Sprachstücke

Von Anatol Stefanowitsch

Erstens, Gespräch in der S‑Bahn:

SOHN (ca. 9 Jahre alt). „Papa, ist das hier überall?“

VATER. „Fre­und­chen, ein Satz beste­ht aus Sub­jekt, Prädikat und Objekt, und ‚Ist das hier über­all‘ ist kein voll­ständi­ger Satz.“

(Eigentlich klang es, rustikal nord­deutsch, eher so: „Froinchen, oin Sätz beste­jht aus Sub­jekt, Predikoot und Objekt, und ‚Is däs hiä übäooll‘ is koin voll­stän­niger Sätz“.).

Das stimmt aber nicht. Ein deutsch­er Satz beste­ht, wenn ich der Duden-Ter­mi­nolo­gie folge, (meis­tens) aus einem Sub­jekt und einem Prädikatsver­band, wobei let­zter­er ein aus einem Verb mit null bis zwei Objek­ten (Akkusativ‑, Dativ- und Gen­i­tivob­jek­ten) und/oder ein­er bunt gemis­cht­en Anzahl ver­schieden­ster Ergänzun­gen und prädika­tiv­er Nom­i­na­tive und Akkusative beste­hen kann. Die Duden­gram­matik führt, und damit schätzt sie kon­ser­v­a­tiv, sech­sund­dreißig Satzbau­pläne auf, von denen bei großzüger Zählweise ger­ade ein­mal vier die Struk­tur Sub­jekt-Prädikat-Objekt haben.

Ist das hier über­all ist sehr wohl ein voll­ständi­ger Satz, er beste­ht aus einem Sub­jekt (das), einem Prädikat (ist) und zwei Raumergänzun­gen (hier, über­all) und fällt somit unter Satzbau­plan Nr. 7 in der Duden­gram­matik. Dass der Vater ihn für unvoll­ständig hielt, liegt daran, dass der Satz gle­ich zwei deik­tis­che For­men enthält — Wörter, die für sich keine Bedeu­tung haben son­dern nur auf den Gesprächsteilnehmer/innen ander­weit­ig bekan­nte Dinge ver­weisen: das und hier. Die kor­rek­te Reak­tion wäre deshalb gewesen:

VATER (hypo­thetisch). „Froinchen, Doix­is ohne situä­tiv­en odä textuellen Bezuch geht goor nich, däs is oin äbsolutes No-Go“. 

Zweit­ens, Durch­sage im IC nach Bremen:

ZUGCHEF. „Unser Zug hat derzeit eine Fahrzeitver­längerung von 12 Minuten.“ 

So kann man Ver­spä­tun­gen natür­lich auch vermeiden.

 

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

17 Gedanken zu „Sprachstücke

  1. Martin Huhn

    Ok, wenn mich dem­nächst jemand fragt, ob ich Deutsch spreche, dann verneine ich bess­er. Dann bin ich auf der sicheren Seite.

  2. Torsten G.

    Das Schöne an dem Satz des Kindes sind doch seine meta­ph­ysis­chen Dimen­sio­nen. Bringt die Frage nicht all das auf den Punkt, was uns zeit unseres Lebens umtreibt? “Ist das hier über­all?” — Sind wir im “Über­all”; kön­nen wir wis­sen, wo “über­all” ist; wenn “hier” “über­all” ist, wo endet es dann?

  3. Achim

    Wo ist das Problem?

    Dass der Vater ihn für unvoll­ständig hielt, liegt daran, dass der Satz gle­ich zwei deik­tis­che For­men enthält

    Ein­spruch: “das hier” ist eine einzige deik­tis­che Form. Und der sit­u­a­tive Bezug ist die Land­schaft (hm, “Stadtschaft”?), durch die die Bahn fuhr. Ist Papa sel­ber schuld, wenn er nicht aufpasst…

  4. Anatol Stefanowitsch

    Beto­nung
    @Achim: Nein, in diesem Fall sind es zwei, da der Junge nicht Ist DAS hier über­all gesagt hat, son­dern Ist das HIER über­all. Ich hätte das gle­ich so darstellen sollen.
    Der Satz des Jun­gen war übri­gens tat­säch­lich die Eröff­nung des Gesprächs, es war also unmöglich, zu wis­sen, worauf sich das und hier beziehen sollten.
    Auf­fäl­lig war auch noch, dass der Junge ein sehr gepflegtes Hochdeutsch gesprochen hat und der Vater eben einen sehr selb­st­be­wussten Sozi­olekt, kom­biniert mit ein­er sehr gen­ervten Attitüde (obwohl der Junge vorher brav und still dage­sessen hatte).

  5. Kristin

    Klingt für mich so, als sei “hier” sub­stan­tiviert gewe­sen, also “Ist das Hier überall?”
    (Nicht dass sich dadurch mehr inhaltliche Klarheit ergäbe.)

  6. Gerhard

    Ich war ja noch nie in Bre­men (spielt doch in Bre­men, oder?), aber in anderen nord­deutschen Gegen­den scheint es mir, dass die Ver­wen­dung eines stark region­al gefärbten Sozi­olek­ts (oder wie auch immer man das nen­nen will) weit­ge­hend auf die ältere und mit­tlere Gen­er­a­tion beschränkt ist. Wenn ich in Ham­burg, Husum oder Emden Schulkinder sprechen höre, klin­gen die immer recht akzentfrei.

  7. nömix

    Zum Glück beste­ht Sprache nicht aus “voll­ständi­gen Sätzen”. Da wäre sie arm dran.
    »Ein Pferd, ein Pferd, mein Kön­i­gre­ich für ein Pferd!«
    (Shake­speare, Richard III.)
    Jet­zt stelle man sich diesen Satz ohne “fehlen­des” Sub­jekt und Prädikat vor — das würde ihn gewiss nicht verbessern 😉

  8. Achim

    schwierig zu analysieren
    Wenn die Prosodie der Frage des Jun­gen so selt­sam war, ist die ganze Äußerung schw­er zu deuten.
    Was mir beim Wieder­lesen auffiel: Wie fol­gt auf die zwei deik­tis­chen For­men im Satz der Schluss des Vaters, der Satz sei ungram­ma­tisch? Auch bei ein­er deik­tis­chen Form (“ist hier über­all?”) hätte ihm doch das Objekt gefehlt.
    Ich krich den Ton­fall übri­gens ruck­zuck wiedä drauf, sobald ich ein paar Stun­den in Kiäl bin und mit Kilää Froin­den rede. Koin Problem.

  9. Ute

    Das ähnelt der Frage, die mein dreiein­hal­b­jähriger Sohn mir manch­mal stellt:
    “Ist jet­zt heute?”
    😉

  10. David

    @Kristin:
    “Ist das Hier über­all?” fände ich inhaltlich eigentlich ziem­lich klar, wenn ich annehmen kann (und das ist ja der Fall), daß der Satz von jemand gesprochen wurde, der den deik­tis­chen Charak­ter von “hier” und vielle­icht das Konzept Deix­is ins­ge­samt noch nicht voll­ständig begrif­f­en hat. Egal wo man ist, man ist immer “hier”. Also muß das Hier doch irgend­wie über­all sein, oder?
    Ken­nt sich hier jemand gut in der Spracher­erwerb­s­forschung aus?

  11. David

    Hm, ger­ade nochmal die Alterss­chätzung nachge­le­sen. Bei einem neun­jähri­gen hätte ich eigentlich schon einen recht sicheren Umgang mit Deik­ti­ka erwartet.
    Aber ich kann da auch wirk­lich nur wild herumvermuten.

  12. Patrick Schulz

    Deix­is
    Mal was ganz andres; wie wird das in „Deix­is“ bzw. „deik­tisch“ eigentlich aus­ge­sprochen? /aɪ/ oder /ɛɪ/ (oder ganz anders)?
    [Wer seine klas­sizis­tis­che Bil­dung demon­stri­eren will, sollte [dɛɪk­sɪs] sagen, für uns andere geht auch [daɪk­sɪs]. –A.S.]

  13. Gareth

    Oder auch ein­fach [daek­sis], weil mir nie­mand erzählen kann, dass er ei im Deutschen wirk­lich als [ai] ausspricht.

  14. kreetrapper

    Zu spät
    Fahrzeitver­längerung ist ein wun­der­schön­er Euphemis­mus. Da macht das Bah­n­fahren doch gle­ich wieder viel mehr Freude.

  15. Robert M Maier

    Nööö, der Satz ist doch völ­lig in Ord­nung? Das “über­all” ist der Frage­topikalisierung wegen an den Schluss gestellt, und das “hier” schmeckt mir nach sit­u­a­tiv desam­bigu­iert­er Ellipse — evtl. “hier in der S‑Bahn”, oder “an dieser Hal­testelle hier”. Dächte ich.

  16. Jan

    Ist das so?
    Witziger Beitrag! Aber…
    Nor­maler­weise fragt man doch eher Was?, Wie? oder Wo?, wenn die Deix­is nicht klar ist, und sagt nicht “Das ist ein unvoll­ständi­ger Satz”. Die Reak­tion vom Vater find ich aber trotz­dem nachvol­lziehbar — mir ging es beim ersten Lesen näm­lich ähn­lich. Wenn der Kleine “Ist das hier über­all so?” gefragt hätte, hätte wed­er Vater noch ich seine Syn­tax in Zweifel gezo­gen, auch wenn wir genau­so wenig ver­standen hätten.
    M.a.W.: Ich meine, dass es irgend­wie eher an der Erwartung liegt, mit welch­er “Ergänzung” dieses “ist” aufzu­tauchen hat. Inter­es­sant an den Din­gen ist näm­lich eher “wie” sie “sind” als “wo” (ohne dass ich diesen Ein­druck jet­zt irgend­wie beweisen könnte)

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