Ich war ja kürzlich in der Schweiz und habe mir ganz fasziniert zahlreiche schweizerdeutsche Dialekte angehört. Ganz besonders auffällig in der Phonologie fand ich vier1 Dinge und von diesen vieren kannte ich eines noch nicht: das vokalisierte l. Lest einfach mal …
[…] D’r Himu vou Wouche
U äs rägnet, was es abe mah,
Nume im Schoufänschter vom
Reisebüro
Schiint d’Sunne no.Hätti Flügu zum Flüge
Flug i mit de Vögu furt
U chiem nie meh hei.
I’nes Land ohni Näbu, ohni Räge,
I’nes Land wo si Sunne hei…
I gieng hüt no …. uf u dervo,
Eifach uf u dervo. […][Der Himmel voll Wolken / und es regnet wie verrückt / Nur im Schaufenster vom / Reisebüro / scheint die Sonne noch. // Hätte ich Flügel zum Fliegen / flöge ich mit den Vögeln fort / und käme nie mehr heim. / In ein Land ohne Nebel, ohne Regen, / in ein Land, wo sie Sonne haben … / ich ginge heute noch … auf und davon, / einfach auf und davon.]
… oder hört’s euch an, es ist ein Ausschnitt aus “Uf un dervo” von Gölä (oder Göuä?).
Die markierten Buchstaben zeigen wahrscheinlich schon, was man sich unter so einem vokalisierten l vorstellen muss: Ein Ex-l, das jetzt eine neue Identität als Vokal (Vokchau) angenommen hat.
Auch im Pounischen und Autfranzösischen
Das ist gar kein so seltener Vorgang – im Altfranzösischen wurde zum Beispiel chevals ‘Pferde’ zu chevaux. Am polnischen Buchstaben <ł> sieht man noch das ehemalige l, ausgesprochen wird’s aber als Halbvokal [w]. Und auf der Wenker-Karte 473 (Salz) kann man sehen, dass es auch in Deutschland Dialekte mit l-Vokalisierung gibt oder gab. Im Mittelbairischen fand so ein Prozess z.B. ebenfalls statt – statt u enstand aber i. Das Verbreitungsgebiet kann man hier sehen.
Welche l-Laute?
Fasst man die Regeln, die Haas (1983) nennt, zusammen, so gilt die Vokalisierung immer …
- … nach Vokal, z.B. Sauz ‘Salz’, Soue ‘Sohle’, Taau ‘Tal’ und
- … wenn l der Silbenkern2 ist, z.B. Fogu ‘Vogel’.
Bei Doppel-l wird auch doppelt vokalisiert, z.B. Täuuer ‘Teller’.
Entsprechend findet sich im Liedtext oben auch Flügu ‘Flügel’ – l steht nach Konsonant – und Land – l steht am Wortanfang.
Wie konnte das passieren?
Haas nennt einige Erklärungsansätze. So könnte das l zuerst velarisiert worden sein (also ein “dunkles” l, wie in Englisch help). Velares l und u ähneln sich schon sehr stark, beide werden hinten im Mund produziert. Vielleicht geht der endgültige Wandel zu u deshalb auf “Verhörer” zurück.
Wo und seit wann?
In den westlichen schweizerdeutschen Dialekten – denn da findet sich die Vokalisierung (Christen 2001) – handelt es sich um ein ziemlich neues Phänomen: Haas ordnet die Vokalisierung “kaum vor das 18. Jh.” ein, Christen sogar erst auf Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Emmental im Kanton Bern als Ursprungspunkt. Und das Spannende: Der Prozess ist noch immer aktiv!
“Ein Dialektmarker auf Erfolgskurs”
Obwohl es sich um ein Phänomen handelt, dass vorwiegend auf dem Land auftrat und entsprechend als “ländlich, bäuerisch” bewertet wurde (Christen), scheint es auch in den Städten Karriere zu machen und sich in neue Regionen auszubreiten.
Einen schönen Kommentar dazu findet man in De Gouf vo Neapu, einem lesenswerten Artikel von Mathias Plüss. Er datiert (leider ohne Quellenangabe) die Ausbreitung vor allem auf das 19. und 20. Jahrhundert und nennt als Gebiet die Kantone Bern, Solothurn, Luzern und Aargau (wie sieht die Schweiz noch mal aus?). In der Stadt Bern hatte der Mattedialekt die Vokalisierung übrigens schon früh, in der Oberstadt hat sie sich mittlerweile aber auch durchgesetzt.
Der schon erwähnte Aufsatz von Christen (2001) trägt den schönen Titel “Ein Dialektmarker auf Erfolgskurs: Die /l/-Vokalisierung in der deutschsprachigen Schweiz”. Sie stellt fest, dass einige Schweizer aus unvokalisierten Gebieten die Vokalisierung machen, wenn sie mit Sprechern entfernterer schweizerdeutscher Dialekte reden (Christen nennt das “binnenschweizerischen polydialektalen Dialog”).
Außerdem schaut sie sich die Kantone Nidwalden und Uri an, die östlich vom “eigentlichen” Vokalisierungsgebiet liegen. Dabei entdeckt sie bei drei Nidwalder Gewährsleuten Vokalisierung in 84% der Fälle und bei einem Sprecher aus Uri 20%. (Das ist natürlich eine (noch) etwas magere Datengrundlage.)
Als Grund für den enormen Erfolg der Vokalisierung nennt Christen ihren Exotenstatus: Das Phänomen vergrößert den lautlichen Abstand zur Standardsprache (“Divergenz-Effekt”) und wird deshalb als effektiver Dialektmarker eingesetzt. Da bleibt eigentlich nur noch, der Vokalisierung weiterhin Viu Erfoug! zu wünschen.
Fußnoten:
1 Die Doppelkonsonanten (“Geminaten”), die velare Affrikate (zum Beispiel Linguistikch), der fehlende Glottisverschlusslaut und das vokalisierte l.
2 Das heißt, dass die Silbe keinen Vokal als stimmhaftesten Laut besitzt und deshalb das l in die dem Vokal gebührende Position rutschen lässt. Das geht auch für andere sehr stimmhafte Vokale, im Deutschen sind beliebte Kandidaten l, m, n und ng: Vo|gl <Vogel>, Le|bm <Leben>, lehn|n <lehnen>, häng|ng <hängen>.
Das gibt es auch in Bayern und in Österreich.
Beispiele unter “Dialektvergleich” auf http://www.argealp.org/fileadmin/www.argealp.org/atlas/
Hallo Kristin
bei “Gölä” handelt es sich um ein einfaches l zwischen zwei Vokalen, deshalb kommt es hier nicht zur Vokalisierung. Hab’ ich beim Seminar von Iwar Werlen gehört, finde aber die genaue Referenz gerade nicht (ich würde übrigens tatsächlich “Gölä” aussprechen).
danke für die interessanten Beiträge !
Adrian
Toller Artikel!! Im Portugiesischen wird das l übrigens auch so dunkel wie im Englischen gesprochen. Das ging in Brasilien dann so weit, dass es am Ende vollständig vokalisiert wird: Brasil /brɐ’ziɫ/ > /brɐ’ziu/, Portugal /pɔrtu’gaɫ/ > /pɔrtu’gau/ etc.
bei der vokalisierung des /l/, sei es intervokalisch oder im auslaut, fehlt der historische brückenschlag; es liegt keinesfalls ein schweizer sonderweg vor, sondern keltisches erbe vom atlantik zum ural, von portugiesisch bis russisch — die keltische internationale bis heute. dafür nur einige beispiele, beliebig vermehrbar:
port. coelho sewija
frz. ville > wije
venez. pollo schuj, wolle > woj
russ. woksal > woksau