Bevor ich den Krieg weiterführen kann, ein kleiner Exkurs.
Die Feststellung abweichenden Sprachgebrauchs hat fast ausschließlich eine — aus linguistischer Sicht — seltsame, zumindest aber problematische Bezugsgröße: die Standardsprache. Mit dem Standardenglisch ist es irgendwie wie mit “vernünftigem Deutsch” — keiner weiß, wo genau es angeblich gesprochen wird.*
Aber weil sich-auf-etwas-beziehen langweilig ist, wenn man nichts hat, worauf man sich beziehen kann, beziehen wir uns also lieber auf etwas, was nicht da ist. (Immerhin ist für den deskriptiven Linguisten wichitg, was und wie gesprochen wird, nicht (nur) die theoretische Möglichkeit. Der Grad der Berufung auf Standards variiert natürlich und ist wohl beim Dialektologen geringer, als beim Sprachpuristen — wobei ich diese beiden Extreme eigentlich nicht in einem Atemzug genannt haben will, aber sei’s drum. You get the gist.) Und weil sich der Linguist nicht disqualifizieren möchte, beziehen wir uns also auf den “Standard”. Okay, genug der Nestbeschmutzung. Die Grundannahme des Teils der Linguistik, die “den Standard” lediglich als gleichwertige Varietät mit anderer Funktion und auf Augenhöhe mit — und nicht oberhalb von — vielen Varietäten ansieht, ist mir da auch ungleich sympathischer (siehe dazu z.B. Trudgill 2009).
Im Grunde ist die Disqualifikation vom Tisch, wenn man a) anerkennt, dass der Begriff “Standard” problematisch ist, b) den Terminus als eine Art Sammelbegriff für in der Sprechgemeinschaft akzeptierte Sprachnormen verwendet und c) akzeptiert, dass es nach wie vor die “beste” linguistische Beschreibung für eine normierte “Hochsprache” ist. Standards in allen Sprachen sind mehr oder weniger künstlich definierte Normen. Äh, *hüstel*, die gemeinhin als Normabweichungen definierten süddeutschen Dialekte sind linguistisch gesehen “Hoch“deutsch, was natürlich die Behauptung der Schwaben “Wir können alles außer Hochdeutsch” irgendwie ad absurdum führt, aber gut. Kurz, platt, primitiv und simplifiziert dargestellt: wir glauben, dass es den Standard nicht gibt, wissen aber, was damit gemeint ist. Alles klar?
Wenn also eine sprachliche Konstruktion “nicht standardsprachlich” verwendet wird, so bedeutet dies, dass es von präskriptiven Englischgrammatiken nicht in der abweichenden Verwendung definiert ist. Platt könnte man sagen: “Es steht nicht im Oxford, also kann es nur abweichend sein” (mit der gleichen Logik operieren übrigens die Dudenjünger vom Verein Deutsche Sprache e.V.). Wir sehen die Schwierigkeit?
Diese Problematik ist leider nicht allen Linguisten und schon gar nicht Bastian Sick bewußt. Es ist wie Äpfel mit Birnen vergleichen. Wir beobachten Sprachwirklichkeiten innerhalb des Bezugsrahmens der Standardsprache, möchten aber die Sprache von Sprechern abbilden, die diese Standardsprache gar nicht sprechen. Okay, okay, wir verwenden den Begriff “Standard” in den oben in a)-c) genannten Verwendungsweisen, nicht als Ideal. Problematisch ist es dennoch.
Und damit kommen wir auf den Artikel zurück: wenn permanent behauptet wird, dass der Artikelgebrauch im Englisch in Irland, Schottland, der Karibik, Afrika oder Asien vom Standardenglisch abweicht, bedeutet das lediglich, dass er so nicht in den Englischgrammatiken belegt ist. Die Zahl der Muttersprachler des Standardenglisch ist verglichen mit Sprechern anderer Varietäten (sozialen, geografischen, situativen Dialekten usw. usf.) sehr, sehr klein.
Ob ich ohne Standard auskomme?
*Die meisten Uneingeweihten würden hier Tagesschaudeutsch oder Oxford English anführen. Aber habt ihr den Tagesschausprechern schon mal genauer auf die Lippen geschaut (Hannover hat auch mitnichten das “reinste Hochdeutsch”)?Oder jemanden getroffen, dessen Muttersprache einem Wörterbuch mit mehr als einer halben Million Wörtern entspricht (noch nich ma die Queen spricht Queen’s English)? Von Textbuchgrammatik oder Dudendeutsch ganz zu schweigen.
Trudgill, Peter. 2009. Vernacular Universals and the Sociolinguistic Typology of English Dialects. In: Filppula, Markku, Juhani Klemola & Heli Paulasto [eds]. Vernacular Universals and Language Contact: Evidence from Varieties of English and Beyond. London: Routledge. 304–322.
Die Dekonstruktion von „Sprache“ und „Dialekt“ in Harris (1990) ist immer noch das Beste, was ich zum Thema kenne:
Harris, Roy (1990). The dialect myth. In: Jerold A. Edmondson, Crawford Feagin und Peter Mühlhäusler (Hgg,), Development and Diversity: Language Variation across Time and Space. Dallas, TX: Summer Institute of Linguistics, 3–20.
Zum Thema der Beschreibung von „abweichenden“ grammatischen Strukturen: Es ist eine interessante Frage, ob es (außerhalb von Basilekt-Akrolekt-Situationen) irgendeinen analytischen Vorteil hat, Sprachsysteme in Bezug zu anderen Sprachsystemen zu beschreiben. Die Frage, die Sie sich hier stellen ist doch die: Warum verwenden manche der Sprachgemeinschaften, deren Sprache man dem englischen Dialektkontinuum zurechnen kann, in bestimmten Positionen definite Artikel während andere das nicht tun? Dass diese Frage wunderbar komplex und viel interessanter ist als die Frage nach „Standards“ und deren „Funktion“, das zeigen doch ihre Beiträge!
Ich scheine auch an der Frage zu “scheitern”, wie ich mit der Gruppe der “generics” umgehen soll. Mal davon abgesehen, dass es anhand der Datenlage fast unmöglich ist, herauszufinden, ob der Schreiber bei the people are dying in the west of Ireland mit people die Menschen generell oder eine bestimmte, abgrenzbare Gruppe von Menschen meint. Damit mache ich wohl ein sematisches Fass auf, das ich nie wieder zu bekomme. Das semantische “Problem” liegt hier wohl im Konzept der definiteness und der animacy hierarchy (nach z.B. John Hawkins). Ein wie auch immer gearteter “Standard” — den besonders Filppula (1999) als Bezugspunkt nimmt — ist logischerweise eine Varietät, die viel weiter weg von Empfindungen seiner Sprechern ist, als deren emotionale(re) Umgangssprache. Für Filppula waren Konstruktionen mit the people die häufigste einzelne Kategorie in seinem Korpus — das kann ich nicht bestätigen, weil die Klassifizierung fast unmöglich ist. Das wäre vermutlich Stoff für eine eigene Arbeit. Eindeutig in der Kategorie der “generics” sind lediglich Konstruktionen wie the bacon is expensive oder she has the good health. Und all diese Verwendungsweisen sind im Standardenglisch verloren gegangen, unbekannt sind/waren sie auch hier nicht. Ich würde sogar die These aufstellen, dass die Akzeptanzraten von Filppulas generics in allen (emotional dem Menschen näheren) Varietäten jenseits eines Educated Standard English hinaus relativ hoch sind.
Allgemein hat mich zu diesem Beitrag ja lediglich inspiriert, dass soviele Linguisten Standards als unzulänglich ablehnen, sich aber auf ihn beziehen. Danke für den Literaturhinweis.
(Filppula, Markku. 1999. The Grammar of Irish English. Language in Hibernian Style. London: Routledge.)