Haben Sie auch schon mal gehört, dass Irisch keine Wörter für ja und nein hat? Oder keins für Sex? Ersteres ist wahr, zweites nicht. Können die Iren deshalb zum Sex (nicht) nein sagen? Oder Tagalog, das angeblich kein Wort für Kapitalismus hat? Doch, kapitalismo. Oder die berühmte Schadenfreude, die Anglo-Amerikaner angeblich nicht empfinden, weil sie kein Wort dafür haben? Und die Deutschen sind natürlich geordneter, als die Engländer, weil wir die übersichtliche Übersichtlichkeit haben. Das ist natürlich eine wahnwitzige Logik, aber darum soll’s hier jetzt nicht gehen.
Umgekehrt geht’s natürlich auch: Eskimosprachen haben ___ Wörter für Schnee, asiatische Sprachen ___ Wörter für die Zubereitung von Reis — und Albanisch hat eine beachtliche Zahl an Wörtern für Schnurrbart.
Angeblich 27, um genau zu sein.
Diese Nachricht geht (vermutlich) auf eine Passage im Buch The Meaning of Tingo von Adam Jacot de Boinod aus dem Jahr 2006 zurück. Die Vermutung stützt sich auf die Tatsache, dass jede Googlesuche zu Schnauzer auf Albanisch unweigerlich zu Aussagen über 27 Wörter führt. Nun denn: auf Seite 19 behauptet de Boinod, das Albanische habe 27 Wörter für diese Art Gesichtsbehaarung und weitere 27 für Augenbrauen. (Klingt verdächtig nach… 42!)
Nun habe ich weder Ahnung von der Morphologie des Albanischen, noch einen Muttersprachler zur Hand, aber das riecht schon nach unnötig aufgeregter Interpretation unspannender Wortbildung. Exkurs: Wenn eine Sprache angeblich X Wörter für Y hat, liegt oft die Fehldeutung eines oder mehrerer der folgenden Wortbildungsmuster vor: Komposition (Schneefall — ‘gefrorene Wasserpartikel, welche in Kristallform vom Himmel fallen’), Ableitung/Derivation (schneeig, ‘das Aussehen oder die Konsistenz von Schnee habend’) und deren Sonderfall Konversion/Nullableitung (snow ‘Schnee’ > snow ’schneien’), Flektion (z.B. des Schnees ‘Schnee im zweiten Fall’) oder der dem Laien oder Sprecher indo-europäischer Sprachen oft nicht bekannten Agglutination (z.B. Türkisch).
Wie gesagt, ich kenne mich mit Albanisch nicht aus und ob und wie es Komposita bildet, Wörter ableitet oder flektiert. Es wird aber vermutlich keine große Kunst sein zu behaupten, dass wir auch mit den Mustern im Hinterkopf in der Analyse des Albanischen recht weit kommen, 27 Wörter für Schnauzer zu finden. Also nehmen wir uns mal die Liste vor, die de Boinod als Belege anführt (ohne Komposita):
- madh ‘bushy moustache’
- holl ‘thin moustache’
- varur ‘drooping moustache’
- big ‘handlebar moustache’
- kacadre ‘moustache with turned-up ends’
- glemb ‘moustache with tapered tips’
- posht ‘moustache hanging down at the ends’
- fshes ‘long broom-like moustache with bristly hairs’
- dirs ur ’newly sprouted moustache (of an adolescent)’ [NB: haben wir auch, Flaum oder engl. (bum) fluff]
- rruar ‘with the moustache shaved off’
Nun sind Wörterbücher Albanisch-Deutsch oder Albanisch-Englisch recht rar. (Und ich sag’s gleich: wissenschaftlich ist die Suche über Onlinewörterbücher nicht. Aber nun gut.)
Nicht für alle dieser zehn Begriffe werden Ergebnisse ausgeworfen. Aber über die Treffer, die man finden kann, gibt es wenig wirklich Erstaunliches zur albanischen Bartkultur zu berichten: (1) madh bedeutet ‘groß’, wie in gisht i madh ‘Daumen’ oder ‘großer Zeh’. (2) holl findet sich in zwei Wörterbüchern als i hollë ‘dünn’ oder hollësi ‘Detail’. (3) varur ist das Partizip von var ‘hängen’. (6) glemb könnte ein Typo für gjemb ‘Stachel’ sein. (7) posht könnte mit poshtë ‘unten’ oder ‘®unter’ zusammenhängen und (8) fshes mit fshesë ‘Besen’. (10) rruar taucht als rruaj ‘rasieren’ auf. (4), (5) und (9) sind nicht im Wörterbuch. (5) kacadre und (9) dirs ur liefern jeweils keinen einzigen Google-Treffer auf albanischen Internetseiten.
Die Auswahl an Begriffen, die de Boinod aufführt, ist also lediglich eine Ansammlung von Ableitungen anderer Substantive, Verben und Adjektive die Schnurrbartaussehen und ‑konsistenz beschreiben können, die aber meist andere Grundbedeutungen haben. Bezeichnend, dass die Wörterbücher für keines der zehn genannten Begriffe als Übersetzung ‘Bart’, ‘Schnurrbart’ oder ‘Schnauzer’ anbieten. Und auch de Boinods Exkurs zu den Augenbrauen, vertullvrenjtur* ist lediglich ein Kompositum: ventull ‘Augenbraue’ + vrenjtur ‘bewölkt’ bezeichnet möglicherweise das, was ich Waigelbalken nenne.
Mal davon abgesehen, dass es lexikalisch nicht besonders ungewöhnlich oder spannend ist und schon gar nichts über Albaner und Gesichtsbehaarung aussagt, kennt zumindest der Verband Deutscher Bartclubs e.V. für Schnurrbärte sechs Wettkampfkategorien — und das sind ja nur die Bewertungsklassen: Naturale, Englisch, Dali, Kaiserlich, Ungarisch und Freistil. Die englische Wikipedia bietet als Stile außerdem beispielsweise chevron, toothbrush, handlebar, walrus oder horseshoe. Dass Deutsch und Englisch ihre Schnurrbärte überwiegend von Substantiven (und Eigennamen) ableiten und Albanisch auch aus Verben und Adjektiven ist nicht bemerkenswert. Die Mechanismen sind ähnlich: natürlich ist eine solche Wortbildung insofern spannend, als dass man darüber sinnvoll nachdenken kann, warum aus einem Besen ein Begriff für einen Schurrbart wird.
Nun wäre es natürlich denkbar, dass im Albanischen all diese Wörter auch als solche wahrgenommen werden, weil sie unterschiedliche Bartstile bezeichnen. Es wäre aber nicht ungewöhnlich oder bemerkenswert. Manche Sprecher differenzieren, wo es andere nicht tun. Englisch kennt heaven für das, woran man glaubt und sky für das was man sieht.
Ich habe de Boinods Buch nicht gelesen. Und mehr als die verlinkte Seite 19 habe ich nicht zur Verfügung (was eigentlich schwach ist). Vielleicht schrecken mich Amazonrezensionen ab, dass er Zechpreller im Deutschen für bemerkenswert hält und Kummerspeck als ‘grief bacon’ übersetzt und somit die Metapher ja auch meilenweit verfehlt. Wie sorglos ist er dann erst mit exotischen Sprachen umgegangen? Wer eine linguistische Betrachtung des Genres ‘Komische Wörter in anderen Sprachen’ und seiner Interpretationsfehler lesen will, dem sei ein alter Post des LanguageLog empfohlen. (An dieser Stelle sollen alle Nichtlinguisten an Geoffrey Pullums Essay zum Eskimo-Hoax verwiesen werden, die Linguisten hier werden es schon kennen.)
Lassen Sie uns doch eine neue urbane Legende ins Leben rufen: “German has X (morphologically non-complex) expressions for the state of ’not being sober’.” Ich mache mal den Anfang:
- voll
- zu
- blau
- hacke
- stramm
- breit
- knülle
- dicht
- ?storno
- ?paniert
- heiter
- gaga
- strack
- dun (norddt.)
- prall
- straff
- steif
Und dann komplexere Ableitungen wie z.B. angemalt, betankt, angetüdelt, angezählt oder beschwippst. Die Liste ließe sich noch unbemerkenswert weit aufblasen, wenn man Komposita aufnimmt: ratzevoll, randvoll, hackebreit, sternhagelvoll, hackedicht oder lattenstramm (Listen unvollständig!). Kein Ende fänden wir, wenn wir auch Redewendung und Metaphern betrachteten: einer metasprachlichen Diskussion entnommen ist mein persönlicher Favourit momentan schwere See haben.
Es ist also lediglich eine Frage der Kreativität der Sprecher, ob und wieviele Begriffe und Phrasen sich hier finden lassen. Und wenn sich niemand nur mit betrunken zufrieden gibt, dann gibt’s halt mehr als eins. Spannend daran ist eigentlich nicht dass, sondern warum und wie ‘Seegang’ auf ‘Betrunken sein’ übertragen wird.
Das war: The Minor Moustache Vocab Hoax.
* vertullvrenjtur liefert (bisher) nur einen einzigen Googletreffer zu einer Diskussion, in der 27 Wörter im Albanischen für Gesichtsbehaarung behandelt.
Jacot de Boinod, Adam. 2006. The Meaning of Tingo: And Other Extraordinary Words From Around The World. Penguin.