Altbundeskanzler Helmut Kohl feierte gestern seinen 80. Geburtstag. Der einzige Grund, ihn dafür nicht an seinem Geburtstag zu würdigen, liegt im gestrigen Artikel, den ich persönlich zu schön fand, ihm auch gleich eine ebenbürtige Konkurrenz aufzuhalsen.
Aber widmen wir uns einem Beitrag auf NDR2, der gestern einen Nachruf, pardon, einen Beitrag über die Geburtstagsnichtfeierlichkeiten Helmut Kohls sendete:
[Helmut Kohl] ist ein bißchen hinfällig geworden, aber er ist voll präsent. Ihm kann keiner was vormachen; er nimmt am politischen Leben insofern teil, als dass er sich über alles noch informieren lässt. Helmut Kohl ist geistig voll da, aber er ist körperlich eben hinfällig.
(Dietmar Riemer, ARD-Hauptstadtstudio Berlin,“Kurier um 12″, NDR2, 3. April 2010)
Ich stutzte sofort beim Adjektiv hinfällig. Zwar war augenblicklich klar, dass hinfällig hier nicht im Sinne von ‘gegenstandslos, ungültig’ gemeint war, obgleich die Nähe zu präsent durchaus zur Verwirrung, um nicht zu sagen zur Belustigung, beitrug. (Von mir aus darf hier auch an die — bildliche — größere Versenkung gedacht werden, in der Helmut Kohl in den letzten Jahren verschwunden ist.)
Neu war mir die Bedeutung von hinfällig als ‘gebrechlich’ (wörtlich: ‘verfallen, hinfallen’). Jetzt mal ehrlich? Hände hoch, wer Helmut Kohl unvermittelt mit ausgezehrtem, kraftlosem oder fragilem Fallobst assoziiert. Also ich habe damit ehrlich gesagt grobe Schwierigkeiten.
Nun mögen mir etymologisch besser geschulte Menschen zur Hilfe springen. Ein Blick ins historische Wörterbuch verrät, dass hinfällig früher besonders im wörtlichen Sinn von ‘hinfallen’ und der daraus abgeleiteten Bedeutung ‘dem Untergang nahe, vergehen’ verwendet wurde. Irgendwo dazwischen muss die Entwicklung zu einer abstrakten Verwendung für ‘gegenstandslos, ungültig, irrelevant’ entstanden sein, der ursprüngliche Sinn blieb offenbar erhalten. Ich hatte ungeprüft zunächst vermutet, da mir seine Etymologie nicht bewusst war, dass es sich hierbei um einem Bedeutungswandel vom abstrakten zum wörtlichen Sinn handelt (linguistisch gesehen ist solch ein Prozess eher ungewöhnlich). Anscheinend ist es umgekehrt (ergo “logischer”). Aber ich behaupte, dass hinfällig heute vornehmlich in seiner erweiterten Bedeutung verwendet wird. Sollte dies nicht so sein, lasse ich mich belehren und fühle mich hinfällig ergeben.
Nun ist es so, dass mir auf die Schnelle kein geeignetes, ähnlich prägnantes Synonym einfällt, was Herr Riemer hier zweideutungsfrei hätte verwenden können (ich hätte es vermutlich schlicht mit ‘gebrechlich’ versucht). Ich bin mir aber sicher, dass sich ein Journalist da besser anstrengen darf: immerhin schafft es der wortgewaltige Riemer über Kohl zu sagen, dieser habe den “Mantel der Geschichte an seinem dicksten Ende erwischt”. (Tja, nun mag der pedantische Kohärenztheoretiker auch fragen, welches Ende welches Mantels genau dicker sein soll, als welches anderes, aber gut, Details.)
Im direkten kontextuellen Zusammenhang mit ‘Präsenz’, ‘Teilhabe’ und ‘dickes Ende’ gepaart mit der gegenwärtigen politischen Bedeutungslosigkeit des Altkanzlers und der Helmut Kohl seit Jahrzehnten umgebenen satirischen Dunstglocke ist die Wortwahl ‘hinfällig’ irgendwie merkwürdig, zumindest aber unglücklich. Und der Verdacht liegt nahe, dass Riemer kein gewollter Wortwitz gelang.
In diesem Sinne, Herzlichen Glückwunsch, Herr Dr. Kohl!
Hm… Also ich verwende — als nicht-Sprachwissenschaftlerin und Fränkin — den Begriff auch hauptsächlich in der Bedeutung “gebrechlich”, wobei es schon einen etwas anderen Sinn hat:
“gebrechlich” ist ein alter Mensch, der am Ende seines Lebens steht (oder zumindest kurz davor), er muss aber nicht krank sein.
“hinfällig” kann durchaus auch ein junger Mensch sein — dieser vom Verfall gezeichnete Mensch ist krank, und dadurch kraftlos.
Wie gesagt, mir war die Wortbedeutung völlig neu — und aus der Sicht der Etymologie ist es grundsätzlich logischer, wenn “wörtliche” Bedeutungen zu “übertragenen” werden. In der Grammatik nennt man diesen Prozess ‘Desemantisierung’: In ‘ich habe das Haus gebaut’ hat ‘haben’ nicht mehr die Bedeutung von besitzanzeigend. Oftmals verschwinden die wörtlichen Bedeutungen völlig, oder sind nur noch schwer zu erahnen, z.B. ist in “merkwürdig” heute nicht mehr die Bedeutung enthalten, die es noch zu Goethes Zeiten hatte: etwas, das es wert war, dass man es sich merkt.
Ach ja — siehste, Tom’s Link hat gewirkt… 😉
Als Elektrotechnikerin und Informatikerin kann ich mit Deinen Themen nicht mithalten, auch wenn sie durchaus spannend finde.
Das mit “merkwürdig” ist schön, dass Du es erwähnst — darüber haben wir schon mal philosophiert, ob dieses Wort tatsächlich einmal diese Bedeutung hatte — wie auch andere Worte ihren Sinn im Laufe der Zeit verändert haben.
Interessant finde ich auch die regionalen Unterschiede bei der Bedeutung von Begriffen — und natürlich auch, wie manche Sprachgrenzen verlaufen. Davon hat mir mal ein ehemaliger Kollege eine Menge erzählt, da er im Rahmen seiner Promotion gerade an einem Sprachatlas mitarbeitete.
Viel Erfolg für dein restliches Studium!
Danke, schön 🙂
Ist “mithalten” so gemeint, dass die Thematik für dich unverständlich ist, oder dass du nicht ähnlich spannendes zu schreiben hast? Ich sage immer: “Man muss sich das Leben manchmal auch spannend reden!” — Und ich verstehe mein Blog auch als kleinen Mix zwischen alltäglichem Unikram, Gedanken dazu — und manchmal eben auch sprachliche Phänomene, die mir so auffallen. Dabei unterhalte ich kein Wissenschaftsblog, und ich habe auch einige Leser, die mit fachlicher Linguistik nichts am Hut haben, aber die Art hier locker und unterhaltsam finden.
Regionale Unterschiede sind übrigens unglaublich spannend — auf allen Ebenen. Wenn du hier dabei bleibst: eins meiner Lieblingsthemen sind auch Sprachwandel, die Unterschiede zwischen Dialekten und Standardsprachen, sowie besonders zwischen den südlichen (wo ich herkomme) und den nördlichen (wo ich wohne) Vokabeln.
“Mithalten” heißt für mich in diesem Zusammenhang, dass ich viele Informationen neugierig “aufsauge”, bei Diskussionen sehr interessiert zuhöre und nachfrage, selbst aber nur wenig aktiv beitragen kann.
Ich denke schon, dass ich auch interessantes berichten kann — aber halt aus ganz anderen Bereichen.
Seit zwei Monaten bin ich selbst nach einigen Berufsjahren in der Wirtschaft an einer Uni (Promotionsstelle), wundere mich manchmal über die Bürokratie, lerne jeden Tag viel über Themen, von denen ich vor einem Jahr gar nicht wusste, dass es sie gibt — und fühle mich ansonsten pudelwohl an meinem Lehrstuhl.
Da ich aber — wie noch einige wenige Kollegen — keine “Hardcore-Informatikerin” bin, aber an einem solchen Lehrstuhl arbeite, bin ich mir bei Sitzungen auch nicht immer sicher, von was die Jungs (ja, es sind nur Männer… 😉 ) da reden — Fachchinesisch für mich…
Tja, und wir Süddeutschen (Minderheit) sprechen für unsere Nordlichter hier am Ínstitut sowieso nur unverständliches Kauderwelsch… Selbst unsere Uhrzeitangaben verstehen sie nicht. Was verflixt nochmal ist so schwer daran, um 18:45 da zu sein, wenn man “auf dreiviertelsieben abends” irgendwohin bestellt wird? Und was ist an der ausschließlichen Verwendung des Perfekts so verwerflich? *fg*
Und in jedem Fall bin ich neugierig, über alle möglichen Themen zu hören und zu lesen, so dass Du mich in Zukunft einigermaßen regelmäßig als Leserin haben wirst — vor allem, da mir auch Dein Schreibstil gefällt… 🙂
Viel Erfolg…
Also hier muss sich niemand verstecken — die Diskussionen sind bisher ja auch eher rar gesät. Aber jede Meinung ist willkommen und niemand muss sich dieser schämen. Hier und auch im wirklichen Leben begegne ich natürlich auch immer wieder gewissen “Vorurteilen” oder “Legenden” über Sprache, aber dafür muss sich niemand “schämen”. Im Gegenteil — wenn ich es schaffe, dass Menschen sich differenzierter mit gewissen Themen auseinandersetzen, anstatt einfach “nur ne Meinung” zu Sprache zu haben, habe ich ein Ziel ja auch erreicht.
Uni und Bürokratie — das ist ne Ehe!
Scheint übrigens nicht nur an Informatik zu liegen — auch an unserem Institut (Linguistik) sind fast nur Jungs auf Doktorandenstellen. Okay, bei den Literaturwissenschaftlern ist es eher umgekehrt. Das verwundert schon ein wenig, weil im Studiengang Anglistik ja geschätzt 90% Frauen studieren, die sich entweder eine Promotion nicht zutrauen oder es ihnen schwerer gemacht wird, auf solche Stellen zu kommen. Letzteres sagt natürlich niemand gerne laut und irgendwie glaube ich nicht dran, aber es gibt nicht wenige, die selbst heute da noch Sexismus vermuten.
Nicht verzagen — das mit dem Fachchinesisch legt sich auch. Oftmals isses ja auch ein wenig Säbelrasseln.
DAS hab ich NIE verstanden, was an “dreiviertel Acht” nicht verständlich ist. Bei neun Monaten sage ich ein Dreivierteljahr, bei 15 Minuten eine Viertelstunde und bei 45 eine Dreiviertelstunde. Wenn es halb acht ist, ist die Zeit quasi auf halbem Weg zur Acht, wenn es dreiviertel Acht ist, ist die Zeit auf dem Dreiviertelweg zur vollen Stunde. Das ist so einfach und noch dazu so unglaublich logisch. 😀
Endlich! *vorFreudeinSuzArmefallend* Endlich versteht Jemand meine Uhrzeitangabe… Liegt wohl an Deiner süddeutschen Abstammung… 😉
Übrigens schäme ich mich nicht, dass ich in Richtung Linguistik kaum Ahnung habe — die Zeit der Universalgenies ist spätestens seit Dr. Faust vorbei 😉
Das mit dem Fachchinesisch wird sich nur teilweise legen — die Forschungsprojekte einiger der Jungs liegen so weit von meinem Wissen und auch Forschungsgebiet weg, dass ich mich mit deren Spezialgebieten nie so genau beschäftigen werde… Aber das “richtige” Säbelrasseln — von mir oft auch liebevoll “Klugscheißen für Anfänger” genannt — kann ich notfalls auf meinen Fachgebieten auch, da stehe ich meist drüber.
Die niedrigen Frauenquoten bei den Doktoranden sind, glaub ich — außer bei den Pädagogen — fast überall zu finden. Zumindest an unserem Department (und ganz besonders bei meinem Chef) gibt es zwar wenig Benachteiligung von Frauen — nur habe ich immer das Gefühl, dass gerade die niedrige Frauenquote die Frauen abschreckt — allein unter Männern… 🙁
Ich kenne sogar Mädchen, die trotz hohem Interesse, guten Mathe- und Physiknoten und einer Ausbildungsstelle als Mechatronikerin diese abgesagt haben und doch — Friseurin wurden. Weil ja alle Freundinnen das wurden und bei Mechatronikern ja nur Jungs in der Berufsschule seien… :-/
Und da helfen auch noch so viele Girls’ Days nichts…
🙂
Ich weiß ja ehrlich gesagt nicht, was an UNSERER Uhrzeitangabe missverständlich sein soll. Ich verwende sie in Hamburg nicht, weil es bestensfalls Fragezeichen und schlimmstenfalls Beschwichtigungen hervorruft. Aber ich hab ein Ohr für die Feinheiten und habe mir in der Zeit “hier oben” auch den Wie-Komparativ (Ich bin größer wie du) ab- und das Präteritum angewöhnt. Angeblich habe ich sogar mittlerweile Züge einer norddeutschen Dialektfärbung, zumindest hört man mir das Alemannische nur noch an, wenn ich gerade aus dem Flugzeug aus Basel geplumpst bin. Und immerhin habe ich den größten Soziolinguisten und Dialektologen, einen Engländer, schon in die Irre geführt, dass er glaubte, ich sei Australierin. Man tut sein Bestes! 😀
Naja, immerhin glaubt ein ziemlich großer Teil der Bevölkerung, eine Meinung zur Sprache zu haben. Das ist auch in Ordnung, nur führt das leider oft dazu, dass man festgefahrene Meinungen hat und sich Sprachwissenschaftler den Mund fusselig reden können. Bestes Beispiel: Sprachkritik und Bastian Sick. Da kannst du lange an die Leute hinsabbeln, dass sie Äpfel mit Birnen vergleichen (äh, bestenfalls). Die Linguistik ist auch nicht dazu da, die “Sprache zu retten” oder Leuten zu sagen, wie sie zu sprechen haben. Das wäre, als würdest du einem Physiker sagen, wie der Apfel vom Baum zu fallen hat.
Ich glaube auch, dass sich viele Frauen/Mädels auch einiges nicht zutrauen. Dass natürlich der Frauenanteil in den “Laberfächern” (Pädagogik, Soziologie, Literatur- und Medienwissenschaften) besonders hoch ist, ist die eine Sache — aber ich finds ganz schön krass, dass ich in meinem Studium kaum mit Kerls zu tun hatte — aber die mittlerweile auf den Doktorandenstellen sitzen. Ob’s nun Diskriminierung ist oder dass Frauen glauben, eine Weiterbildung “nicht zu brauchen” oder können, sei mal dahin gestellt. Das fängt vermutlich schon im Elternhaus und im Kindergarten an, Stichwort “geschlechterspezifische Erziehung”. Mädels werfen den Ball halt gegen die Wand, Jungs prügeln sich um ihn oder spielen damit kampfbetonten Fußball. Alle meine Nachhilfeschülerinnen in Mathe hatten so eine negative Grundhaltung (Papa: “Brauchst du eh nie”/“Kannst du eh nicht”), dass da das Kind schon längst in den Brunnen gefallen war.