. 2008. Sick of Sick? Ein Streifzug durch die Sprache als Antwort auf den “Zwiebelfisch”. Kadmos.
“Aber wie und als konsequent zu unterscheiden ist zumindest für uns beide eine erlernte Fähigkeit.”
Ich glaub, da muss ich dich enttäuschen – ich hab nie genau darauf aufgepasst, aber ich glaube, die Unterscheidung haben auch meine Eltern konsequent korrekt getroffen. Insofern ist das für mich nichts bewusst Erlerntes, sondern etwas im Zuge des normalen Spracherwerbs Festgelegtes…
Ich fürchte aber, dass ich auch dann “weil [Prädikat] [Restsatz]” sage, wenn diese Differenzierung nicht notwendig oder sogar falsch herum ist/wäre… 😉
Sick of Sick steht schon länger auf meiner Amazon-Wunschliste. 😉
Okay, wenn deine Ohren schon früh die Unterscheidung gehört haben, gut. Ich wusste ja auch spätestens mit dem Eintritt in die Sekundarstufe, dass wie-Vergleiche nicht der Hochsprache entsprechen. Und trotzdem war es erst der “Konventionsdruck” (sprich die norddeutsche/standardsprachliche Umgebung), der meinem Wissen auch Taten folgen ließ 🙂
Sei unbesorgt — du wirst nach weil immer genau die Satzstellung wählen, die deine kommunikative Situation erfordert. Vertrau deiner muttersprachlichen Performanz (oder so). Dir sei auch noch die dritte Verwendungsmöglichkeit von weil angetragen — nämlich die des Diskursmakers, also das, was man in der verschriftlichen gesprochenen Sprache gerne mit “…” oder “-” markiert: Ich bin gegangen, weil — irgendwie war das total ätzend.
[edit, 21:24 Uhr. Besseres Beispiel: Ich bin gegangen, weil — ich weiß auch nicht.]
Nachdem ich jetzt darüber nachgedacht habe: Mein Meta-Sprachgefühl findet trotzdem, dass die Konstruktion mit “weil [Hauptsatz]” insofern falsch ist, als man für ein Resultats-“weil” ja eigentlich “denn” sagen müsste… Na, vielleicht gewöhn ich’s mir noch irgendwann an. 😉
@Nightstallion: “denn” für Resultate ist allerdings fast ausschließlich auf die Schriftsprache oder gewählte gesprochene Sprache beschränkt. In einer kürzlichen Diskussion sagte mir auch jemand völlig überzeugt “würde ich nie sagen”. Allein in der nächsten Stunde habe ich die Person zwei Mal bei weil mit Hauptsatzstellung “erwischt”. Ich werde da vermutlich aber noch mal einen Artikel zu schreiben.
@Max: wie gesagt, ist ein geografisches Phänomen, obwohl es auch hier oben vorkommt. Vielleicht nicht mit der Systematik wie in Süddeutschland, aber immerhin.
Ich denke, und nur so habe ich das kleine Latinum geschafft, dass zu einer Übersetzung mehr gehört als Vokabeln und Grammatik von A nach B zu schippen. Das Als- Wie- Defizit bereitet mir Gänsehaut und andere Schauder- auf jeden Fall ist es unangenehm
Bin schon gespannt drauf. Ich berichte dann, ob ich mir inzwischen ein korrektes “denn” angewöhnt habe,
weildenn das kann sich ja keiner anhören. 😉