Freigieb- oder ‑gebig?

Von Kristin Kopf

Das, worüber das ich heute schreiben will, habe ich in mein­er Schulzeit für eine reine Reclam-Eigen­heit gehal­ten. In den Reclamheften stand näm­lich immer freige­big, wo ich freigiebig erwartet hätte. Komis­ch­er Verlag.

Sei­ther ist mir freige­big aber auch in anderen Kon­tex­ten begeg­net, zulet­zt im Wartez­im­mer in Geo (in der Jan­u­a­raus­gabe war übri­gens auch ein Artikel über Piraha/Dan Everett drin):

Wis­senschaftler glauben, dass die Men­schen freige­biger werden. …

Was hat es damit auf sich? Habe ich mein ganzes Leben lang eine Form benutzt, die son­st kein­er kennt?

Die alten Herren waren freigebig

Erster Ver­such: Wörter­büch­er. Kluges ety­mol­o­gis­ches Wörter­buch ken­nt nur freige­big. Das Deutsche Wörter­buch der Grimms ken­nt eben­falls nur das e:

FREIGEBIG, munifi­cus, lib­er­alis. früher mit dem gen. der sache, wofür später praepositionen:
freige­big ihrer (so) reich­tum und bluts.
WECKHERLIN 850. freige­big in lob, in worten; mit lob, mit tadel; freige­big gegen alle. LESSING 1, 242. vgl. kostfrei.

Bei ein­er Voll­textsuche im DWB, wenn man also inner­halb der einzel­nen Ein­träge sucht und nicht nur nach Lem­ma­ta, find­et man das auch 94 Mal – aber immer­hin gibt es auch einen Fall mit ie:

er (Lionar­do) sel­ber, schön von antlitz, stark wie ein titan, freigiebig, mit zahlre­ichen dienern und pfer­den und phan­tastis­chem haus­rat umgeben H. GRIMM Michelan­ge­lo 1, 44

Die e-Form scheint also älter zu sein. Ein Blick in die Ver­gan­gen­heit mit dem HIST-Kor­pus von Cos­mas II bestätigt das ten­den­ziell: Von 1772 bis 1860 sind 39 e-Tre­f­fer vorhan­den, aber nur ein einziger ie-Tre­f­fer. Ähn­lich auch im DWDS-Kor­pus, wo es von 1900 bis 1955 110 e-Tre­f­fer und 11 ie-Tre­f­fer gibt, also grade mal ein Zehntel.

Dr. Bopp kennt sich aus

Das bestätigt auch Dr. Bopp, der einen sehr erhel­len­den Blog­beitrag zum The­ma hat (Ein­fär­bun­gen von mir):

Das Wort freigiebig und das von ihm abgeleit­ete Freigiebigkeit gal­ten und gel­ten bei eini­gen immer noch als falsch, weil es auss­chließlich freige­big heißen dürfe. Wie ist das Wort freigiebig ent­standen? Es wurde in Analo­gie mit aus­giebig und ergiebig gebildet.

Analo­gie bedeutet, dass sich ein Wort andere, ähn­liche Wörter zum Vor­bild nimmt und sich entsprechend verän­dert – dahin­ter ste­ht also kein Lautgesetz.

Von geben zu giebig

Wie kam aber das ie über­haupt in diese Wörter? Warum darf freige­big erst­mal nicht mitspielen?

  • aus­geben – ausgiebig
  • ergeben – ergiebig
  • frei geben – freigebig

Laut Kluge gibt es freige­big erst seit dem 16. Jahrhun­dert. aus­giebig und ergiebig datiert er lei­der nicht.

In Lex­ers mit­tel­hochdeutschem Wörter­buch find­et sich

gibec adj. münz die gibig und gæbig ist UHK. 2,232 (a. 1359). drei schilling, di gibich und gæbich sind UH. 393 (a. 1338).

aus­giebig und ergiebig besitzen auch hier keine eige­nen Ein­träge und ich habe auch keine Vorkom­men bei Titus o.ä. gefunden.

Aber dafür kann ich euch wenig­stens erk­lären, woher das i in gibig kommt. Das war näm­lich die west­ger­man­is­che Hebung: e wurde zu i, wenn in der Silbe danach i, j oder u stand. Wie’s bei -ig ja der Fall ist. Das Wort wurde also aus geben gebildet, man nahm den Stamm, geb, und ver­sah ihn mit einem Suf­fix, -ig, woraufhin man ein nagel­neues Adjek­tiv besaß.

Fragen über Fragen

Nun ist es ja so, dass freige­big erst von geben abgeleit­et wurde, als das West­ger­man­is­che schon lange rum war, die Regel war also nicht mehr aktiv. Bastelte man deshalb ganz nor­mal ein neues geb+ig? Was war mit dem mhd. gibig, das Lex­er auf­führt? Ausgestorben?

Und vor allem: Warum hielt man sich nicht an die exis­teren­den ie-For­men und bildete die Analo­gie sofort? Gab es aus­giebig und ergiebig wirk­lich schon vorher, oder sind das auch Analo­gien zu irgen­dein­er anderen Form? (Bei Wikipedia find­et man ganz schön viele aus­ge­bigs und erge­bigs. Ich schätze aber, dass das eher mod­erne Aus­gle­ichs­for­men sind.)

Ich schau mal, ob ich da noch irgend­was rauskriegen kann.

Heute: -giebig macht -gebig platt

Jet­zt aber zu ein­er Frage, die sich leichter beant­worten lässt: Wie sieht es heute mit dem tat­säch­lichen Gebrauch aus?

Ich habe mal eine Suche mit Cos­mas II gemacht, die für die ie-Vari­ante ca. 1/3 mehr Tre­f­fer zutage gefördert hat als für die e-Vari­ante: 785 vs. 505. Für die Jahre 1990 bis 2008 habe ich das hier mal grafisch umge­set­zt – For­men wie Freig*bigkeit wur­den natür­lich auch berücksichtigt:

Der mehr oder weniger par­al­lele Ver­lauf der bei­den Lin­ien erscheint mir erstaunlich.

Ich habe mir mal die einzel­nen Belege für das Jahr 2005 angeschaut – es kön­nte ja sein, dass es sich bei bei­den Schreib­weisen um diesel­ben Texte han­delt und nur bei ein­er Zeitung “kor­rigiert” wurde. Fehlanzeige. Der einzige Tre­f­fer, der mit zwei Schreib­weisen in bei­den Such­abfra­gen vorkam, war aus der Wikipedia.

Es sieht also so aus, als schwanke der Bedarf am Wort freig*big für bei­de Vari­anten gemein­sam: In einem Jahr, in dem die einen es viel brauchen, brauchen es auch die anderen. Mysteriös.

Nachtrag – Rätsel gelöst

Aus nicht mehr nachvol­lziehbaren Grün­den bin ich ursprünglich davon aus­ge­gan­gen, dass die Zahl der Tex­twörter für alle Jahre iden­tisch sei, was aber nicht so ist. Die Schwankun­gen spiegeln also nur die Schwankung der Textmenge wieder. Tausend Dank an Jan für den Hin­weis in den Kom­mentaren! Ich habe also mal Prozente aus­gerech­net, dann ergibt sich fol­gen­des Bild:

Die e-Vari­ante schwankt zwis­chen ca. 57 und ca. 20%, im Durch­schnitt macht sie 36,07% aus (wenn man die Jahre 1990 und 1991 raus­rech­net, bei denen weniger als 20 Belege vor­liegen, sind es 35,24%). Der Anteil der e-Vari­anten macht also unge­fähr ein Drit­tel aller For­men von freig*big* aus.

Zur Nachvol­lziehbarkeit noch die absoluten Zahlen:

Jahr e ie gesamt
1990 3 3 6
1991 4 7 11
1992 11 21 32
1993 5 17 22
1994 11 19 30
1995 10 24 34
1996 52 39 91
1997 45 61 106
1998 48 71 119
1999 46 95 141
2000 33 37 70
2001 18 38 56
2002 19 35 54
2003 20 30 50
2004 18 43 61
2005 46 74 120
2006 16 44 60
2007 13 51 64
2008 33 64 97

4 Gedanken zu „Freigieb- oder ‑gebig?

  1. rolandschwarzer

    Hm, hast Du mal geprüft, ob die Zeiträume gerin­ger­er Nutzung der “Freigiebig-Vari­anten” mit ein­er höheren Nutzung entsprechen­der Syn­onyme kor­re­lieren? Also ob zum Beispiel 2004 häu­figer die Worte “großzügig” oder ““gen­erös” ver­wen­det wurden?

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    1. Kristin Beitragsautor

      Hm, gute Idee — ich habe mal geschaut, aber großzügig ist viel zu fre­quent, sodass man die bei­den nicht als gegen­seit­ig ergänzend anse­hen kann. (Während für freig*big in einem Jahr max­i­mal 150 Beispiele auftreten, hat großzügig Werte im Bere­ich um 20.000 herum.)

      Die Schwankun­gen selb­st sind ja auch nicht so ver­wun­der­lich, ist halt Zufall, bei so kleinen Zahlen erstaunt es mich wenig. Was ich halt komisch finde, ist, dass die Werte gemein­sam zu schwanken scheinen.

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  2. Jan

    Lei­der gib­st du keine Maßein­heit an: Ist das ein absoluter oder rel­a­tiv­er Wert? Anson­sten kön­nte sich der Par­al­lelver­lauf aus der Anzahl der Texte in der Daten­bank erk­lären, die aus einem gegebe­nen Jahr stam­men. Wenn z.B. 2005 ins­ge­samt mehr Texte über­nom­men wur­den, steigt natür­lich auch der Anteil der bei­den Vari­anten in gle­ichem Maße. (Ist aber reine Speku­la­tion, vielle­icht durch­schaue ich da auch was nicht)

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    1. Kristin Beitragsautor

      Du hast natür­lich recht — es sind absolute Werte und die Zahl der Tex­twörter ist nicht für alle Jahre iden­tisch (davon war ich irgend­wie aus­ge­gan­gen, frag mich nicht warum). Ich habe den Spaß jet­zt mal in Prozente umgerech­net, was aber auch ein bißchen zweifel­haft ist, weil für einige Jahre nur sehr wenige Werte vor­liegen (bes. 1990 und 1991). Da zeigt sich dann, dass die e-Vari­ante zwis­chen 57 und 20% schwankt, mit einem Durch­schnittsan­teil von 36%.
      Ich werde das oben gle­ich mal einbasteln.
      Wald, Bäume …
      Vie­len Dank für den Hinweis!

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