Wenn jemand sagen würde: “Zeichne ein Möbelstück!”, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich ikonisch ein Bett oder einen Stuhl zeichne und nicht einen Spiegel oder ein Sideboard? Und warum denkt man bei Stuhl eher an einen Stuhl in der Küche und nicht an einen Stuhl in der Zahnarztpraxis? Abgesehen von biologischem Expertenwissen — ist der watschelnde Pinguin wirklich eher ein Vogel, als die flugfähige Fledermaus? Und wer kann genau sagen, wo die Grenze zwischen Blau und Lila ist? Wenn ein Kind einen Hund sieht, wird es vermutlich weder rufen “Schau mal, ein Tier” noch “Schau mal ein Pekinese!”
Wir teilen unsere komplexe Umwelt in Kategorien, um sie verständlicher und erfassbarer zu machen. Dabei gibt es Oberkategorien, MÖBEL, TIERE oder PFLANZEN. Darunter befinden sich die Basic Level-Kategorien, also STUHL, HUND oder BAUM. Diese können noch weiter spezifiziert werden, beispielsweise in Schreibtischstuhl, Dackel oder Apfelbaum. Die Perzeption unserer Umwelt geschieht aber hauptsächlich auf der (hier) mittleren Ebene der Basic Level-Kategorien: zeigt ein Deutschlerner auf einen Teller, wird man ihm sagen, dass das Ding Teller heißt; es ist nur unter bestimmten Voraussetzungen angebracht, ihm zu sagen, dass es möglicherweise ein Frühstücksteller ist — und am wenigsten ist ihm geholfen, wenn ich ihm sage, dass es Geschirr ist.
Die Basic Level-Begriffe (z.B. Bett, Stuhl, Tisch) teilen sich horizontal untereinander und vertikal mit ihrer übergeordneten Kategorie MÖBEL einige Attribute, beispielsweise dass man sie typischerweise in der Wohnung hat. Allerdings trennen ihre jeweiligen Attribute die Gegenstände klar voneinander ab: ein Bett und ein Stuhl haben MÖBEL-Attribute, sind aber ansonsten klar voneinander unterscheidbar. Diese Unterscheidung ist innerhalb einer Basic Level-Kategorie und ihren untergeordneten Begriffen nicht mehr gegeben: innerhalb der Kategorie STUHL sind Küchenstuhl, Schreibtischstuhl oder Esszimmerstuhl nicht notwendigerweise klar trennbar. Sie teilen sich alle die Eigenschaft, dass sie Beine haben (typischerweise vier, möglich sind aber auch einbeinige Stühle mit Spinne, wie am Schreibtischstuhl, drei Beine an Designerstücken oder Querstangen an Ikea-Klappstühlen), dass sie zum Sitzen gebraucht werden oder dass man auf ihnen selten schläft. So gesehen sind die Basic Level-Kategorien STUHL, BETT oder HUND maximal informativ — sie lassen sie lassen sich untereinander besser unterscheiden, als die Mitglieder ihrer jeweiligen Subkategorien. Deshalb sprechen wir von Schreibtischstuhl auch nur dann, wenn der Kontext eine Spezifizierung erfordert, die der Stuhl alleine nicht liefern kann.
Die Zugehörigkeit zu einer Kategorie bemisst sich auch nicht notwendigerweise an der reinen An- oder Abwesenheit von Eigenschaften. Stellt euch eine Tasse vor. Natürlich haben Tassen typischerweise Henkel und Untertassen. Aber ist ein Gefäß, aus dem ich Kaffee trinke, nur deshalb kategorisch keine Tasse, weil es keinen Henkel hat? Wo beginnt eine Tasse und wo hört eine Schale auf? Oder muss man Menschen, die keinen essentiellen Unterschied zwischen Tasse oder Becher sehen, darauf aufmerksam machen — und wenn ja, auf welcher Grundlage eigentlich? (Meine bescheidene Studentenbude hat beispielsweise keine “typischen” Tassen, die man auf Untertassen stellt, sondern streng genommen nur Becher [mit Henkel]; aus der Erfahrung gesprochen mag diese Kategorisierung ein Generationenproblem sein: meine Oma kannte Becher nur passiv, meine Mutter macht eine Unterscheidung zwischen Becher und Tasse und ich nutze beide Begriffe weitgehend synonym, ziehe gegenständlich den Becher aber der Tasse vor.)
Der Punkt ist, dass eine Tasse mit Henkel (und aus Porzellan) eine prototypischere Tasse ist, als ein Becher oder eine Schale. Sie wäre also ein besseres Beispiel eines Vertreters der Kategorie TASSE, als ein Trinkgefäß aus Plastik, was aus dem Kaffeeautomaten fällt. Aber wie man sieht, ist es schwer zu sagen, was denn eine prototypische Tasse ausmacht — es ist offenbar erst die Summe ihrer Attribute, die uns ein Trinkgefäß als Mitglied der Kategorie TASSE kategorisieren lässt. Und so lässt sich auch sagen, dass der Spatz ein prototypischerer Vogel ist, als ein Pinguin. Man könnte sogar behaupten, dass im weitesten Sinne die Fledermaus ein Vogel ist, da sie einige Attribute aufweist, die wir typischerweise Vögeln zuschreiben.
Prototypeneffekte sind real messbar: es wird uns schneller gelingen, Rot als gutes Bespiel der Kategore FARBE zu erkennen, als Türkislilablassblau. Und bis die Telekom Magenta in den Raum warf, war es schließlich einfach Pink. Prototypeneffekte lassen sich sogar in Kategorien nachweisen, die gar keine offenen oder variablen Grenzen haben, wie es bei Tassen oder Möbeln der Fall ist: die Zugehörigkeit zur Kategorie GERADE ZAHL ist auch ohne Expertenwissen eine klare entweder-oder-Geschichte. Und dennoch ist Zwei ein besseres Beispiel einer geraden Zahl als Dreitausendzweihundertachtundfünfzig.
Ich bin übrigens im Nichtlinguistenleben sehr dafür, dass man der Unsitte, in Cafés Kaffee in Müslischalen zu servieren, mal ein gesetzliches Ende bereitet.
*PetitiongegenMüslischalenunterschreibend*
Check.
In Österreich gibt’s neben Tasse und Becher noch Häferl, das ist für mich eher das Wort der Wahl; “Tasse” hätte ich nicht explizit als “mit Untertasse” verstanden.
Dass “Tasse” nicht typischerweise eine Untertasse hat, mag in der Tat eine Generationengeschichte sein — mir fiel das Attribut “Untertasse” auch erst auf, als ich einen entsprechenden Artikel dazu las. Dadurch kam ich auf die Anekdote, die bei uns zu Hause seit jeher für Verwirrung sorgt. Wenn ich beim Kaffeekränzchen die Tasse wieder in die Küche trage und mit einem Becher wieder komme und sage: “Mama, du weißt doch, ich will ne richtige Tasse!” — dann schwirren Fragezeichen durch den Raum. (Ist mittlerweile aber n Running Gag.) Die Vermutung liegt nahe, dass mit dem Generationenwechsel sich auch die Tradition des Kaffee- bzw. Teetrinkens aus liebevoll verzierten Porzellantassen (mit Henkel und Untertasse) ändert. Ich kenne ältere Friesen, die daraus ne Wissenschaft machen und ihren Tee auch grundsätzlich nur aus einer bestimmten Art Tasse zu sich nehmen. Die würden ums Verrecken nicht aus einem Becher trinken. Andererseits trinkt der wahre Kenner ja auch nur Tannenzäpfle (0,33l) und kein Rothaus (0,5l).
Der Autor aus dem ich die Untertasse habe, gab noch ein Übungsbeispiel an: Wenn die Warnhinweise im Central Park in New York aus den 1890ern sagen, dass das Betreten des Parks mit vehicles verboten sei, darf ich dann mit meiner Vespa durchrauschen, auf der Grundlage, dass 1890 eine Vespa kein prototypisches Gefährt war?
Müslischalen sind für Müsli nicht für Milchkaffee!