Lämmer, Kälber, Hühner: Der Plural auf ‑er

Von Kristin Kopf

Ich ver­spreche, dass es hier auch mal wieder The­men geben wird, bei denen es nicht um Sub­stan­tivflex­ion geht. Wirk­lich! Aber heute will ich Euch erzählen, woher unsere Plu­ral­en­dung -er kommt – die hat­te näm­lich mal eine ganz andere Funktion.

Im Indoger­man­is­chen, also der Ursprache, auf die das Deutsche zurück­ge­führt wer­den kann, hat­ten Sub­stan­tive einen ganz eige­nen Auf­bau. Sie bestanden aus drei Teilen:

  • der Wurzel, die die eigentliche Bedeu­tung trug
  • dem stamm­bilden­den Suf­fix und
  • der Kasus-Numerus-Endung (bei­de Infor­ma­tio­nen steck­ten in ein­er gemein­samen Endung).

Hier ein Beispiel für den Gen­i­tiv Plur­al von Lamm aus dem West­ger­man­is­chen (also einige Zeit später) an dem man das ganz gut sehen kann:

Das stamm­bildende Suf­fix (hier orange) zeigt die Flex­ion­sklasse an, d.h. es bes­timmt darüber, wie das Sub­stan­tiv dek­lin­iert wird.

Nun begab es sich aber, dass der Nom­i­na­tiv und der Akkusativ Sin­gu­lar im Ger­man­is­chen keine Endung für Kasus/Numerus hat­ten. Das ganze Par­a­dig­ma sah also so aus:

Sg. Pl.
Nom. lamb-iz-(NIX) lamb-iz
Gen. lamb-iz-aza lamb-iz-om
Dat. lamb-iz-ai lamb-iz-omoz
Akk. lamb-iz-(NIX) lamb-iz

Die Flex­ion­sendun­gen “schützten” aber das stamm­bildende Ele­ment – als es nun so nackt und alleine am Wor­tende stand, wurde es ratz­fatz eliminiert:

Sg. Pl.
Nom. lamb-(NIX) lemb-ir
Gen. lemb-ir-es lemb-ir-o
Dat. lemb-ir-e lemb-ir-um
Akk. lamb-(NIX) lemb-ir

Diese neuen For­men hat­ten das Ele­ment also im Plur­al immer (denn Nom­i­na­tiv und Akkusativ Plur­al mussten zwar ihren “Schutz” abgeben, durften aber das Ele­ment behal­ten), aber im Sin­gu­lar nur noch im Gen­i­tiv und im Dativ. Und jet­zt kommt das Faszinierende:

Weil das ir im Sin­gu­lar nicht mehr über­all auf­tauchte, schmiss man es dort gle­ich kom­plett raus. (Natür­lich unbe­wusst, wie das bei Sprach­wan­del fast immer ist.) Das nen­nt man “anal­o­gis­chen Aus­gle­ich”: die For­men des Sin­gu­lars wer­den einan­der ähn­lich­er gemacht.

Sg. Pl.
Nom. lamb lamb-ir
Gen. lamb-es lamb-ir-o
Dat. lamb‑e lamb-ir-um
Akk. lamb lamb-ir

Und weil es nur noch in den Plu­ral­for­men stand, hielt man es tat­säch­lich für den Pluralanzeiger:
For­t­an wurde das ir als Plu­ral­suf­fix behan­delt, während die ursprüngliche Kasus/Nu­merus-Endung nun nur noch Kasus anzeigte. (Das nen­nt man “Reanalyse”.)

Der Rest ist rein­er Laut­wan­del, ir wurde im Mit­tel­hochdeutschen durch Neben­sil­ben­ab­schwächung zu er, und so haben wir es auch heute noch:

Dieses Plur­al-er wurde dann ziem­lich potent. Ursprünglich galt es ja nur für die Wörter aus sein­er alten Dek­li­na­tion­sklasse, und das waren grade mal zehn Stück. (Übri­gens meis­tens land­wirtschaftliche Beze­ich­nun­gen, auch ein paar Jungtiere, weshalb die Klasse auch manch­mal “Hüh­n­er­hofk­lasse” genan­nt wird.)

Mit der Zeit wan­derten aber Sub­stan­tive aus anderen Klassen zum er-Plur­al ab, sodass er heute unge­fähr hun­dert Mit­glieder hat. Aber dazu vielle­icht ein andermal.

___________________

Eini­gen von Euch ist vielle­icht aufge­fall­en, dass sich die benutzten For­men in ver­schiede­nen Laut­en unter­schei­den – die Gründe:

  • -iz- > -ir-: West­ger­man­is­ch­er Rho­tazis­mus. (Aus stimmhaften s, hier als <z> geschrieben, wird r, wenn es in ein­er unbe­ton­ten Silbe inner­halb des Wortes steht.)
  • lambiro > lembiro: Primärum­laut. (wg. a > ahd. e vor i oder j)
  • lembere > mmer: Assim­i­la­tion von mb > mm, vgl. auch dumb > dumm, zim­ber > zim­mer, …
  • lembere > Lämmer: Das ist nur ein Unter­schied in der Schrei­bung, über den ich übri­gens schon seit langem mal was schreiben will.

5 Gedanken zu „Lämmer, Kälber, Hühner: Der Plural auf ‑er

  1. memo

    Hmm, jet­zt stellt sich natür­lich die Frage, woher das stamm­bildende Suf­fix kommt. Das ist ja was noch abstrak­teres als Plur­al. Ich gehe mal nicht davon aus, dass sich die Indoger­ma­nen irgend­wann gedacht haben, dass es doch hüb­sch wäre, ihre Sub­stan­tive in Klassen aufzuteilen, also muss das Suf­fix aus irgend­was gram­matikalisiert wor­den sein.
    War das vielle­icht mal eine Art Klas­si­fika­tor? Naja, für das Indoger­man­is­che wird man das wohl nicht sagen kön­nen, aber vielle­icht weißt Du (oder jemand anderes) ja zufäl­lig was über die Genese von stamm­bilden­den Suf­fix­en in anderen Sprachen.

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    1. Kristin Beitragsautor

      Generell sind Klas­si­fika­toren wohl ein guter Ansatz, da gibt’s einen Auf­satz von Grinevald 2002 zu (“Mak­ing sense of nom­i­nal clas­si­fi­ca­tion sys­tems. Noun clas­si­fiers and the gram­mat­i­cal­iza­tion variable”).
      Bei der er-Klasse z.B. ist die Seman­tik ja auch im Althochdeutschen noch recht gut greifbar.

      Bei Klassen wie der germ. nt-Klasse ist der Ursprung ziem­lich trans­par­ent: Das waren mal Partizipien.

      Es gibt dazu auch ein paar Seit­en in einem sehr empfehlenswerten Auf­satz von Frau N.: Damaris Nübling: “Was tun mit Flex­ion­sklassen? Dek­li­na­tion­sklassen und ihr Wan­del im Deutschen und seinen Dialek­ten” (ZDL 3 2008).

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  2. rb

    Im Lateinis­chen und Altkirchenslavis­chen gibt es ja eine ähn­liche Formenbildung:
    lat.: cor­pus — cor­po­ra; genus — genera
    aks: kolo — kole­sa (Rad)
    Also auch mit Vokalwech­sel vor ‑s (lam­biz oder lambaz?)
    Das kön­nte doch zusammenhängen.

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  3. Pingback: Was ist eigentlich ein Umlaut und wo kommt er her? – [di.t͡svi.bl̩]

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