Ich verspreche, dass es hier auch mal wieder Themen geben wird, bei denen es nicht um Substantivflexion geht. Wirklich! Aber heute will ich Euch erzählen, woher unsere Pluralendung -er kommt – die hatte nämlich mal eine ganz andere Funktion.
Im Indogermanischen, also der Ursprache, auf die das Deutsche zurückgeführt werden kann, hatten Substantive einen ganz eigenen Aufbau. Sie bestanden aus drei Teilen:
- der Wurzel, die die eigentliche Bedeutung trug
- dem stammbildenden Suffix und
- der Kasus-Numerus-Endung (beide Informationen steckten in einer gemeinsamen Endung).
Hier ein Beispiel für den Genitiv Plural von Lamm aus dem Westgermanischen (also einige Zeit später) an dem man das ganz gut sehen kann:
Das stammbildende Suffix (hier orange) zeigt die Flexionsklasse an, d.h. es bestimmt darüber, wie das Substantiv dekliniert wird.
Nun begab es sich aber, dass der Nominativ und der Akkusativ Singular im Germanischen keine Endung für Kasus/Numerus hatten. Das ganze Paradigma sah also so aus:
Sg. | Pl. | ||
Nom. | lamb-iz-(NIX) | lamb-iz-ô | |
Gen. | lamb-iz-aza | lamb-iz-om | |
Dat. | lamb-iz-ai | lamb-iz-omoz | |
Akk. | lamb-iz-(NIX) | lamb-iz-ô |
Die Flexionsendungen “schützten” aber das stammbildende Element – als es nun so nackt und alleine am Wortende stand, wurde es ratzfatz eliminiert:
Sg. | Pl. | ||
Nom. | lamb-(NIX) | lemb-ir | |
Gen. | lemb-ir-es | lemb-ir-o | |
Dat. | lemb-ir-e | lemb-ir-um | |
Akk. | lamb-(NIX) | lemb-ir |
Diese neuen Formen hatten das Element also im Plural immer (denn Nominativ und Akkusativ Plural mussten zwar ihren “Schutz” abgeben, durften aber das Element behalten), aber im Singular nur noch im Genitiv und im Dativ. Und jetzt kommt das Faszinierende:
Weil das ir im Singular nicht mehr überall auftauchte, schmiss man es dort gleich komplett raus. (Natürlich unbewusst, wie das bei Sprachwandel fast immer ist.) Das nennt man “analogischen Ausgleich”: die Formen des Singulars werden einander ähnlicher gemacht.
Sg. | Pl. | ||
Nom. | lamb | lamb-ir | |
Gen. | lamb-es | lamb-ir-o | |
Dat. | lamb‑e | lamb-ir-um | |
Akk. | lamb | lamb-ir |
Und weil es nur noch in den Pluralformen stand, hielt man es tatsächlich für den Pluralanzeiger:
Fortan wurde das ir als Pluralsuffix behandelt, während die ursprüngliche Kasus/Numerus-Endung nun nur noch Kasus anzeigte. (Das nennt man “Reanalyse”.)
Der Rest ist reiner Lautwandel, ir wurde im Mittelhochdeutschen durch Nebensilbenabschwächung zu er, und so haben wir es auch heute noch:
Dieses Plural-er wurde dann ziemlich potent. Ursprünglich galt es ja nur für die Wörter aus seiner alten Deklinationsklasse, und das waren grade mal zehn Stück. (Übrigens meistens landwirtschaftliche Bezeichnungen, auch ein paar Jungtiere, weshalb die Klasse auch manchmal “Hühnerhofklasse” genannt wird.)
Mit der Zeit wanderten aber Substantive aus anderen Klassen zum er-Plural ab, sodass er heute ungefähr hundert Mitglieder hat. Aber dazu vielleicht ein andermal.
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Einigen von Euch ist vielleicht aufgefallen, dass sich die benutzten Formen in verschiedenen Lauten unterscheiden – die Gründe:
- -iz- > -ir-: Westgermanischer Rhotazismus. (Aus stimmhaften s, hier als <z> geschrieben, wird r, wenn es in einer unbetonten Silbe innerhalb des Wortes steht.)
- lambiro > lembiro: Primärumlaut. (wg. a > ahd. e vor i oder j)
- lembere > Lämmer: Assimilation von mb > mm, vgl. auch dumb > dumm, zimber > zimmer, …
- lembere > Lämmer: Das ist nur ein Unterschied in der Schreibung, über den ich übrigens schon seit langem mal was schreiben will.
Hmm, jetzt stellt sich natürlich die Frage, woher das stammbildende Suffix kommt. Das ist ja was noch abstrakteres als Plural. Ich gehe mal nicht davon aus, dass sich die Indogermanen irgendwann gedacht haben, dass es doch hübsch wäre, ihre Substantive in Klassen aufzuteilen, also muss das Suffix aus irgendwas grammatikalisiert worden sein.
War das vielleicht mal eine Art Klassifikator? Naja, für das Indogermanische wird man das wohl nicht sagen können, aber vielleicht weißt Du (oder jemand anderes) ja zufällig was über die Genese von stammbildenden Suffixen in anderen Sprachen.
Generell sind Klassifikatoren wohl ein guter Ansatz, da gibt’s einen Aufsatz von Grinevald 2002 zu (“Making sense of nominal classification systems. Noun classifiers and the grammaticalization variable”).
Bei der er-Klasse z.B. ist die Semantik ja auch im Althochdeutschen noch recht gut greifbar.
Bei Klassen wie der germ. nt-Klasse ist der Ursprung ziemlich transparent: Das waren mal Partizipien.
Es gibt dazu auch ein paar Seiten in einem sehr empfehlenswerten Aufsatz von Frau N.: Damaris Nübling: “Was tun mit Flexionsklassen? Deklinationsklassen und ihr Wandel im Deutschen und seinen Dialekten” (ZDL 3 2008).
Im Lateinischen und Altkirchenslavischen gibt es ja eine ähnliche Formenbildung:
lat.: corpus — corpora; genus — genera
aks: kolo — kolesa (Rad)
Also auch mit Vokalwechsel vor ‑s (lambiz oder lambaz?)
Das könnte doch zusammenhängen.
uiiiii! so schön erklärt! So macht lernen Spaß!
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