In meinem letzten Beitrag habe ich unter anderem darauf hingewiesen, dass mir bei der Lektüre des Schweizer Bahnmagazins Via die häufige (um nicht zu sagen, durchgängige) Verwendung des Pronomens welch- (welche, welcher, welches, welchem, welchen) als Relativpronomen aus bundesdeutscher Perspektive ungewohnt vorkommt.
Im bundesrepublikanischen Standard-Schriftdeutsch, so meine klare Intuition, kommt dieses Pronomen hauptsächlich als Interrogativpronomen vor (Beispiel 1); als Relativpronomen (Beispiel 2) ist es dagegen sehr selten:
(1) Für welche Verbindungen kann ich ein Handy-Ticket erwerben? (bahn.de)
(2) Eine MMS (Multi Messaging Service) ist eine multimediale Nachricht, mit welcher beispielsweise Bilder, Texte oder kurze Videosequenzen per Handy an einen oder mehrere Empfänger versendet werden können. (bahn.de)
Die Richtigkeit dieser Intuition ist in den Kommentaren bezweifelt worden. Umphanumpha aus Frankfurt „liest und hört das Wort täglich“, Liam R empfindet es „im formellen Schreiben als sehr geläufig“ und Nörger belehrt uns, dass es „auch im Standarddeutschen durchaus gängig und keine schweizerische Besonderheit“ sei. Andere Leser/innen stimmen mir zu: Gareth würde das Relativpronomen welch- „allerhöchstens im sehr formellen Schriftgebrauch angemessen finden“ und Simone weist darauf hin, dass es sich bei dieser Verwendung um einen „Frequenz-Helvetismus“ handelt: „Wir Schweizer erachten die ältere Variante welche als gehobener und setzten sie deswegen wesentlich öfter ein als die Deutschen, auch dort, wo sie nicht eine Wortwiederholung umgeht“.
Das hat mich nun doch näher interessiert, also habe ich eine kleine korpuslinguistische Analyse durchgeführt. Als Datengrundlage dienen mir dazu die Netzauftritte der Schweizerischen Bundesbahnen und der Deutschen Bahn.
Auf den Webseiten der Deutschen Bahn findet Google 970 Treffer für die Wörter welche, welcher, welches. Eine Auszählung der ersten 100 Treffer ergibt, dass 15 davon Relativpronomen sind. Hochgerechnet kommt die Deutsche Bahn also auf 145 Verwendungen von welche, welcher und welches als Relativpronomen.
Auf den Webseiten der Schweizerischen Bundesbahnen findet Google fast dreimal soviele Treffer, nämlich 3680. Eine Auszählung der ersten 100 Treffer ergibt, dass 82 davon Relativpronomen sind, was hochgerechnet 3017 Verwendungen von welche, welcher und welches als Relativpronomen ergibt.
Der Gesamtumfang der Netzauftritte ist in etwa vergleichbar, aber trotzdem können wir die Verwendungshäufigkeit noch genauer bestimmen. Die SBB kommen insgesamt auf 422 000 Seiten, die DB auf 536 000. Das bedeutet, dass die SBB welche/s/r im Durchschnitt auf 1000 Seiten 7,15 Mal als Relativpronomen verwenden, die DB dagegen nur 0,27 Mal.
Die Gegenrechnung der Verwendung von welche/s/r als Fragepronomen zeigt, dass es hier keinen Unterschied zwischen den Webseiten gibt: geschätzte 662 Treffer bei den SBB ergeben 1,47 Verwendungen je 1000 Seiten, bei der DB sind es 825 Treffer, also 1,5 Verwendungen je 1000 Seiten.
(Die normalisierten, also durch die Seitenzahl geteilten Verwendungshäufigkeiten dürfen nicht wörtlich genommen werden, da unklar ist, wie Google Treffer und Seitenzahlen ermittelt. Da wir aber davon ausgehen können, dass Google die selben Algorithmen auf die Seiten der SBB und der DB anwendet, können wir das Verhältnis der Verwendungshäufigkeiten durchaus ernst nehmen).
Es besteht also kein Zweifel, dass die SBB (und möglicherweise das Schweizer Standarddeutsch insgesamt) welche/s/r (und die übrigen Flexionsformen) wesentlich häufiger als Relativpronomen verwendet als die DB (und möglicherweise das bundesdeutsche Standarddeutsch).
Das ist natürlich interessant, in Ihrem letzten Beitrag ging für mich indessen nicht deutlich hervor, dass im Magazin “welche/r/s” das vorwiegende Relativpronomen ist.
Interessant wäre es jetzt noch zu überprüfen, inwieweit die Schweizer häufiger oder seltener Relativsatzkonstruktionen verwenden.
Interessant wäre auch zu sehen, woher die Kommentatoren, die “welche/r/s” als Relativpronomen “häufiger” antreffen, kommen. Nahe der schweizer Grenze aufgewachsen klingt “welche/r/s” für mich nach gehobene Sprache, weshalb ich es auch häufiger zu nutzen glaube, und mir die höhere Frequenz in einem schweizer Magazin vermutlich nicht aufgefallen wäre (anderes wohl schon 🙂 ).
Möglicherweise hilfreich:
Eine ehemalige Bürgerin der DDR erzählte mir, dass in den Schulen der DDR gelehrt wurde, dass es guter Stil sei, wenn nach Verwendung von der/die/das sich eine Wiederholung durch Verwendung von welcher/welche/welches vermeiden lässt. Also statt “Der Mann, der vorhin hier war” besser “Der Mann, welcher vorhin hier war” und entsprechendes in der weiblichen und sächlichen Form.
Mir begegnet “welch-” als Relativpronomen überwiegend in Seminararbeiten, deren Schreiber versuchen, besonders akademisch/formell zu klingen.
@ Andreas H.: Oh, das erklärt (mir, teilossimilierter Wahlleipziger) einiges.
Off-topic, aber sehr witzig:
Gestrige Meldung auf telepolis.de nach der Überschrift “Kolumbien verlegt Truppen an venezolanische Grenze”: “Nach dem Präsidenten Chavez ist eine US-Drohne aus Kolumbien in den venezolanischen Luftraum eingedrungen”
Was ist denn so schlimm daran, wenn Chavez in seinen eigenen Luftraum flattert, oder hatte die Drohne ihn verfolgt?
Hm, ich hab nie wirklich verstanden, warum man Korpuslinguistik betreibt. Entscheidend ist doch nicht, wie oft etwas gesagt wird sondern warum es –– wenn auch selten –– überhaupt gesagt und als grammatisch empfunden wird.
Interessant wäre auch, was in der Schweiz und in Deutschland an den Schulen gelehrt wird.
Beispielsweise kann man im “Heuer” (S. 99) lesen:
“der, die, das und das etwas schwerfälligere welcher, welche, welches sind austauschbar (außer im Genitiv)”
Heuer, Walter; Flückiger, Max; Gallmann, Peter: Richtiges Deutsch. Die Sprachschule für alle. 25. Aufl., Zürich 2001 (NZZ Verlag).
Im Werkbuch des Lehrmittels Sprachwelt Deutsch (2005; 5. Ausgabe) findet man dann folgenden Hinweis:
“Zum Stil:
Statt: Das Buch, das das Kind gelesen hat, kenne ich.
Besser: Ich kenne das Buch, welches das Kind gelesen hat.”
Interessant ist ja, dass es in den schweizerdeutschen Dialekten “welcher” überhaupt nur als Interrogativpronomen gibt. Dann lernt man in der Schule, dass man im Standarddeutschen “welcher” als Relativpronomen brauchen kann (dieses wiederum ist im Schweizerdeutschen stets “wo”, also “Ich känne s Buech, wo s Chind gläse hed”) und folglich wird jede Schweizerin und jeder Schweizer das Relativpronomen “welcher” dann auch brauchen, weil man in der Schule gelernt hat, dass das Standarddeutsch ist…
Für mich als Österreicherin klingt welche/r/s als Relativpronomen in formellen Texten nicht ungewöhnlich.Ich glaube also nicht, dass das eine schweizerdeutsche Eigenheit ist. Mir ist allerdings auch schon aufgefallen, dass mein deutscher Kollege stets meint, das ausbessern zu müssen.
Erstaunlich, wie einen das Kurzzeitgedächtnis gelegentlich in Stich lassen kann. Von einer “häufigen (um nicht zu sagen, durchgängigen) Verwendung des Pronomens welch-” war im letzten Beitrag überhaupt nicht die Rede (Umphadumpha hat ja schon darauf hingewiesen).
Vielmehr wurde nur ein einziges Beispiel für die Verwendung von welches
angegeben.
Ebensowenig habe ich gesagt (oder irgendjemanden “belehrt”), daß die Verwendung des Relativpronomens welch- generell „auch im Standarddeutschen durchaus gängig und keine schweizerische Besonderheit“ sei. Vielmehr habe ich darauf hingewiesen, daß in dem zitierten Beispiel die Verwendung von welches auch im Standarddeutschen gängig sei, um “die als unschön empfundene Wortwiederholung das das zu vermeiden” (darauf hatte lukas, wie ich später bemerkte, schon vorher hingewiesen).
Wenn Sie so darauf bestehen, dass Sie nur das eine Zitat gemeint haben und nicht auf das Standarddeutsche geschlossen haben, ergibt Ihr Statement aber wenig Sinn. Wie kann denn eine Formulierung in nur einem Beispiel gängig sein? Die Definition von gängig ist doch, dass etwas häufiger auftritt bzw. im allgemeinen Gebrauch ist.
@Gareth:
Die Verwendung des Relativpronomens welch- ist im Standarddeutschen gängig, um eine Wortwiederholung wie in dem zitierten Beispiel zu vermeiden.
Ein weiteres Beispiel: Das ist der, der der Frau die Handtasche gestohlen hat.
@Nörgler
Da gibt es bessere Beispiele:
Für mich ein einwandfreier Satz.
Wortwiederholung stört die Kommunikation aber nicht bzw. wird nur in einem Maße benutzt, das die Kommunikation nicht erschwert. Wortwiederholung vermeiden klingt für mich eher nach einem Grundsatz derjenigen, die glauben es gäbe in der Tat “gutes und richtiges” Deutsch…
Das ist eigentlich kein besseres Beispiel, denn dieser Satz ist konstruiert und würde so nicht im allgemeinen Sprachgebrauch geäußert werden. Sätze wie der von Nörgler sind hingegen, um es in Nörglers Worten zu sagen, gängig.
Es ist ein ästhetischer Grundsatz, über dessen Wert man wohl endlos diskutieren kann. Aber der Wunsch, als unschön empfundene Wortwiederholungen zu vermeiden, beeinflusst zweifellos die Wortwahl einiger Benutzer des Schriftdeutschen. Ihre Aussage klingt so, als zweifelten Sie an der Existenz “derjenigen, die glauben es gäbe in der Tat ‘gutes und richtiges’ Deutsch.”
Wer hätte gedacht, dass ich mich mal auf die Seite des Nörglers schlagen würde…
Ich glaube, dass hier einfach absichtsvoll aneinander vorbeigeredet wird. Gareth besteht deskriptiv völlig richtig darauf, dass Wortwiederholungen kein “falsches” Deutsch sind. Nörgler hingegen vertritt das stilistische Argument — und ich muss ihm da wie gesagt beipflichten -, dass Wortwiederholungen aus stilistischer Sicht oft eine gewisse Ungeschmeidigkeit in einen Text bringen und daher gerne vermieden werden. Ich stehe sonst ja ganz auf Seiten der deskriptiven Linguistik, aber was das Sprachgefühl angeht, empfinde ich in diesem Fall genauso und bediene mich in meinen eigenen Texten auch gerne der “welche”-Konstruktion, um Häufungen von “die” usw. zu vermeiden. Ich erachte das weder als sprachnörglerische Richtig-Falsch-Fessel noch als verunglückten Versuch, besonders “akademisch” zu klingen (vgl. #4), sondern als akzeptablen Weg, eine von mir so empfundene stilistische Unebenheit zu glätten.
@amfenster
Ich danke für den sehr ausgewogenen Beitrag.
Der Genauigkeit halber möchte ich nur darauf hinweisen, daß ich nicht gesagt habe, daß Wortwiederholungen wie das das unschön seien und deshalb durch Verwendung von welch- vermieden werden sollten. Ich habe nur gesagt, daß viele Deutsche derartige Wortwiederholungen als unschön empfinden und durch Verwendung von welch- zu vermeiden suchen.
Ich habe mich insofern rein deskriptiv geäußert.
Natürlich habe ich meine eigene Meinung dazu, was “gut” und “richtig” ist. Aber darum ging es hier nicht.
An deren Existenz besteht leider kein Zweifel. Ich bestreite nur die Existenz des ‘guten und richtigen’ Deutsch, wie es einem z.B. der Duden und die Horde von Sprachpuristen ständig vorgaukeln wollen.
@Gareth:
Sie haben ja vollkommen recht und ich stimme Ihnen vollkommen zu.
Weder gibt es “gutes” oder “richtiges” Deutsch, noch gibt es “gute” oder “böse” Taten, noch gibt es “schöne” oder “häßliche” Kunst, noch gibt es “hübsche” oder “häßliche” Frauen usw. usw.
Das alles ist völlig unwissenschaftlich und reines Gespinst, das uns von einer Horde von Sprachnörglern, Moralaposteln, Kunstkritikern, Schürzenjägern usw. vorgegaukelt wird.
Das mag sein, aber jeder Benutzer der Sprache hat seine eigene Idee davon, was schönes, gutes und richtiges Deutsch ist. Und wenn zu dieser Idee gehört, dass Wortwiederholung unschön ist, dann kann das erklären, warum in Fällen wie oben welches an Stelle von das verwendet wird.
Es muss aber schon ziemlich formell sein.
(Wie in den schweizerischen existiert welch- nicht als Relativpronomen in den bairisch-österreichischen Dialekten; stattdessen wird der/die/das, der/die/das was, oder was verwendet – alle drei Formen sind mir übrigens aus Linz geläufig; ich verwende nur die erste. Die letzte ist unveränderlich wie das alemannische wo.)
Ich würde statt dem ersten der eher der Mann (oder sonst etwas mit einem Nomen) oder derjenige schreiben (wenn auch meistens nicht sagen), aber der Rest ist für mich einwandfrei.
Oder sogar jener, aber das wird schon richtig literarisch. Interessanterweise gefällt mir jener, der mindestens so gut wie jener, welcher… oder bin ich nur zu müde…
Ich lese “welche/r/s” in letzter Zeit sehr häufig in Schreiben aus der IT-Branche. Und zwar an Stellen, an denen es mir wirklich äußerst eigenartig vorkommt. Beispiel:
Geben Sie das Passwort ein, welches Ihnen zugeteilt wurde
Die Erklärung, die ich mir dafür zurechtgelegt habe, lautet: ITler lesen sehr viele Texte auf Englisch. In englischen Texten kommt das Wort “which” sehr häufig vor. Wenn jetzt englische Texte für deutsche Kunden übersetzt werden, geschieht das oftmals nicht durch Übersetzer sondern durch sprachlich ungeschulte Mitarbeiter der IT-Firma. Und Hobbyübersetzer neigen eher als Berufsübersetzer dazu, Wort für Wort in die andere Sprache zu übertragen.
Mir fällt seit langem immer wieder auf, dass “welches” als Relativpronomen in/auf (?) Wikipedia für mein Empfinden inflationär benutzt wird. Mir drängt sich dabei der Eindruck auf, dass — um Janwos Formulierung zu übernehmen — die “Schreiber versuchen, besonders akademisch/formell zu klingen” — wobei der Versuch natürlich nach hinten losgeht… Das erinnert sehr an die Probleme der Englisch-Sprecher mit “whom”: “Whom is like some strange object — a Krummhorn, a unicycle, a wax cylinder recorder — found in grandpa’s attic: people don’t want to throw it out, but neither do they know what to do with it. So they keep it around, sticking an m on the end of who every now and then when it seems like an important occasion. Columbus Day, for example, or when trying to impress a grammarian or a maitre d’hotel (whom will be our waiter tonight?).”
http://158.130.17.5/~myl/languagelog/archives/001437.html
http://itre.cis.upenn.edu/~myl/languagelog/archives/005054.html