Erstens, Gespräch in der S‑Bahn:
SOHN (ca. 9 Jahre alt). „Papa, ist das hier überall?“
VATER. „Freundchen, ein Satz besteht aus Subjekt, Prädikat und Objekt, und ‚Ist das hier überall‘ ist kein vollständiger Satz.“
(Eigentlich klang es, rustikal norddeutsch, eher so: „Froinchen, oin Sätz bestejht aus Subjekt, Predikoot und Objekt, und ‚Is däs hiä übäooll‘ is koin vollstänniger Sätz“.).
Das stimmt aber nicht. Ein deutscher Satz besteht, wenn ich der Duden-Terminologie folge, (meistens) aus einem Subjekt und einem Prädikatsverband, wobei letzterer ein aus einem Verb mit null bis zwei Objekten (Akkusativ‑, Dativ- und Genitivobjekten) und/oder einer bunt gemischten Anzahl verschiedenster Ergänzungen und prädikativer Nominative und Akkusative bestehen kann. Die Dudengrammatik führt, und damit schätzt sie konservativ, sechsunddreißig Satzbaupläne auf, von denen bei großzüger Zählweise gerade einmal vier die Struktur Subjekt-Prädikat-Objekt haben.
Ist das hier überall ist sehr wohl ein vollständiger Satz, er besteht aus einem Subjekt (das), einem Prädikat (ist) und zwei Raumergänzungen (hier, überall) und fällt somit unter Satzbauplan Nr. 7 in der Dudengrammatik. Dass der Vater ihn für unvollständig hielt, liegt daran, dass der Satz gleich zwei deiktische Formen enthält — Wörter, die für sich keine Bedeutung haben sondern nur auf den Gesprächsteilnehmer/innen anderweitig bekannte Dinge verweisen: das und hier. Die korrekte Reaktion wäre deshalb gewesen:
VATER (hypothetisch). „Froinchen, Doixis ohne situätiven odä textuellen Bezuch geht goor nich, däs is oin äbsolutes No-Go“.
Zweitens, Durchsage im IC nach Bremen:
ZUGCHEF. „Unser Zug hat derzeit eine Fahrzeitverlängerung von 12 Minuten.“
So kann man Verspätungen natürlich auch vermeiden.
[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Version enthält möglicherweise Korrekturen und Aktualisierungen. Auch die Kommentare wurden möglicherweise nicht vollständig übernommen.]
Ok, wenn mich demnächst jemand fragt, ob ich Deutsch spreche, dann verneine ich besser. Dann bin ich auf der sicheren Seite.
Das Schöne an dem Satz des Kindes sind doch seine metaphysischen Dimensionen. Bringt die Frage nicht all das auf den Punkt, was uns zeit unseres Lebens umtreibt? “Ist das hier überall?” — Sind wir im “Überall”; können wir wissen, wo “überall” ist; wenn “hier” “überall” ist, wo endet es dann?
Wo ist das Problem?
Einspruch: “das hier” ist eine einzige deiktische Form. Und der situative Bezug ist die Landschaft (hm, “Stadtschaft”?), durch die die Bahn fuhr. Ist Papa selber schuld, wenn er nicht aufpasst…
Betonung
@Achim: Nein, in diesem Fall sind es zwei, da der Junge nicht Ist DAS hier überall gesagt hat, sondern Ist das HIER überall. Ich hätte das gleich so darstellen sollen.
Der Satz des Jungen war übrigens tatsächlich die Eröffnung des Gesprächs, es war also unmöglich, zu wissen, worauf sich das und hier beziehen sollten.
Auffällig war auch noch, dass der Junge ein sehr gepflegtes Hochdeutsch gesprochen hat und der Vater eben einen sehr selbstbewussten Soziolekt, kombiniert mit einer sehr genervten Attitüde (obwohl der Junge vorher brav und still dagesessen hatte).
Klingt für mich so, als sei “hier” substantiviert gewesen, also “Ist das Hier überall?”
(Nicht dass sich dadurch mehr inhaltliche Klarheit ergäbe.)
Ich war ja noch nie in Bremen (spielt doch in Bremen, oder?), aber in anderen norddeutschen Gegenden scheint es mir, dass die Verwendung eines stark regional gefärbten Soziolekts (oder wie auch immer man das nennen will) weitgehend auf die ältere und mittlere Generation beschränkt ist. Wenn ich in Hamburg, Husum oder Emden Schulkinder sprechen höre, klingen die immer recht akzentfrei.
Zum Glück besteht Sprache nicht aus “vollständigen Sätzen”. Da wäre sie arm dran.
»Ein Pferd, ein Pferd, mein Königreich für ein Pferd!«
(Shakespeare, Richard III.)
Jetzt stelle man sich diesen Satz ohne “fehlendes” Subjekt und Prädikat vor — das würde ihn gewiss nicht verbessern 😉
schwierig zu analysieren
Wenn die Prosodie der Frage des Jungen so seltsam war, ist die ganze Äußerung schwer zu deuten.
Was mir beim Wiederlesen auffiel: Wie folgt auf die zwei deiktischen Formen im Satz der Schluss des Vaters, der Satz sei ungrammatisch? Auch bei einer deiktischen Form (“ist hier überall?”) hätte ihm doch das Objekt gefehlt.
Ich krich den Tonfall übrigens ruckzuck wiedä drauf, sobald ich ein paar Stunden in Kiäl bin und mit Kilää Froinden rede. Koin Problem.
Das ähnelt der Frage, die mein dreieinhalbjähriger Sohn mir manchmal stellt:
“Ist jetzt heute?”
😉
@Kristin:
“Ist das Hier überall?” fände ich inhaltlich eigentlich ziemlich klar, wenn ich annehmen kann (und das ist ja der Fall), daß der Satz von jemand gesprochen wurde, der den deiktischen Charakter von “hier” und vielleicht das Konzept Deixis insgesamt noch nicht vollständig begriffen hat. Egal wo man ist, man ist immer “hier”. Also muß das Hier doch irgendwie überall sein, oder?
Kennt sich hier jemand gut in der Sprachererwerbsforschung aus?
Hm, gerade nochmal die Altersschätzung nachgelesen. Bei einem neunjährigen hätte ich eigentlich schon einen recht sicheren Umgang mit Deiktika erwartet.
Aber ich kann da auch wirklich nur wild herumvermuten.
Deixis
Mal was ganz andres; wie wird das in „Deixis“ bzw. „deiktisch“ eigentlich ausgesprochen? /aɪ/ oder /ɛɪ/ (oder ganz anders)?
[Wer seine klassizistische Bildung demonstrieren will, sollte [dɛɪksɪs] sagen, für uns andere geht auch [daɪksɪs]. –A.S.]
Oder auch einfach [daeksis], weil mir niemand erzählen kann, dass er ei im Deutschen wirklich als [ai] ausspricht.
Zu spät
Fahrzeitverlängerung ist ein wunderschöner Euphemismus. Da macht das Bahnfahren doch gleich wieder viel mehr Freude.
Nööö, der Satz ist doch völlig in Ordnung? Das “überall” ist der Fragetopikalisierung wegen an den Schluss gestellt, und das “hier” schmeckt mir nach situativ desambiguierter Ellipse — evtl. “hier in der S‑Bahn”, oder “an dieser Haltestelle hier”. Dächte ich.
Ist das so?
Witziger Beitrag! Aber…
Normalerweise fragt man doch eher Was?, Wie? oder Wo?, wenn die Deixis nicht klar ist, und sagt nicht “Das ist ein unvollständiger Satz”. Die Reaktion vom Vater find ich aber trotzdem nachvollziehbar — mir ging es beim ersten Lesen nämlich ähnlich. Wenn der Kleine “Ist das hier überall so?” gefragt hätte, hätte weder Vater noch ich seine Syntax in Zweifel gezogen, auch wenn wir genauso wenig verstanden hätten.
M.a.W.: Ich meine, dass es irgendwie eher an der Erwartung liegt, mit welcher “Ergänzung” dieses “ist” aufzutauchen hat. Interessant an den Dingen ist nämlich eher “wie” sie “sind” als “wo” (ohne dass ich diesen Eindruck jetzt irgendwie beweisen könnte)
So sollte man ein Theaterstück beginnen lassen.