Obwohl es sich die Leser/innen meines alten und auch neuen Blogs
manchmal anders wünschen, beschäftigt sich ein ansehnlicher Teil meiner
Beiträge mit den Sprachkritikern, die häufig den öffentlichen Diskurs
über Sprache dominieren. Zum einen wäre es aus meiner Sicht ein großer
Fehler, ihnen unwidersprochen das Feld zu überlassen, zum anderen
fasziniert mich die überhitzte irrationale Rhetorik, mit der sie bei
den nichtigsten Anlässen um sich werfen.
Ein Lehrstück sprachkritischer Redekunst und Logik bietet eine
Presseerklärung des Vereins Deutsche Sprache (VDS) vom 11. Januar 2010
mit dem leicht größenwahnsinnigen Titel „Sprachschützer greifen
Justizminister an“. Anlass für diese Presseerklärung sind aktuelle
Pläne der Justizminister von Nordrhein-Westfalen und Hamburg, die die
Voraussetzungen schaffen sollen, um internationale Wirtschaftsprozesse
vor deutschen Gerichten in Zukunft bei einem entsprechenden Wunsch der
Prozessparteien in englischer Sprache zu verhandeln. Auf diese Art
sollen, wie die FAZ schon am 8. Januar 2010 erläuterte, der
Justizstandort Deutschland gestärkt und die Interessen deutscher Firmen
besser gewahrt werden:
Gerade die interessantesten – und für Staatskasse wie
Anwälte lukrativsten – Prozesse, an denen deutsche Unternehmen als
Kläger oder Beklagte beteiligt sind, werden auf Wunsch ausländischer
Geschäftspartner meist vor angelsächsischen Gerichten oder vor privaten
Schiedsgerichten geführt. Dies hat zur Folge, dass oft schon in den
Verträgen eine andere Rechtsordnung vereinbart wird (und deshalb
nichtdeutsche Rechtsanwälte die Aufträge zur Beratung erhalten). Die
geringe Verbreitung der deutschen Sprache auf der Welt gilt als
wesentlicher Grund dafür. „Der Gerichtsstandort Deutschland leidet
darunter, dass das Gerichtsverfassungsgesetz Deutsch als
Gerichtssprache vorschreibt“, sagte Müller-Piepenkötter dieser Zeitung.
„Ausländische Vertragspartner und Prozessparteien schrecken davor
zurück, in einer fremden Sprache vor einem deutschen Gericht zu
verhandeln.“ [FAZ.net]
Derzeit sind deutsche Firmen also gezwungen, vor Gerichten in
Großbritannien oder den USA nach einer ihnen wenig vertrauten
Rechtsordnung und unter Hinzuziehen britischer oder amerikanischer
Anwälte zu verhandeln. Dem wollen die Justizminister entgegenwirken,
indem sie an einigen Gerichten sogenannte „Kammern für internationale
Handelssachen“ einrichten, an denen vor speziell dafür ausgebildeten
Richtern ganze Prozesse mit allen schriftlichen Eingaben und mündlichen
Einlassungen in englischer Sprache, aber eben nach deutschem Recht
verhandelt werden können.
Hinter dem Plan steht also nicht nur die konsequente Wahrung nationaler
Interessen, sondern auch die Einsicht, dass es bei Verhandlungen in
deutscher Sprache über Verträge in englischer Sprache leicht zu
Missverständnissen kommen kann. FAZ.net zitiert die stellvertretende
Vorsitzende des Deutschen Richterbunds, Brigitte Kamphausen, mit den
Worten: „In meinen sieben Jahren als Vorsitzende einer solchen Kammer
habe ich oft erlebt, wie durch die Übersetzungen ins Deutsche viele
Nuancen und Details verlorengehen.“ Dieses Verlorengehen von Nuancen
bei der Übersetzung von einer Sprache in die andere haben wir ja vor
ein paar Tagen hier im Sprachlog schon in einem anderen Zusammenhang diskutiert — es scheint mir, die Sprachkritiker müssten sich freuen, dass man das vermeiden will.
Aber nein. Weder die sprachliche Klarheit noch die Durchsetzung der
Interessen der deutschen Wirtschaft können die Sprachkritiker
überzeugen:
Sprachschützer reagieren entsetzt auf Pläne, Deutsch als
verbindliche Gerichtssprache in Deutschland abzuschaffen. Nach einer am
Wochenende bekannt gewordenen Initiative der Justizminister von
Nordrhein-Westfalen und Hamburg soll das Gerichtsverfassungsgesetz
dahingehend geändert werden, dass künftig in Deutschland Zivilprozesse
auch auf Englisch verhandelt werden sollen. Wirtschaftsanwälte erhoffen
sich dadurch bessere Geschäfte. [Presseerklärung des VDS]
Hier wird zunächst in einem Nebensatz das legitime Interesse der
deutschen Justiz und der deutschen Wirtschaft, deutsches Recht stärker
in internationale Handelsbeziehungen durchzusetzen, zur
Geschäftemacherei von Wirtschaftsanwälten umgedeutet. Damit ist die
Bühne frei für die markigen Sprüche, die der große Vorsitzende der
Sprachnörgler stets gerne von sich gibt:
„Das ist ein Herausschleichen aus der öffentlichen
Verantwortung der Justiz und ein Schlag in das Gesicht all derer, die
für die sprachliche Eingliederung von Zuwanderern kämpfen,“
kommentierte der Vorsitzende des Vereins Deutsche Sprache e.V. (VDS),
der Dortmunder Wirtschaftsprofessor Walter Krämer. „Den Judaslohn, den
einige Anwaltskanzleien und ihre ministeriellen Handlanger für diesen
Verrat an der deutschen Sprache einzustreichen hoffen, wird letztlich
der Steuerzahler zahlen“, warnte Krämer. Denn die Zulassung des
Englischen als Gerichtssprache verursache Folgekosten. [Presseerklärung
des VDS]
Die Gedankengänge hinter Kramers Presseerklärungen sind für
Uneingeweihte nicht immer leicht nachzuvollziehen, und so scheinen
diese Aussagen selbst an den Standards des VDS gemessen zunächst recht
undurchsichtig.
Die deutsche Justiz hat schließlich die Verantwortung, deutsches Recht
durchzusetzen. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass sie dieser
Verantwortung nicht gerecht werden kann, wenn Wirtschaftsprozesse ins
englischsprachige Ausland verlagert werden. Mit Maßnahmen, die dieses
Outsourcing der Rechtsprechung aufhalten, stellt sie sich ihrer
Verantwortung also in vorbildlicher Weise. Auch was Zivilprozesse
zwischen international tätigen Konzernen mit der Eingliederung von
Zuwanderern zu tun haben, bleibt zunächst ebenso Geheimnis des
Vorsitzenden wie die Frage, woher sein im wahrsten Sinne des Wortes
heiliger Zorn auf Anwälte kommt.
Aber erfahrene Beobachter wissen, dass Krämers Aussagen nur sinnvoll
interpretiert werden können, wenn man davon ausgeht, dass es die
oberste Pflicht aller Deutschen ist, Deutsch zu sprechen — immer und
überall und koste es, was es wolle. Das erklärt, warum er der Justiz
Verantwortungslosigkeit vorwirft: Sie müssen an erster Stelle die
deutsche Sprache schützen und erst an zweiter Stelle deutsches Recht
durchsetzen. Es erklärt, warum er den Anwälten Geldgier und den
Ministerien Handlangertum vorwirft — auch sie müssen sich seiner
Meinung nach vorrangig dem Kampf gegen die sprachlichen Realitäten
einer globalisierten Welt widmen und erst, wenn der gewonnen ist, auch
ihren eigentlichen Aufgaben nachgehen. Was Zuwanderer mit der ganzen
Angelegenheit zu tun haben, erschließt sich aus dieser Perspektive
allein aber noch nicht. Dazu muss man weiterlesen:
Der VDS sieht die neuesten Bestrebungen zur Anglisierung
des deutschen Rechtswesens als Teil einer Kampagne vermeintlicher
Eliten, die deutsche Sprache und Kultur zugunsten angelsächsischer
Lebensweisen aufzugeben. „Aber wie wollen wir dann von Zuwanderern
verlangen, Deutsch zu lernen,“ fragt Krämer, „wenn wir ihnen immer
wieder sagen, dass man in Deutschland nur mit Englisch weiterkommt?“
[Presseerklärung des VDS]
Nun ergibt alles ein stimmiges Bild, oder? Zuwanderer verbringen ja –
das ist allgemein bekannt — den größten Teil ihres Lebens damit,
Zivilprozesse gegen internationale Konzerne zu führen. Und wenn sie das
jetzt auch noch auf Englisch tun können, haben sie ja tatsächlich
überhaupt keine Veranlassung mehr, Deutsch zu lernen. Womöglich
verbünden sie sich dann gar mit den anglophilen „vermeintlichen
Eliten“, trinken in den Verhandlungspausen ihrer Wirtschaftsprozesse
Fünf-Uhr-Tee, spielen nach gewonnenem Prozess eine Runde Cricket und
fahren dann im Rolls-Royce auf der linken Straßenseite zur Fuchsjagd.
Und bezahlen muss das alles natürlich der deutsche Steuerzahler …
FAZ.net/JAHN, Joachim (2010), Deutsche Gerichte verhandeln nun auch auf Englisch. FAZ.net Wirtschaft, 8. Januar 2010. [Link].
VEREIN DEUTSCHE SPRACHE (2010), Sprachschützer greifen Justizminister an. Presseerklärung vom 11. Januar 2010. [Link].
[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Version enthält möglicherweise Korrekturen und Aktualisierungen. Auch die Kommentare wurden möglicherweise nicht vollständig übernommen.]
Provinzialität überwinden
Als Hamburger kenne ich die Probleme, Bedeutung in einer globalen Welt zu heucheln; diese Stadt sieht sich immer als Tor zur Welt, als Weltstadt — und scheitert an diesem Anspruch genau wegen dieses. Ähnliches sehe ich auch bei Literaturkritikern, aber dazu hat sich heute schon jemand woanders geäußert.
Walter Krämer, offenbar ein overactive underachiever, der seinen Lehrstuhl als nicht groß genug ansieht, versucht wieder einmal Deutschland und seine [= Krämers] Sprache international groß zu machen, indem er alles klein macht. Die guten Gründe für eine internationale Verkehrssprache gehen ihm ebenso ab wie einfachstes Leseverständnis und abstraktes Denken.
Erst wer die eigene Provinzialität [an]erkennt, kann auch zu weltmännischer Größe wachsen. Blöd nur, dass die provinziellsten Geister gar nicht dazu in der Lade sind — und die lautstärkste Minderheit darstellen. Glücklicherweise interessieren sich nur Sprachwissenschaftler und einige langweilige Plärrer für Krämers kruden Deutschnationalismus, dem so genannten einfachen Mann auf der Straße geht das am Hinterteil vorbei*.
*Ich verweise auf jene Anekdote über einen bekannten Theaterautoren, der einem Kritiker mitteilte, wo er die Kritik lesen werde — und wo sie danach landet. Falls der Mann auf der Straße die BILD so benutzen kann …
Ich finde die Idee richtig. Wenn in Deutschland künftig mehr englisch-sprachige RA wären, dann könnte sich die deutsche Justiz auch nicht länger so viele Rechtsbeugungen erlauben. Zur Zeit ist es wohl so, dass wirklich exakt 100% der deutsch-sprachigen Beschwerden gegen Deutschland abgelehnt werden, weil der deutsche Richter (die deutsche Richterin Frau Jaeger) sich als Anwalt für Deutschland versteht und jede Beschwerde als allein verantwortlicher Richter ablehnen kann – er legt die Beschwerde einfach zwei nicht deutsch-sprachigen Kollegen zur Unterzeichnung vor. Beschwerden in englisch gegen Deutschland, müsste der deutsche Richter satzungsgemäß zwei Kollegen zur Mitbeurteilung vorlegen, weil ja jeder Richter am EGMR englisch sprechen können muss.
http://leonie-wichmann.blogspot.com/…ei-das.html
http://www.schultefrohlinde.de/node/31
Frage
Ganz unabängig von der überzogenen Reaktion der Sprachschützer ist mir nicht klar, wie es in der Praxis funktionieren soll, dass Prozesse an deutschen Gerichten mit deutschen Richtern nach deutschem Recht, aber auf Englisch verhandelt werden.
Ist denn davon auszugehen, dass alle Prozessbeteiligten, allen voran der deutsche Richter, der englischen Sprache in ausreichendem Maße mächtig sind, um sämtliche Details der relevanten Dokumente ohne Missverständnisse zu verstehen?
Kann man bei deutschen Juristen denn eine solch weitgehende Beherrschung der englischen Sprache voraussetzen … ist unser Herr Außenminister demnach in seiner Branche wirklich eine Ausnahme?
Falls man aber nicht vom Vorhandensein ausreichender Englischkenntnisse ausgehen kann (und ich meine damit objektiv vorhandene Kenntnisse, nicht nur die entsprechende Selbsteinschätzung), dann sehe ich nicht, wie die angesprochenen Probleme, die man eigentlich ausschalten wollte, vermieden werden:
Entweder, man muss doch wieder alles übersetzen. Aber wo ist dann noch der Vorteil?
Oder aber, man riskiert ein Missverständnis. Allerdings kann ein infolge mangelnder sprachlicher Kompetenz missverstandener Text oder eine falsch formulierte Urteilsbegründung schwerwiegende Folgen haben.
Mir scheint, hier wird die Arbeit, die ansonsten Übersetzern obliegt, also Menschen, die in der Regel qualifiziert sind, stattdessen den anderen Prozessbeteiligten aufgebürdet, die dafür nicht unbedingt qualifiziert sind.
Ohne wiederum auf die Sprachschützer eingehen zu wollen, sehe ich hier das Potenzial eines ganz konkreten praktischen Hindernisses.
Englisch vor (nicht durch das) Gericht
Diesem Blog kann ich inhaltlich und formal nur zustimmen. Die Verbindung der Verhandlung internationaler Wirtschaftsprozesse hat nichts mit Zuwanderern zu tun. Und Kritikern (jeder Couleur) soll, darf und muss man widersprechen, weil jede Diskussion sonst einseitig bleibt.
Darum wird der Vorschlag aber nicht automatisch sinnvoll. Dazu kurz aus sprach-juristischer Sicht.
Schon die Ursachenfeststellung ist mindestens unvollkommen. Zwar gibt es das Sprachhindernis, gravierender scheint aber der kulturelle Aspekt — hier der der Juristenkultur. Ganz abgesehen von der abweichenden Methode hat die englische Gerichtsbarkeit ein anderes Selbstverständnis. Zunächst fühlt sich der englische Richter viel stärker an Vertragsklauseln gebunden, und entsprechend erscheinen aus dortiger Sicht die kontinentaleuropäischen Entscheidungen oft willkürlich, weil sie mehr den mit den Klauseln gemeinten Sinn suchend. Auch sind englische Entscheidungen anders und ausführlicher begründet. Verkürzt gesagt richten sie sich mehr an die Parteien, während insbesondere deutsche Richter sich an abstrakt denkende Juristen wenden. Für die Wahl eines bestimmten Gerichtsstandes gibt es aber noch weit mehr (juristische) Überlegungen.
Dazu kommt ein Problem im Bezug auf das Rechtssystem selbst. Recht ist stark an Kultur gebunden — deutsches Recht an deutsche Diskussionskultur und deutsche Sprache. Alle Diskussion und Fortbildung des Rechts erfolgt auf Deutsch, in deutschen Begrifflichkeiten. zur Fortbildung/Ausformung des Rechts gehören aber auch die Urteile — erscheint nun ein Teil zukünftig in Englisch, dann wird es eine andere Rechtskultur geben (müssen). Das erfordert aber zunächst einmal Begriffsbildung: deutsche Konzepte lassen sich kaum übersetzen. Anders ist dies in Ländern mit mehreren Nationalsprachen (Schweiz, Kanada). Dort ist das Übersetzungsproblem gemildert, denn alle Konzepte existieren in allen Sprachen, UND der kulturelle Hintergrund ist allen Juristen gemeinsam — auch wegen der einheitlichen Ausbildung.
Im Rahmen der Europäischen Union nähert sich die Juristenkultur langsam an — wegen des Sprachproblems aber meist nur auf Basis der englischen Begrifflichkeiten und Konzepte. Das mag man als unabdingbar ansehen, es führt aber gewiss zum Verlust von Sichtweisen und damit zu (potentieller) Einseitigkeit.
Jedenfalls im Bereich nationalen deutschen Rechts scheint daher ein anderer (Zwischen)Weg sinnvoll: Mit Zustimmung aller Parteien dürfen die Parteien Ihre Ansichten und Beweise auch in Englisch vortragen, das Urteil wird dann aber in Deutsch verfasst. Dadurch gehen die Nuancen der Parteivorträge nicht gleichermaßen verloren und doch bleibt die rechtliche Dogmatik einheitlich — im Zweifel kann das Gericht aber z.B. Vertragsklauseln auch englisch zitieren.
@Luchs: Der EGMR ist kein deutscher Gerichtshof und wäre daher von der Änderung deutscher Prozessregeln nicht betroffen.
“@Luchs: Der EGMR ist kein deutscher Gerichtshof und wäre daher von der Änderung deutscher Prozessregeln nicht betroffen.”
Dem stimme ich zu. Was ich gemeint habe ist folgendes:
Wenn es künftig in Deutschland zahlreiche englisch-sprachige Juristen geben sollte, denn können diese auch am EGMR, Straßburg, Beschwerden gegen Deutschland in der englischen Sprache formulieren und so verhindern, dass eine Beschwerde gegen Deutschland einzig durch den deutschen “Richter” beurteilt wird, der zur Zeit — und wohl auch künftig — seine Aufgabe darin sieht, Deutschland möglichst effektiv zu verteidigen.
Englisch-sprache Juristen in Deutschland würden schlicht der Gerechtigkeit zuträglich sein.
Michael Khan hat Recht…
Ich persönlich habe meine Zweifel, dass der Plan praktikabel ist.
Der Grund ist der, dass englischsprachige Urteile ja nur auf der Basis englischsprachiger Gesetzestexte verabschiedet werden kann. Und da es oft auf die genaue Formulierung ankommt, genügt nicht irgendeine Übersetzung, sondern es muss eine definitiv gerichtsfeste Version geben.
Mehr noch, da es sich bei solchen Texten um geltendes Recht handeln soll, muss m.E. jede Übersetzung ordentlich vom Bundestag verabschiedet werden.
@Khan & @Fischer — JEIN
Dass ein Urteil nur auf Gesetzestexten derselben Sprache aufbauen kann, trifft so absolut nicht zu. Ein bekanntes Beispiel ist das UN-Kaufrecht (CISG) — eine verbindliche deutsche Fassung existiert nicht, und doch sprechen deutschsprachige Gerichte deutschsprachige Urteile unter Anwendung des CISG. Man könnte also durchaus auf Basis deutscher Gesetze englische Urteile sprechen — aber im deutschen Stil (s.o.).
Treffend scheint mir aber die Bemerkung zur Sprachkompetenz der Richter und Anwälte. Genau Statistiken sind mir zwar nicht bekannt, doch scheint vor allem die aktive Sprachkompetenz problematisch — das von Lars Fischer angesprochene genaue Ausformulieren auf Englisch. Das Verstehen englischer Texte funktioniert wohl besser, insbesondere bei den Handelsrechtskammern, die im CISG schon jetzt auf englische Urteile zurückgreifen.
Daher auch oben mein Kompromissvorschlag: Plädieren auch auf Englisch — das beschleunigt selbst dann, wenn man in Zweifelsfällen auf einen Übersetzer zurückgreifen (oder rückfragen) muss. Urteilen dann aber auf Deutsch — so bleibt man in der deutschen Dogmatik.
Dass Walter Krämer sich von der englischen Sprache heimgesucht fühlt und der festen Überzeugung ist, dass ihr wirklicher Existenzgrund die Ausrottung der deutschen Sprache ist, ist ja nichts Neues.
Wieso er aber glaubt, dass Migranten in Deutschland lieber Englisch statt Deutsch lernen wollen, wenn man in Gerichten theoretisch auch englischsprachige Prozesse führen darf, ist mir — wie allen — ein Rätsel.
Im Übrigen kann ich aus persönlicher Erfahrung sagen, dass man mit Englisch in Deutschland überhaupt nicht weit kommt — nichtmal die Angestellten der Ausländerbehörde, die für die Ausstellung von Visa zuständig ist, sprechen Englisch. (Damit will ich nicht bewerten, ob das gut oder schlecht ist — es ist nur eine Beobachtungstatsache.)
Zum Thema Durchführbarkeit: Ich glaube nicht, dass die Sprachkompetenz ein Hinderungsgrund wäre. Man braucht ja erstmal nicht eine Überzahl an juristischem Personal, sondern nur wenige, um die Sache ins Rollen zu bringen. Die allgemeine Sprachkompetenz des Englischen kann man mit etablierten Tests feststellen lassen (z.B. IELTS), das Rechtsenglische zu zertifizieren dürfte dann auch nicht mehr allzu problematisch sein.
Nuja,
Ich glaube der Grund warum Unternehmen nicht vor deutsche Gerichte wollen liegt eher darin, dass amerikanische Gerichte unternehmensfreundlicher sind. Zumindest dann, wenn das Unternehmen klagt. Schadensersatzprozesse würde die Unternehmen vermutlich lieber in Deutschland führen…
Sprachkompetenz und Übersetzbarkeit
Danke für die interessanten und teilweise sehr ausführlichen Kommentare! Als Antwort zwei Nachemerkungen, eine zur Sprachkompetenz, eine zur Übersetzbarkeit.
Zur Sprachkompetenz: Es sollen ja spezielle Kammern eingerichtet werden, die dann natürlich mit entsprechend qualifizierten Richter/innen besetzt werden. Die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Richterbundes sieht kein Problem bei der Besetzung: Im verlinkten FAZ-Artikel wird sie mit der Aussage zitiert, es gebe mittlerweile ausreichend viele Richter die Erfahrungen in internationalen Anwaltskanzleien gesammelt und/oder zusätzlich internationale Abschlüsse (LL.M.) besitzen. Ich denke, man kann ihr das glauben.
Man muss ja auch bedenken, dass die Verträge, um die es in internationalen Wirtschaftsprozessen geht — der Streitgegenstand selbst, also — normalerweise auch in englischer Sprache abgefasst ist. Richter und Anwälte in solchen Prozessen müssen also ohnehin sehr gut Englisch können.
Was die Übersetzbarkeit deutscher Rechtskonzepte betrifft, so bin ich überzeugt, dass diese gegeben ist. Es handelt sich dabei um Fachterminologie, bei der man eben verstehen muss, was hinter den Begriffen steckt. Dazu muss man die Gesetzestexte, deren bisherige Interpretation durch die Gerichte und die auf ihnen beruhende Rechtssprechung kennen, sonst versteht man sie in keiner Sprache.
Im Prinzip geht es in der Rechtsprechung ja immer darum, Vertrags- und Gesetzestexte zu interpretieren, oft noch unter Berücksichtigung unterschiedlicher Verständnishorizonte. Das Problem der Textinterpretation ist also Richtern und Anwälten bestens vertraut (weshalb es übrigens oft höchst interessant ist, sich mit ihnen über Sprache zu unterhalten).
Und da inzwischen ohnehin eine enge Verzahnung zwischen nationalem, europäischem und internationalem Recht besteht, ist das zusätzliche Problem der Mehrsprachigkeit für Richter und Anwälte auch nicht neu.
Am OLG Köln gibt es übrigens laut FAZ schon jetzt spezielle Kammern, auf denen die gesamte mündliche Verhandlung in englischer Sprache geführt werden kann.
Unübersetzbarkeit der Rechtsterminologie
Meine Zweifel bezüglich der Sprachkenntnis mögen unbegründet sein — aus der bisherigen Erfahrung sind sie es nicht.
Ihrer Überzeugung zur Übersetzbarkeit von Rechtsterminologie aber muss ich energisch widersprechen. Das Problem ist dabei nicht die theoretische Erklärbarkeit in einer Fremdsprache — die ist mit entsprechender Begriffsbildung und entsprechendem Darlegungsumfang möglich, wenn auch schwierig. (Auch weil neue Konzepte erste einmal verinnerlicht werden müssen, bevor wir mit ihnen arbeiten können. Weil die Kulturen verschieden sind etc.) Allerdings wird dann aus der Übersetzung (meist) ein Lehrbuch! (Einem deutschen Juristen das französische Rechtsinstitut der Cause nahezubringen, ist nahezu unmöglich, ohne das gesamte Vertragsrecht zu erklären und für ihn neu zu erfinden.)
Problematisch ist vielmehr die praktische Übersetzbarkeit. Es geht, wie Sie zu Recht schreiben, um Interpretation von Texten. Doch ist eben jede Übersetzung auch Interpretation und beeinflusst damit den Inhalt. Genau dort liegt das praktische Problem. Problematisch ist schon die allgemeine Wortbedeutung. Das häufige Wort “Sache” kennt im Französischen die Übersetzungen “bien, chose, matière” und alle sind juristisch bedeutsam, teils in derselben Norm. Dazu kommt, dass z.B. eine (Kaufpreis)Forderung im französischen Recht durchaus ein “bien” ist, aber im deutschen Recht keine “Sache”. Noch schwieriger wird das mit der deutschen “Verordnung”, sie ist im Europarecht das “règlement”, kann aber sonst auch “ordonnance, décret, arrêté” sein. Umgekehrt ist es extrem schwierig, das “règlement” ins Deutsche zu übersetzen — die Bedeutungen sind zu vielfältig und zu stark im (insofern abweichenden) grundlegenden Rechtsverständnis verankert. (Siehe: Schmidt-König, Die Problematik der Übersetzung juristischer Terminologie, LIT 2005, S. 83–108.)
Ähnlich problematisch ist das bei der Übersetzung ins Englische. Beispielhaft ist hier die Übersetzung eines französischen Reformvorschlages ins Englische. Aus Versehen doppelt erfolgt, liegen nun zwei deutlich abweichende Versionen vor. Dabei haben die einen Übersetzer (und Juristen) die Rechtsfolgen englisch gedacht, die anderen französisch. Die eine Fassung ist dem normalen englischsprachigen Juristen vollkommen unverständlich, die andere versteht er gewiss falsch, nämlich nach seinen nationalen Konzepten. (Siehe mit Verweis auf weitere Schwierigkeiten: Moréteau, Revue international de droit comparé 2009, S. 696, 708 — leider auf Französisch, für englische Literatur verweist der Autor auf: Moréteau, Project to Reform the Law of Obligations (Catala Project): One Project, Two Translations, France, in Koziol/Steinberger, European Tort Law 2006, Springer 2008, S. 196)
Letztlich finden sich dort aber nur die allgemeinene Probleme der Kommunikationspsychologie in verdichteter Form wieder. Sinn kann man nicht vermitteln, er wird von jedem Individuum selbst erzeugt. Daher kann und muss Kommunikation immer an vergangene Kommunikation anschließen. Nur dann hat sie eine Chance richtig (= im Sinne des Absenders) verstanden zu werden. Darum auch sollten Urteile deutscher Gerichte deutsch bleiben, sie können an keine einheitlich Terminologie deutscher Rechtskonzepte in englischer Sprache anschließen. (Bei Parteivorträgen besteht dieses Problem aber eher andersherum — sie müssen ja an ihre bisherige Kommunikation anschließen und das ist meist leichter in der bisherigen (Verhandlungs)Sprache, auch daher mein obiger Vorschlag.)
Mit dem Problem fehlender Anschlussfähigkeit haben die Juristen schon länger im Europarecht zu kämpfen (ohne es so zu benennen). Aber gerade weil sie schon so lange damit kämpfen ist diese Anschlussfähigkeit mehr und mehr gegeben. Ähnliches gilt im UN-Kaufrecht. Es ist mir aber nicht ersichlich, warum man im internen deutschen Recht derartige Probleme neu aufmachen sollte. Nicht zuletzt ist selbst der anvisierte Gewinn sehr fragwürdig.
Wow. Just… wow.
Der ist doch nicht mehr zurechnungsfähig.
@Marjanovic: Vielleicht
…aber meine Absicht war nicht, Juristen zu verteufeln. Ich habe nur eine Perspektive dargestellt, die aus dem juristischen Denken gar nicht sichtbar sein kann.
Vielleicht kennen Sie das Elefantengleichnis zu den Folgen wissenschaftlicher Spezialisierung. Die Rechtswissenschaft ist eine Spezialisierung der (je nach Ansicht) Geistes‑, Sozial- oder Handlungs-/Entscheidungswissenschaften. Als solche kann sie wie jede Teilwissenschaft nur in ihrem eigenen Rahmen erkennen, in ihrem System. Schlimmer noch: jede nationale Rechtswissenschaft ist ein (noch überwiegend) selbständiges System. Mit den entsprechenden Problemen “intersystemischer Kommunikation”.
”Obwohl es sich die Leser/innen meines alten und auch neuen Blogs manchmal anders wünschen, …”
sie haben recht es nervt, daher wünsche ihnen viel spaß beim reiten ihres steckenpferdes in den sonnenuntergang.
sie machen mittlerweile einen genauso verbiesterten eindruck wie ihre gegenseite.
Nervt es?
Wir alle mögen gerne neue erfrischende Themen. Wenn wir aber eine Situation wissenschaftlich betrachten wollen, müssen wir uns auch auf eine langweilige Auseinandersetzung mit allen ihren Aspekten einlassen. In Situationen, in denen jemand den “gesunden Menschenverstand” zitiert, ist genau das meistens nicht geschehen. Der gesunde Menschenverstand ist — dort wo er zitiert wird — die Betrachtungsweise eines Neanderthalers. Wir hätten kein halbwegs funktionierendes Rechtssystem und keine Ingenieurleistungen, wenn wir uns auf ihn verlassen würden.
Kurz: Wer meint, man kann den gesunden Menschenverstand entscheiden lassen, sollte auch wieder zurück in seine Felsenhöhle ziehen.
Übersetzungen von Konzepten
Hier ein alltägliches Beispiel für die Schwierigkeit, unterschiedliche Konzepte zu übersetzen:
als meine Frau vor zwei Jahrzehnten nach Deutschland kam, wurde sie auch als Ärztin in ihrem Heimatland noch mit einer “Lohntüte” bezahlt. Das Krankenhaus war staatlich und berechnete den Lohn Brutto für Netto, weil der Gewinn des Gesundheitswesens sowieso dem Staat zugute kam.
Dementsprechend kannte man in ihrer Sprache keine Wörter für Steuererklärung, Konto, Überweisung. Immer wenn sie mit ihrer dortigen Familie sprach, benutzte sie dafür die deutschen Wörter und erklärte die dahinterliegenden Konzepte in ihrer Sprache.
Inzwischen haben sich natürlich neue Wörter in ihrer Sprache eingebürgert, weil alle Bürger inzwischen Konten besitzen und Steuern zahlen müssen.
Ich vermute, dass ein ähnlicher Vorgang bei der Einführung der englischen Sprache in das deutsche Rechtssystem vonstatten gehen müsste: Man wird nicht in jedem Rechtsgutachten die zugrunde liegenden Konzepte erläutern können. Die englischen Wörter bezeichnen andere Konzepte, also muss man wohl deutsche Fachausdrücke einführen.
Im Zusammenhang mit den an Realsatire grenzenden Äußerungen Walter Krämers möchte ich auf folgende Dokumentation verweisen:
http://www.youtube.com/watch?v=4AtEi-w3Tj4
Zu Beginn des verlinkten Ausschnitts tätigt der VDS-Vorsitzende Äußerungen, die noch mehr als die Rede vom Judaslohn an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln lassen (wobei die eingeblendeten Animationen nicht eben dazu beitragen, die Seriosität des Gesagten zu untermauern…).
Überdies ist der gesamte Film ein schönes Beispiel dafür, wie sehr die VDS-Argumente den öffentlichen Diskurs bestimmen — ich wage zu bezweifeln, dass öffentlich-rechtliche Gebührengelder in gleichem Maße auch in eine sprachwissenschaftlich fundierte Dokumentation geflossen wären. Daher kann ich als regelmäßiger Leser des alten wie des neuen Blogs nur dazu ermuntern, die Auseinandersetzung mit den “Sprachnörglern”, auch wenn einige davon genervt sein mögen, weiterzuführen.
Übrigens: Gibt man in Youtube “Walter Krämer” ein, stößt man zuallererst auf Videos, in denen er als Statistiker vor medialer Panikmache warnt. Durchaus nicht zu Unrecht — aber wer im Glashaus sitzt…
Als vor einiger Zeit über die Festlegung des Deutschen als Staatssprache im Grundgesetz gestritten wurde, haben die Gegner dieses Vorschlags alle damit argumentiert, daß Deutsch als Amts- und Gerichtssprache doch schon gesetzlich festgelegt und die Aufnahme ins Grundgesetz daher überflüssig sei. Kaum ist diese Diskussion abgeebbt, wird schon der erste Versuch gemacht, diese gesetzlichen Regelungen zumindest aufzuweichen. Das wird hier auch noch bejubelt, anstatt die eigene damalige Argumentation auch nur ansatzweise zu überdenken.
Dabei ist die Begründung des Vorschlags von Frau Müller-Piepenkötter außerordentlich schwach. Im Origalton Müller-Piepenkötters heißt es:
Das ist natürlich richtig. Gilt das für die deutsche Wirtschaft aber nicht auch? Der Vorschlag würde dem schon vorhandenen Ungleichgewicht noch ein weiteres hinzufügen, daß nämlich über deutsches Recht zwar auf Englisch, über englisches Recht aber nicht auf Deutsch verhandelt werden könnte. Frau Müller-Piepenkötter hat zwar mit Richter- und Anwaltsverbänden gesprochen, aber was sagt die deutsche Wirtschaft dazu?
Weiter Frau Müller-Piepenkötter:
Damit werden in krasser Weise Ursache und Wirkung verwechselt. Für ein ausländisches Unternehmen dürfte das anzuwendende Recht viel wichtiger sein als die Gerichtssprache. Warum in aller Welt sollten sie auf “das ihnen vertraute und bewährte” englische Recht verzichten und sich darauf einlassen, vor einem deutschen Gericht “ihre Interessen wahren zu müssen”? Wenn sie sich auf deutsches Recht einlassen, müssen sie so oder so einen deutschen Anwalt beauftragen, egal in welcher Sprache verhandelt wird.
Dann wird eine deutsche Richterin zitiert, die gesagt habe:
Wenn schon berufsmäßige Fachübersetzer oder ‑dolmetscher “viele Nuancen und Details” nicht richtig übersetzen können, warum sollten deutsche Richter das besser können, seien ihre Englischkenntnisse auch noch so gut?
Der ganze Vorschlag scheint mir deshalb höchst unzulänglich begründet. Aber angeblich steht dahinter ja “nur die konsequente Wahrung nationaler Interessen”. Aber wer definiert denn, was die “nationalen Interessen” sind? Was wäre, wenn andere, übergeordnete nationale Interessen, z.B. sprachpolitische Interessen dagegen sprächen? Das wird ja nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen.
Alle Welt scheint heute überzeugt, daß auch die sprachliche Integration der Einwanderer in Deutschland sehr wichtig ist. Alle Bundesregierungen haben darauf gedrungen, daß die EU-Amtssprache Deutsch auch wirklich in der EU benutzt wird. Wie sollen wir diese “nationalen Interessen” wirkungsvoll vertreten, wenn wir ihnen im eigenen Hinterhof zuwiderhandeln?
Insofern ist die Kritik des VDS nicht gänzlich von der Hand zu weisen, mag man auch noch so sehr Form und Ausdrucksweise der VDS-Presseerklärung kritisieren.