Fragt man Menschen, welches eines der größten Probleme der EU ist, verwette ich meinen Arsch darauf, dass 80% der Leute sagen: “Die EU hat ein Sprachproblem”. Vermutlich dürfte die Antwort auf die Frage aber auch konjunkturellen Schwankungen unterliegen und derzeit mit “Griechenland”, “(T)Euro” oder “Hä? EU?” konkurrieren. Aber konzentrieren wir uns auf Europas “Sprachproblem”.
Gemäß der Selbstdefinition der EU ist automatisch jede Landessprache seiner Mitgliedsstaaten auch Amtssprache der EU (derzeit 23), mit Ausnahme des Letzeburgischen, da die Luxemburger auf dieses Privileg verzichtet haben, aber inklusive des Irischen, in dem seit 2005 die europäischen Institutionen angerufen werden dürfen. Darüber hinaus werden in der EU nach offiziellen Schätzungen zwischen 70 und 110 Sprachen gesprochen, je nach Definition zwischen Sprache und Dialekt und inklusive der Regional- und Minderheitensprachen (z.B. Sorbisch oder Galizisch). Die “Dunkelziffer” gesprochener Sprachen dürfte ob der vielen außereuropäischen Migrantensprachen natürlich weitaus höher liegen.
Auf institutioneller Ebene regelt eine EU-Sprachpolitik den Sprachgebrauch “nach innen” zwischen den Institutionen und “nach außen” in der Kommunikation mit den Unionsbürgern. Bei der Sprachpolitik nach innen sind in der Praxis einige Sprachen gleicher als andere, da der Politikapparat primär in den dominanten Arbeitssprachen Englisch, Französisch oder Deutsch abläuft. Nach außen bedeutet es, dass alle 23 Amtssprachen gleichen Status genießen. Der dazu notwendige Übersetzungsapparat wird allgemein als zu kostspielig und als zu aufwendig bezeichnet, immerhin ergeben sich über 500 Sprachkombinationen. Was bleibt, ist ein Spannungsfeld zwischen Diversität und Effektivität.
Auf gesellschaftlicher Ebene hat die EU, äh, keine Sprachpolitik. Das mag auf den ersten Blick erstaunlich sein, angesichts ihrer permanent betonten sprachlichen Vielfalt: der Vertrag von Lissabon besagt in Artikel 3–3: “[Die EU] wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt”. Diese und andere mehr oder weniger schwammigen Formulierungen haben der EU den Vorwurf eingebracht, außer netten Gesten und polemischer Symbolpolitik unternehme sie nichts, diesem Reichtum gerecht oder der Vielsprachigkeit seiner Gesellschaft(en) “Herr” zu werden. Diese Kritik kommt natürlich insbesondere aus Ecken, die die EU von vornherein negativ bewerten, aber eben nicht nur. Aus rein nationalstaatlicher aber auch aus supranationaler Perspektive hat die EU also ein “Sprachproblem”, weil seine Bürger nicht “mit einer Stimme sprechen”.
Dabei ist es aber gar nicht notwendig, dass Europas Bürger mit einer Stimme sprechen. Denn Europa ist nicht nur vertikal vielsprachig, es ist auch horizontal mehrsprachig — durch die Mehrsprachigkeit seiner Bürger. Und dabei ist es für die demokratische Legimitität der EU (‘Europa im engeren Sinne’) unerheblich, dass wir keine echte lingua franca haben. Vielmehr muss sich die EU in allen Bereichen durch seine Diversität und Differenz definieren. Nicht umsonst heißt der Leitspruch der EU “Einheit in Vielfalt”. Allein schon die Bereitschaft der EU-Bürger, sich verstehen zu wollen, reicht für den Prozess der Europäisierung auf zivilgesellschaftlicher Ebene aus. Über 80% der Unionsbürger halten Fremdsprachenkenntnisse für sehr oder zumindest ein wenig wichtig — auch, aber nicht nur aus beruflichen Gründen. Und die Mehrsprachigkeit der Bürger nimmt stetig zu. Auch hier ist es unerheblich, ob die Menschen Englisch lernen oder die Sprache des Nachbarn.
Die Abwesenheit einer Sprachpolitik auf gesellschaftlicher Ebene ist dem Subsidiaritätsprinzip geschuldet: Bildungspolitik ist nach wie vor ein Hoheitsbereich der Mitgliedsstaaten. Allerdings sorgt die bloße Existenz der EU dafür, dass sich hier Wechselwirkungen zwischen dem Nationalen und dem Supranationalen ergeben: die Bildungspolitiken der Mitgliedsstaaten sind an den kommunikativen Bedürfnissen seiner Bürger ausgerichtet, und die hören eben auch nicht beim “Englischlernen” auf: in vielen Kindergärten und Grundschulen entlang der deutsch-französischen Grenze beispielsweise ist die Sprache des Nachbars die erste Fremdsprache. Im Umkehrschluss sorgt die EU mit finanziellen und institutionellen Ressourcen für eine erhöhte Mobilität seiner Bürger. Die EU betreibt so gesehen eine “Sprach(en)verbreitungspolitik”.
Die Empirie zeigt deutlich, dass die Mehrsprachigkeit seiner Bürger stetig zunimmt, besonders unter jungen Menschen. Kenntnisse der Sprache der jeweiligen Nachbarn sind außerdem sehr ausgeprägt. Lediglich zwischen 1 und 2,5% aller Sekundarschüler EU-weit lernen keine Fremdsprache (Ausnahmen: UK, 38% und IRL, 12%*). Die mehrsprachigen Bürger leben also die institutionalisierte Vielsprachigkeit der EU.
Wenn man es also so betrachtet, wird auch deutlich, dass das Sprachproblem kein Problem der EU ist — jedenfalls nicht nur. Die Perspektive der zivilgesellschaftlichen Europäisierung deckt vor allem die Probleme beim Ausbau der Mehrsprachigkeit auf: denn die individuelle Mehrsprachigkeit steigt sowohl mit dem Bildungsgrad, als auch mit der individuellen und nationalen Wirtschaftskraft — und fällt oft mit der Größe des respektiven Mitgliedslandes. Kleinere Länder sind in der Tendenz mehrsprachiger als Größere (und dies bezieht sich nicht nur auf Skandinavien oder andere kleinere Länder der alten EU-15). Die Grenzen der Mehrsprachigkeit verlaufen also nicht nur vertikal zwischen den Mitgliedsstaaten, sondern vor allem horizontal entlang soziodemografischer Grenzen.
So gesehen ist Vielsprachigkeit weniger ein Integrationshemmnis für die EU denn eine Herausforderung für nationale Bildungspolitiken.
Hierzu beginnt in diesem Minuten meine Politikklausur.
*Aus den Daten der Eurobarometer geht leider nicht hervor, ob die Iren das Erlernen des Irischen bereits als Fremdsprachenlernen bezeichnen (Irisch ist in allen staatlichen Sekundarschulen Irlands Pflichtfach). Es ist ein wenig grotesk, dass von der Mehrheit der Iren Irisch als Fremdsprache erlernt werden muss und auch als solche bzw. als Zweitsprache wahrgenommen wird. Für die hier zugrunde liegenden Annahmen ist die Frage, ob Irisch Mutter‑, Zweit- oder Fremdsprache ist, aber ebenfalls zweitrangig.