Beginnen wir den Neuanfang mit einem Kaufbefehl. Da die Weihnachtszeit vor der Tür steht und der ein oder die andere schon nach einem Geschenk sucht, hier ein Tipp aus der Sprachwissenschaft. Während der Lektüre von Im Spiegel der Sprache von Guy Deutscher ertappte ich mich nämlich immer wieder bei einem Gedanken: this guy will this year’s christmas shopping very easy.
Anders angefangen: Die Sprachwissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten einige — aus unserer Sicht — recht ungewöhnliche Entdeckung gemacht. Ungewöhnlich für uns, weil das, was wir natürlich finden, nicht immer natürlich für Sprecher anderer Sprachen ist. Wenn man beispielsweise Sprechern europäischer Sprachen Bilder einer Geschichte vorlegt und sie bittet, die Bilder in die richtige Reihenfolge zu bringen, dann ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass sie sie von links nach rechts legen. Muttersprachler des Hebräischen legen sie tendenziell von rechts nach links (Fuhrmann & Boroditsky 2010). Das mag man ja noch mit der Richtung ihrer Schriftsprache erklären können. Aber Sprecher einer australischen Sprache legen mal von links nach rechts, mal von oben nach unten und umgekehrt. Wer sich das augenscheinliche Chaos genauer ansieht, stellt fest, dass sie die Bildergeschichte von Ost nach West erzählen (Boroditsky 2009).
Ups!
Die Sprecher solcher Sprache haben ein System von geografischen oder kardinalen Referenzpunkten (absoluter Referenzrahmen). Sie unterscheiden nicht nach rechts oder links wie wir in unserem egozentrischen System (relativer Referenrahmen). Deshalb heißt die “rechte” Hand eben mal die “nördliche” oder “westliche” Hand, je nach Position. Ein Tisch steht nicht in der linken Ecke, sondern an der Ostseite des Raums. Ganz so unbekannt ist uns das System aber nicht: auch wir nutzen geografische Richtungsangaben in einer Art Mischform. Etwa dann, wenn wir jemanden erklären, dass er jetzt zwei Kilometer nach Norden fahren und dann neben dem Möbelhaus rechts abbiegen muss.
Diese und ähnliche Forschungsergebnisse und ‑ansätze greift Deutscher in seinem Buch auf. Allgemeiner gesprochen geht es um eine Neubetrachtung der Sapir-Whorf-Hypothese (linguistic relativity). Edward Sapir und sein Schüler Benjamin Lee Whorf behaupteten, dass die Sprache das Denken beeinflusst. In seiner starken Version läuft diese These darauf hinaus, dass ein Sprecher nur dann in der Lage sei, gewisse abstrakte Gedankengänge zu pflegen, wenn ihn seine Sprache dazu befähigt.
Nun ist die starke Version der Sapir-Whorf-Hypothese mit Sicherheit nicht haltbar. Was in der einen Sprache “denkbar” und “sagbar” ist, ist es auch in einer anderen. Das kann man gerne im Hinterkopf behalten, wenn es mit periodischer Regelmäßigkeit in der Öffentlichkeit um den “bedauernswerten” Niedergang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache geht: Wir brauchen Deutsch nicht, um philosophische Gedanken zu Papier zu bringen, obwohl es natürlich nett ist, es auf Deutsch zu tun. (Diese “Diskussion” ist eigentlich schon wieder überfällig.)
Besonders in der Linguistik scheute man die Sapir-Whorf-Hypothese lange Zeit wie der Teufel das Weihwasser. In einer schwächeren Version, wie sie von der kognitiven Linguistik aufgegriffen wird, wird die strikte Trennung von Sprache und Denken nicht als gegeben angenommen, sondern gefragt, ob die Sprache Denken und Wahrnehmung beeinflussen könnte - und falls ja, in welchem Ausmaß. Deutscher macht das an drei Themengebieten deutlich: Räumliche Aspekte, Farbwahrnehmung und grammatisches Geschlecht.
Ein Großteil des Buches ist der Diskussion um Farben gewidmet. War das Meer für die antiken Griechen weinrot? War ihr Honig grün? Und warum? Warum leuchtet das Grün in japanischen Ampeln bläulich? Wir finden es vermutlich ziemlich seltsam, dass Russisch zwei Wörter für das hat, was für uns die Tönung ein und derselben Farbe ist: sinij ‘dunkelblau’ und goluboj ‘hellblau’. Was bedeutet das für die Kategorisierung von Blautönen?
Neben den Farben und der räumlichen Kodierung gibt es noch einen Abstecher zur Grammatik. Deutscher unternimmt eine Perspektivänderung: Das Entscheidende ist nicht das, was unsere Sprache uns erlaubt (zu denken), sondern zu welcher Informationsangabe sie uns zwingt. Beispiel: Anders als Deutsch “zwingt” Englisch seine Sprecher, deren Sicht auf die innere Struktur eines Ereignisses zu präzisieren, I go oder I am going. Oder: Manchen Sprachen genügt es nicht, ein Ereignis in der Vergangenheitsform zu erzählen — man muss auch noch kodieren, wie lange es zurück liegt oder wie man darüber Kenntnis erlangt hat (selbst dabei gewesen, Hörensagen etc.).
Die Sprache kann den Sprecher also zu einer Differenzierung oder zur Ausbildung eines ausgeprägten Orientierungssinn zwingen. Witzigerweise scheint es sogar so zu sein, dass Kinder mit Muttersprachen mit absoluten Referenzrahmen diesen schneller erlernen und beherrschen, um die Lage von Objekten zu benennen, als Kinder mit Muttersprache Deutsch oder Englisch das links-rechts-System. Aber die Quintessenz ist: Auch wenn eine Sprache keine grammatische Kodierung von Zeit vornimmt, heißt das nicht, dass seine Sprecher keine Vorstellung von Zeit haben (was die Sapir-Whorf-Hypothese in seiner starken Version voraussagen würde).
Im Grunde ist Deutschers Buch eine in der Linguistik bekannte Feststellung, dass uns die Zeit davon läuft. Wohlgemerkt: Die Öffentlichkeit fragt ja immer wieder, woher etwa ein Feldlinguist in Papua-Neuguinea seine Daseinsberechtigung nimmt — voilà. Denn die wirkliche Erkenntnis über die Bandbreite der menschlichen Sprache geht nicht über den Wortstellungsunterschied zwischen Deutsch oder Französisch, sondern über die aus unserer Sicht “seltsamen Besonderheiten” kleinerer Sprachen, von denen viele noch undokumentiert und vom Aussterben bedroht sind.
Als die Linguistik noch vorwiegend eurozentrisch vorging, hielt man die Universalität von Richtungsangaben wie links und rechts, vor und hinter für gegeben. Viele nicht-europäische Sprachen haben uns vom Gegenteil überzeugt — nicht nur in diesem Detail, sondern in praktisch allen sprachlichen Bereichen. Die Zeit drängt: Das geografische Koordinatensystem in der australischen Sprache Guugu Yimithirr beispielsweise ist im Sprachkontakt mit Englisch bereits verloren gegangen. Wie viele andere spannende Erkenntnisse in wievielen anderen Sprachen entgehen uns da noch!
Deutscher ist natürlich nicht der erste, der mit Whorf tanzen geht. Aber ich gehe davon aus, dass man lieber ein an die Allgemeinheit adressiertes Buch unter den Weihnachtsbaum legen möchte, als eine Bibliografie relevanter Forschungsartikel und deren Antworten aufgrund fehlgeschlagener Thesenüberprüfungen und Experimentwiederholungen einer noch vergleichsweise jungen Disziplin.
Und natürlich kann man fragen, wie einschneidend die Ergebnisse über Farben oder Richtungseingaben für unser Wissen über Sprache sind, wie messbar sie wirklich sind und ob sie nicht ganz andere Gründe haben. Indizien? Grundlegend? Hier und für den “Anfang” reicht der spannende Perspektivwechsel mit Aha-Effekt: pause… and think outside your box. Deutscher unternimmt mit dem Leser hierfür auch noch ein recht anschauliches Experiment.
Für einen ersten Eindruck ist Deutschers Artikel in der New York Times empfehlenswert. Und wer sich auch gerne mit der Evolution der Sprache und der angeblichen Zerstörungswut seiner Sprecher (auch bekannt als “Sprachverfall”) beschäftigen will, der kann sich auch noch Deutschers erstes Buch ins Regal stellen: Du Jane, ich Goethe, im Original The Unfolding of Language, erschienen 2008. Letzteres hat mir besser gefallen als Im Spiegel der Sprache, aber lesenswert sind sie natürlich beide.
*Der mit dem Whort tanzt ist die Überschrift des sechsten Kapitels in der deutschen Übersetzung von Martin Pfeiffer. Im englischen Original heißt sie “Crying Whorf”.
Literaturhinweise:
Boroditsky, Lera. 2009. How does our language shape the way we think?. In: Brockman, Max (Hrsg.). What’s Next? Dispatches on the Future of Science. Vintage Press: 116–129. [Deutscher Abdruck: Wie prägt die Sprache unser Denken? Süddeutsche Zeitung, Nr. 87 vom 16. April 2010.]
Deutscher, Guy. 2010a. Im Spiegel der Sprache: Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. Beck. [Taschenbuch erscheint am 3. Februar 2011.]
Deutscher, Guy. 2010b. Does Your Language Shape How You Think? New York Times, 26. August 2010.
Deutscher, Guy. 2008. Du Jane, ich Goethe. Beck. [Taschenbuch erscheint am 1. Februar 2011.]
Fuhrmann, Orly & Lera Boroditsky. 2010. Cross-Cultural Differences in Mental Representations of Time: Evidence From an Implicit Nonlinguistic Task. Cognitive Science: 1–22.
*umguck* Schick sieht’s hier aus! Sehr minimalistisches Design, gefällt mir gut 🙂 Aber sag mal, woraus wird der Kaffeeanteil Deines Blogs bestehen?
Neugierige Grüße:
Kristin.
@Kristin: Minimalism — nomen est omen. Kaffee? Im Zweifelsfall neben meiner Tastatur und allgemein wirst du mich nie in all zu großer Distanz zum selben finden (Ich musste gar mal den Automaten im Philosophicum konsultieren. Seither frage ich mich: Ist das Qualifikation genug oder nur unglaublich dämlich?). Zur Not: “künstlerische Freiheit”.
@nightstallion: viel Spaß! Ich hatte ja beim Wichteln weniger Glück und muss mir dafür leider doch noch was Kreatives ausdenken… hrmpf
@Kristin: bei einem kurzem Streifzug durch die Bibliothek fiel mir auf, dass minimalism — nomen est omen doch sehr zweideutig formuliert ist. Das hatte ich ja gar nicht aufm Schirm. Ups.
Bücher sind schon auf der Einkaufsliste. 😉