Ich war zu Ostern bei meinen Eltern und habe sie natürlich immer heimlich belauscht und mir badische Dialektphänomene aufgeschrieben. Was ich aber auch getan habe: mir meine Bildersammlung aus der Kindergartenzeit angeschaut. Weniger wegen der Bilder, als vielmehr wegen der Schrift. Und oh, was ich da für Schätze gefunden habe! Folgendes Schreiben ist auf ein halbes Jahr vor meiner Einschulung datierbar:
LIBAHELMUT
IR WÜNSE KRISTIN
DIA FIL
SBASANDAINEN 37
SIKSTEN FILKLÜK
GEBU ASTAK
Und in normalisierter Schreibung:
Lieber Helmut, ich wünsche Dir viel Spaß an Deinem 37sten Geburtstag. Viel Glück! Kristin.
Viel Glück beim Spaßhaben? *hehe* Ich habe die Karte übrigens stellvertretend für meine Mutter geschrieben, daher die Anrede Helmut für meinen Vater. Aber dann bin ich doch aus der Rolle gefallen und habe mit Kristin unterschrieben …
Das Bild kann ich nicht mehr interpretieren. Vielleicht hat er eine Trommel geschenkt bekommen? Dafür kann ich aber all die wunderschönen Schreibfehler erklären:
- Das konsequente <A> statt <er> ist das vokalisierte R (LIBA, DIA, GEBUASTAK).
- Das <K> statt <g> ist die verschriftete Auslautverhärtung (KLÜK, GEBUASTAK).
- <S> statt <sch> ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass es ziemlich kompliziert ist, zu verstehen, dass mehrere Buchstaben zusammen einen Laut ergeben: WÜNSE.
Außerdem gibt es ja wirklich Wörter, wo es als <S> geschrieben wird: SBAS. Am Wortanfang vor p und t schreiben wir immer <s>, obwohl wir immer den sch-Laut sprechen: Spaß, Stein. (Norddeutsche partiell ausgenommen.) In der Varietät meiner Kindheit galt das zudem auch für Wortmitte und Ende: Fescht statt Fest, gnuschbere statt knuspern, … die Gleichsetzung lag also nahe. - Der Anlaut von KLÜK spricht für eine mangelnde Differenzierung von Plosiven. Da gibt es nämlich zwei Reihen, zum einen p, t, k (je nach Region die stimmlosen oder die Fortes) und b, d, g (die stimmhaften oder die Lenes). Dass ich es damit nicht so hatte, sieht man gleich noch weiter unten an Schreibungen wie PRAI und PROT. Auch hier mache ich das Badische verantwortlich, das so sehr zu den Lenes neigt, dass der Unterschied zwischen B und P, G und K und D und T mir ziemlich willkürlich vorgekommen sein muss.
- Dann gibt es noch IR statt <ich>. Das hatte System. Das mit den zwei Buchstaben für einen Laut war echt kompliziert und ich habe sehr lange gebraucht, bis ich das raushatte. Inzwischen habe ich einfach immer R für <ch> benutzt. Bildungsort und ‑art sind gar nicht so unähnlich.
- bei SIKSTEN scheint mir nicht klar gewesen zu sein, dass SIK schon in 37 drinsteckt. Stammte ich aus dem Norden, ich hätte sicher SIRSTEN geschrieben – aber in Süddeutschland wird ein -ig immer als ik ausgesprochen. dreißig ist also dreißik, billig ist billik und König ist Könik (oh, haben wir im Chor gelacht, als der Leiter sagte, wir müssten Könich singen …).
- So, der Rest ist Kosmetik – zwischen <f> und <v> gibt es keinen lautlichen Unterschied, warum also zwei Buchstaben lernen, und <ei> klingt wie [ai].
Das war mit Abstand der beste Fund, aber auch folgendes Gemälde, betitelt IM SCHLARAFENLANT und ikonographisch eindeutig von klassischeren Darstellungen beeinflusst (man beachte das Besteck auf dem Rücken der Schweine), fand ich nicht schlecht (draufklicken zum Vergrößern):
Das muss etwas später gewesen sein, denn ich hatte mittlerweile das <sch> gelernt: SCHLARAFENLANT, FISCH und etwas übereifrig MILSCH (was nicht der Aussprache entspricht, es heißt eigentlich Milich). Dass ich mir bei MILSCH nicht so sicher war, sieht man am guten alten MILRPRAI ‘Milchbrei’ unten links. Und dazu passen auch die PFANKUREN.
PFANKUREN und SCHLARAFENLANT zeigen auch, dass mir das hochgradig künstliche Konzept, einen Konsonanten doppelt zu schreiben, um die Kürze des vorangehenden Vokals zu bezeichnen, noch fremd war. Es gibt aber frühere Bilder mit HIMMEL, SONNE und EMMA. (Wer auch immer Emma war, ich habe den Namen verdammt oft geschrieben. Eine Puppe?) Ich nehme an, dass die aus Büchern abgeschrieben waren. Auch Längenbezeichnungen habe ich keine gemacht, was das FIL oben verdeutlicht.
Die frühesten schriftlichen Zeugnisse lassen sich übrigens recht genau auf 3 Jahre, 5 Monate datieren:
Damals war mir noch nicht klar, dass Schreiben was mit Linearität zu tun hat, und entsprechend finden sich in den folgenden Jahren zahlreiche Varianten wie TIRIKN, SKRITNI, KRTISNI und KRTSIIN. Was ein Glück, dass ich immer darauf bestanden habe, meine Kunstwerke zu signieren.
Hier noch zwei Bilder, die ich sehr gelungen finde – glücklicherweise hat meine Mutter auf die Rückseite geschrieben, was es sein soll:
Der Typ oben rechts sieht aus wie so ein fieser Virus aus “Es war einmal … das Leben”, oder?
Hier ist wahrscheinlich recht leicht zu erraten, was dargestellt wird. Die gefletschten Zähne? Leute, wir lachen:
Und die Moral?
Schreiben konnte ich schon immer besser als malen. Und bei einer Party muss man keine gute Laune haben.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entzückend ich so etwas finde. Ähnliches habe ich neulich auch einmal bei mir ausgegraben.
Ich erinnere mich noch sehr gut, dass ich das “S” auch als “Sch” verwendete — aus den von Ihnen genannten Gründen. Übrigens kam ich auch beim Lesen durcheinander und glaubte, “Gesicht” heiße “Geschicht(e)”.
Großartig fand ich neulich das Bild, das der Sohn einer Freundin gemalt hatte. Darauf stand etwa:
ESWARNEIMA TSUAIELTN DIHATNESGEMTLCH
(Es waren einmal zwei Eltern, die hatten es gemütlich). “Tsuai”!
Ist das niedlich… und total faszinierend, vor allem die “PFANKUREN”.
Ich muss unbedingt mal schauen, ob meine Eltern sowas auch noch von mir haben 🙂