Dass Anatol Stefanowitsch im Schplock Blogfutter gefunden hat, ehrt mich enorm. Wie schön, dass sein Beitrag wiederum Anlass für einen Schplock-Beitrag gibt.
Der Beitrag im Sprachlog heißt “Die Deutsche Bahn, Bewahrerin der englischen Sprache” – und darin verbirgt sich ein witziges Phänomen, zu dem ich in meinen HiWi-Zeiten mal umfangreiche Korpusrecherchen angestellt habe. (Die hier verwendeten Beispiele entstammen nicht den damaligen Recherchen.)
Es geht um die Bewahrerin.
Rechtsnachfolgerin oder Rechtsnachfolger?
Ein paar weitere Beispiel desselben Typs (alle aus dem DWDS-Kernkorpus, genaue Quellen am Ende):
(1) Dennoch blieb das große Vertragswerk für den Transrapid zwischen dem bereitwilligen Verkehrsminister Wissmann, der Bahn als Betreiberin und dem Hersteller-Konsortium bis heute ohne Unterschrift.
(2) Die Deutsche Bahn AG legt keinen gesteigerten Wert darauf, als Rechtsnachfolgerin zur Kasse gebeten zu werden.
(3) Am 18.12.1991 trat die ‘Treuhandanstalt’ ihren Anteil an der DV an die ‘Allianz AG’ ab, so daß diese nun alleinige Eigentümerin dieser Versicherungsgesellschaft ist.
Demgegenüber finden sich aber auch Fälle wie diese:
(4) In zunehmendem Maße tritt die Akademie als Auftraggeber gegenüber den UuH. auf.
(5) Die Bundesrepublik betrachtet sich offiziell nicht nur als Rechtsnachfolger — des mittlerweile nicht mehr bestehenden Deutschen Reiches, sondern sie behauptet, mit diesem Staat, der früher Deutsches Reich hieß, identisch — zu sein.
Wahrscheinlich werden einige von Euch bei den Beispielen 1–3 aufschreien, einige werden 4 und 5 irgendwie komisch finden und einige werden beides akzeptieren.
Aber was passiert hier eigentlich genau?
Von der Movierung zur Kongruenz
-in ist ein sogenanntes “Movierungssuffix”, eine Endung, mit der man eine weibliche Personenbezeichnung ableiten kann. Also Angler → Anglerin oder Koch → Köchin. Es hat auch eine ganz spannende Formengeschichte, über die ich vielleicht ein andermal was schreibe.
Genus und Sexus – grammatisches vs. natürliches Geschlecht
Zunächst einmal ist eine Unterscheidung ganz wichtig: Die von Genus und Sexus. “Genus” ist eine grammatische Kategorie, die im Deutschen drei Ausprägungen hat: Maskulin, Feminin und Neutrum. Jedes Substantiv hat ein grammatisches Geschlecht – man sieht es aber i.d.R. nicht am Wort selbst, sondern anderswo:
(6) Die gute Milch ist sauer geworden. Sie stand zu lange draußen.
(7) Ein neuer Kühlschrank muss her, der alte schließt nicht mehr richtig.
Das Genus ist weitgehend willkürlich, es gibt keinen Grund, warum Milch feminin und Kühlschrank maskulin ist.
“Sexus” bezieht sich hingegen auf das tatsächliche Geschlecht. Es können also nur Menschen, Tiere und manche Pflanzen ein Sexus haben, Götter, Fabelwesen etc. natürlich eingeschlossen. Da gibt es zwei Unterscheidungen, nämlich männlich und weiblich.
Nun ist es so, dass sich Genus und Sexus im Deutschen gelegentlich überlagern – männliche Lebewesen besitzen meist das maskuline Genus, weibliche Lebewesen das feminine. Das ist aber eine sekundäre Entwicklung, nicht der eigentliche “Grund” für indogermanische Genussysteme.
Was ist jetzt mit dem -in?
Das -in ist, wie gesagt, ein Movierungssuffix. Es dient dazu, neue Wörter abzuleiten, so wie -heit oder -ung oder -lich. Die Wörter, die es da ableitet, sind Bezeichnungen für weibliche Lebewesen. Das -in markiert also Sexus.
Die Basen, an die es tritt, sind i.d.R. männliche Personenbezeichnungen, die allermeisten davon auf -er wie Verkäufer+in.
Das -in besitzt feminines Genus, nichts Aufregendes, denn wie oben schon gesagt, gehören die meisten Bezeichnungen für weibliche Lebewesen grammatisch zu den Feminina. Soweit, so unumstritten.
Was jetzt aber zunehmend passiert, ist, dass -in auch an Substantive gehängt wird, die gar nicht zur Bezeichnung weiblicher Lebewesen dienen, wie in den Beispielen 1–3.
Die Bahn ist ja keine weibliche Person. Sie hat ganz zufällig das grammatische Geschlecht Femininum, aber das war’s auch schon. Was macht also das -in da?
Es scheint die Zusammengehörigkeit von Bahn und Bewahrer zu markieren und somit das grammatische Geschlecht von Bahn, also das Genus. Das Movierungssuffix scheint also zusätzlich zu seiner Wortbildungsfunktion auch eine grammatische Funktion anzunehmen, nämlich die der Kongruenz.
Früher konnten nur Frauen Bewahrerinnen sein, heute können es auch die DB oder sonstige Gruppierungen, die zufällig feminines Genus besitzen.
Das -in geht in dieser neueren Verwendung aber weiterhin nur bei Substantiven, die moviert werden können, also männlichen Personenbezeichnungen, und auch da ist es noch lange nicht obligatorisch.
Die -innen, Personifikationen des Weiblichen?
Feminina wie die Bahn, die Stadt, die Gesellschaft, die Regierung, … tauchen sehr oft mit dem -in auf, aber je gegenständlicher es wird, desto problematischer. Was sagt Ihr zu:
(8) Als Lieferantin von Nutzholz wird die Buche, […], in der Möbelindustrie ebenso geschätzt wie bei den Eisfabrikanten, die ihr Holz gern als Stiel verwenden […]
Für mich geht’s schon noch, aber die Buche wird dabei sehr stark personifiziert. Wie das übrigens in dem Artikel auch sonst passiert:
Sie ist rank und schlank, silbriggrau glänzt ihr Leib. Ihr ragender Wuchs und ihre glatte Haut, fast gänzlich ohne Poren und Furchen, scheinen die Buche seit Urzeiten auszuweisen als saftdurchströmtes Symbol für Kraft und Gesundheit.
Renata Szczepaniak, für die ich damals die erwähnte Korpusrecherche gemacht habe, hat vorgeschlagen1, dass sich das -in an der Belebtheitshierarchie entlanghangelt, also zunächst nur möglich war bei Substantiven mit Bezug auf weibliche Personen (wie die Witwe) und personifiziert Weibliches (wie die Sonne), dann aber zunehmen auch bei Kollektivbezeichnungen mit femininem Genus (wie Stadt, Gesellschaft als Gesamtheit handelnder Menschen) und schließlich auch bei menschengemachten Produkte mit femininem Genus (wie Verfassung, Berliner Mauer).
Aber zurück zur Bahn …
Ich habe, wahrscheinlich auch wegen Renata Szczepaniaks Vortragstitel, die Bahn immer als eine Vorreiterin dieser Geschichte gesehen. Aber wie ist das im Selbstbild der Bahn?
Ich habe ein bißchen gegoolet, und zwar mit der Anfrage “Die Bahn als” site:http://www.bahn.de. und “Die Bahn ist” site:http://www.bahn.de, sowie beides mit DB statt Bahn. Die Bahn sieht sich selbst als …
… Partner, Ort, …mittel, Büro, Alternative, Verkehrsträger, Unternehmen, System, Beförderer.
Drei Wörter könnten prinzipiell moviert werden, aber es findet sich keine einzige in-Form. Hmpf!
Auch generelles Googlen nach “Bahn als/ist Partner” vs. “Bahn als/ist Partnerin” führt zu ernüchternden Ergebnissen: 91 zu 1.
Die Bahn kommt also langsamer als gedacht.
Quellen:
(1) Heinz Blüthmann, Wieder am Boden, in: DIE ZEIT 22.10.1998, S. 25.
(2) Klaus-Peter Schmid, Ende eines Tabus, in: DIE ZEIT 10.12.1998, S. 27.
(3) Herbst, Andreas / Ranke, Winfried / Winkler, Jürgen, So funktionierte die DDR — Band 1 u. 2, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1994, S. 9729.
(4) Zimmermann, Hartmut (Hg.), DDR-Handbuch, Köln: Verlag Wissenschaft u. Politik 1985, S. 6570.
(5) Enzensberger, Hans Magnus / Euchner, Walter / Schäfer, Gert / Senghaas, Dieter, Katechismus zur deutschen Frage, in: Kursbuch 4 (1966) S. 1–54.
(8) Der Spiegel,19.10.1992
Fußnote:
1 In zwei Vorträgen: a) “The Animacy Scale as a Metonymic Chain in Grammaticalization. From the Sex-denoting -in (Lehrer+in ‘female teacher’) Towards a Gender Suffix in German”, New reflections on grammaticalization 4, Leuven 2008; b) “Diskurswandel und Femininmovierung im Deutschen. Die Bahn als Betreiberin des Schienennetzes”, 38. Linguistischer Kongress Societas Linguistica Europaea, Valencia 2005.
Sehr interessant! Mir war das auch schon öfter aufgefallen, hatte aber nie darüber nachgedacht, dass es sprachwissenschaftlich so viel dazu zu sagen gibt. Auch interessant wäre eine diachrone Untersuchung: Hat das Aufkommen des Gendering das ‑in bei nichtbelebten Entitäten befördert? Ich kannte mal eine Person, die sowohl bei Personen als auch, wo möglich, bei nichtbelebten Entitäten immer sehr auf das ‑in achtete.
Schöner Beitrag. Die Deutsche Bahn als Partner klingt für mich in Ordnung, aber ich wäre nie darauf gekommen, die Deutsche Bahn als Bewahrer der deutschen Sprache zu bezeichnen. Vielleicht spielen bei Sätzen/Phrasen der Form [X als/ist Y(-in)] nicht nur die Konkretheit/Abstraktheit von X eine Rolle, sondern auch die semantischen Eigenschaften von Y.
In juristischen Texten scheint das schon sehr lange so zu sein. Seit ich jedenfalls damit zu tun habe (ca. 20 Jahre) steht in Klageschriften immer konsequent “die Beklagte zu 1)”, wenn das die XY Versicherungs AG ist, oder “die Klägerin” z.B. für die Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht resultiert das aus dem juristischen Denken und einem bestimmten Verständnis von Logik. Möglicherweise sind also am ehesten die Juristen die Vorreiter dieses Sprachwandels.
Die Wahl der jeweiligen Form richtet sich in diesen Fällen tatsächlich nach dem grammatischen Geschlecht: Der Verein ist der Beklagte, aber die Firma, GmbH, AG usw. die Klägerin. Aber wie auch sonst im Deutschen? Das Beklagte gibt’s nicht, die männliche Form wäre qua sexus auch Quatsch, bliebe die Pluralisierung — aber nur linguistisch, denn in der juristischen Praxis ist die Beklagten” reserviert für im Rubrum angeführte beklagte Parteien zu 1. und zu 2. usw. Eine Alternative wäre evt. die Kollektivbezeichnung per Derivation mit ‑schaft, analog zu Mandantschaft: die Beklagtenschaft/die Klägerschaft.
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