Von Standards und Abweichungen

Von Susanne Flach

Bevor ich den Krieg weit­er­führen kann, ein klein­er Exkurs.

Die Fest­stel­lung abwe­ichen­den Sprachge­brauchs hat fast auss­chließlich eine — aus lin­guis­tis­ch­er Sicht — selt­same, zumin­d­est aber prob­lema­tis­che Bezugs­größe: die Stan­dard­sprache. Mit dem Stan­dar­d­englisch ist es irgend­wie wie mit “vernün­ftigem Deutsch” — kein­er weiß, wo genau es ange­blich gesprochen wird.*

Aber weil sich-auf-etwas-beziehen lang­weilig ist, wenn man nichts hat, worauf man sich beziehen kann, beziehen wir uns also lieber auf etwas, was nicht da ist. (Immer­hin ist für den deskrip­tiv­en Lin­guis­ten wichitg, was und wie gesprochen wird, nicht (nur) die the­o­retis­che Möglichkeit. Der Grad der Beru­fung auf Stan­dards vari­iert natür­lich und ist wohl beim Dialek­tolo­gen geringer, als beim Sprach­puris­ten — wobei ich diese bei­den Extreme eigentlich nicht in einem Atemzug genan­nt haben will, aber sei’s drum. You get the gist.) Und weil sich der Lin­guist nicht dis­qual­i­fizieren möchte, beziehen wir uns also auf den “Stan­dard”. Okay, genug der Nest­beschmutzung. Die Grun­dan­nahme des Teils der Lin­guis­tik, die “den Stan­dard” lediglich als gle­ich­w­er­tige Vari­etät mit ander­er Funk­tion und auf Augen­höhe mit — und nicht ober­halb von — vie­len Vari­etäten ansieht, ist mir da auch ungle­ich sym­pa­this­ch­er (siehe dazu z.B. Trudg­ill 2009).

Im Grunde ist die Dis­qual­i­fika­tion vom Tisch, wenn man a) anerken­nt, dass der Begriff “Stan­dard” prob­lema­tisch ist, b) den Ter­mi­nus als eine Art Sam­mel­be­griff für in der Sprechge­mein­schaft akzep­tierte Sprach­nor­men ver­wen­det und c) akzep­tiert, dass es nach wie vor die “beste” lin­guis­tis­che Beschrei­bung für eine normierte “Hochsprache” ist. Stan­dards in allen Sprachen sind mehr oder weniger kün­stlich definierte Nor­men. Äh, *hüs­tel*, die gemein­hin als Normab­we­ichun­gen definierten süd­deutschen Dialek­te sind lin­guis­tisch gese­hen “Hoch“deutsch, was natür­lich die Behaup­tung der Schwaben “Wir kön­nen alles außer Hochdeutsch” irgend­wie ad absur­dum führt, aber gut. Kurz, platt, prim­i­tiv und sim­pli­fiziert dargestellt: wir glauben, dass es den Stan­dard nicht gibt, wis­sen aber, was damit gemeint ist. Alles klar?

Wenn also eine sprach­liche Kon­struk­tion “nicht stan­dard­sprach­lich” ver­wen­det wird, so bedeutet dies, dass es von präskrip­tiv­en Englis­chgram­matiken nicht in der abwe­ichen­den Ver­wen­dung definiert ist. Platt kön­nte man sagen: “Es ste­ht nicht im Oxford, also kann es nur abwe­ichend sein” (mit der gle­ichen Logik operieren übri­gens die Duden­jünger vom Vere­in Deutsche Sprache e.V.). Wir sehen die Schwierigkeit?

Diese Prob­lematik ist lei­der nicht allen Lin­guis­ten und schon gar nicht Bas­t­ian Sick bewußt. Es ist wie Äpfel mit Bir­nen ver­gle­ichen. Wir beobacht­en Sprach­wirk­lichkeit­en inner­halb des Bezugsrah­mens der Stan­dard­sprache, möcht­en aber die Sprache von Sprech­ern abbilden, die diese Stan­dard­sprache gar nicht sprechen. Okay, okay, wir ver­wen­den den Begriff “Stan­dard” in den oben in a)-c) genan­nten Ver­wen­dungsweisen, nicht als Ide­al. Prob­lema­tisch ist es dennoch.

Und damit kom­men wir auf den Artikel zurück: wenn per­ma­nent behauptet wird, dass der Artikel­ge­brauch im Englisch in Irland, Schot­t­land, der Karibik, Afri­ka oder Asien vom Stan­dar­d­englisch abwe­icht, bedeutet das lediglich, dass er so nicht in den Englis­chgram­matiken belegt ist. Die Zahl der Mut­ter­sprach­ler des Stan­dar­d­englisch ist ver­glichen mit Sprech­ern ander­er Vari­etäten (sozialen, geografis­chen, sit­u­a­tiv­en Dialek­ten usw. usf.) sehr, sehr klein.

Ob ich ohne Stan­dard auskomme?

*Die meis­ten Uneingewei­ht­en wür­den hier Tagess­chaudeutsch oder Oxford Eng­lish anführen. Aber habt ihr den Tagess­chaus­prech­ern schon mal genauer auf die Lip­pen geschaut (Han­nover hat auch mit­nicht­en das “rein­ste Hochdeutsch”)?Oder jeman­den getrof­fen, dessen Mut­ter­sprache einem Wörter­buch mit mehr als ein­er hal­ben Mil­lion Wörtern entspricht (noch nich ma die Queen spricht Queen’s Eng­lish)? Von Textbuch­gram­matik oder Duden­deutsch ganz zu schweigen.

Trudg­ill, Peter. 2009. Ver­nac­u­lar Uni­ver­sals and the Soci­olin­guis­tic Typol­o­gy of Eng­lish Dialects. In: Filp­pu­la, Markku, Juhani Kle­mo­la & Heli Paulas­to [eds]. Ver­nac­u­lar Uni­ver­sals and Lan­guage Con­tact: Evi­dence from Vari­eties of Eng­lish and Beyond. Lon­don: Rout­ledge. 304–322.

2 Gedanken zu „Von Standards und Abweichungen

  1. A.S.

    Die Dekon­struk­tion von „Sprache“ und „Dialekt“ in Har­ris (1990) ist immer noch das Beste, was ich zum The­ma kenne:

    Har­ris, Roy (1990). The dialect myth. In: Jerold A. Edmond­son, Craw­ford Fea­gin und Peter Mühlhäusler (Hgg,), Devel­op­ment and Diver­si­ty: Lan­guage Vari­a­tion across Time and Space. Dal­las, TX: Sum­mer Insti­tute of Lin­guis­tics, 3–20.

    Zum The­ma der Beschrei­bung von „abwe­ichen­den“ gram­ma­tis­chen Struk­turen: Es ist eine inter­es­sante Frage, ob es (außer­halb von Basilekt-Akrolekt-Sit­u­a­tio­nen) irgen­deinen ana­lytis­chen Vorteil hat, Sprach­sys­teme in Bezug zu anderen Sprach­sys­te­men zu beschreiben. Die Frage, die Sie sich hier stellen ist doch die: Warum ver­wen­den manche der Sprachge­mein­schaften, deren Sprache man dem englis­chen Dialek­tkon­tin­u­um zurech­nen kann, in bes­timmten Posi­tio­nen def­i­nite Artikel während andere das nicht tun? Dass diese Frage wun­der­bar kom­plex und viel inter­es­san­ter ist als die Frage nach „Stan­dards“ und deren „Funk­tion“, das zeigen doch ihre Beiträge!

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    1. suz

      Ich scheine auch an der Frage zu “scheit­ern”, wie ich mit der Gruppe der “gener­ics” umge­hen soll. Mal davon abge­se­hen, dass es anhand der Daten­lage fast unmöglich ist, her­auszufind­en, ob der Schreiber bei the peo­ple are dying in the west of Ire­land mit peo­ple die Men­schen generell oder eine bes­timmte, abgrenzbare Gruppe von Men­schen meint. Damit mache ich wohl ein sema­tis­ches Fass auf, das ich nie wieder zu bekomme. Das seman­tis­che “Prob­lem” liegt hier wohl im Konzept der def­i­nite­ness und der ani­ma­cy hier­ar­chy (nach z.B. John Hawkins). Ein wie auch immer geart­eter “Stan­dard” — den beson­ders Filp­pu­la (1999) als Bezugspunkt nimmt — ist logis­cher­weise eine Vari­etät, die viel weit­er weg von Empfind­un­gen sein­er Sprech­ern ist, als deren emotionale(re) Umgangssprache. Für Filp­pu­la waren Kon­struk­tio­nen mit the peo­ple die häu­fig­ste einzelne Kat­e­gorie in seinem Kor­pus — das kann ich nicht bestäti­gen, weil die Klas­si­fizierung fast unmöglich ist. Das wäre ver­mut­lich Stoff für eine eigene Arbeit. Ein­deutig in der Kat­e­gorie der “gener­ics” sind lediglich Kon­struk­tio­nen wie the bacon is expen­sive oder she has the good health. Und all diese Ver­wen­dungsweisen sind im Stan­dar­d­englisch ver­loren gegan­gen, unbekan­nt sind/waren sie auch hier nicht. Ich würde sog­ar die These auf­stellen, dass die Akzep­tanzrat­en von Filp­pu­las gener­ics in allen (emo­tion­al dem Men­schen näheren) Vari­etäten jen­seits eines Edu­cat­ed Stan­dard Eng­lish hin­aus rel­a­tiv hoch sind.

      All­ge­mein hat mich zu diesem Beitrag ja lediglich inspiri­ert, dass soviele Lin­guis­ten Stan­dards als unzulänglich ablehnen, sich aber auf ihn beziehen. Danke für den Literaturhinweis.

      (Filp­pu­la, Markku. 1999. The Gram­mar of Irish Eng­lish. Lan­guage in Hibern­ian Style. Lon­don: Routledge.)

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