Twitter in den Zeiten der Lautverschiebung

Von Anatol Stefanowitsch

Im Zuge unser­er Suche nach dem schön­sten Fremd­wort des Jahres 2009 ist eine Frage um die laut­liche Form eines Wortvorschlags, twit­tern, aufge­taucht.

Sprach­blogstammkom­men­ta­tor Gareth, der das Wort nominiert hat, sagt in sein­er Begrün­dung zu seinem Vorschlag:

Es klingt gut, obwohl die Laut­folge /tv/ im Deutschen son­st nicht vorkommt, und lässt sich schön ins Par­a­dig­ma ein­fü­gen (twit­terte, getwit­tert usw.) — kurzum: eine pri­ma Ergänzung! [Gareth]

Sprachblogleser/in Umphad­umpha widerspricht:

Ich habe wenig Ahnung von nord­deutschen Dialek­ten und kenne das Wort nur durch geschriebene Texte, aber die Laut­folge in „Twete“ (= ein kleines Gäss­chen, schmaler Durch­gang) erscheint mir ähn­lich. [Umphad­umpha]

Bei­de haben Recht. Im Hochdeutschen ist die Laut­folge /tv/ am Wor­tan­fang (oder genauer: inner­halb ein­er Silbe) nicht erlaubt. Sie kommt auss­chließlich in englis­chen Lehn­wörtern vor, wie etwa Tweed, Twen, Twill, Twist und eben twit­tern. Im Niederdeutschen die Laut­folge dage­gen völ­lig nor­mal. Twi­ete (ver­mut­lich vom alt­dänis­chen tvede) ist nur eins von vie­len Wörtern, die das zeigen, weit­er Beispiele sind folgende:

  1. Twang („Zwang“)
  2. twee („zwei“)
  3. Twiefel („Zweifel“)
  4. Twieg („Zweig“)
  5. Twirn („Zwirn“)
  6. twintig („zwanzig“)
  7. twuschen, twüschen, twischen („zwis­chen“)
  8. twölf („zwölf“)

Wenn man sich diese Wörter ansieht, wird schnell klar, dass wir es hier mit einem sys­tem­a­tis­chen Unter­schied zu tun haben: Wenn das Niederdeutsche und das Hochdeutsche ver­wandte Wörter haben und im Niederdeutschen /tv/ (schriftlich ‹tw›) auftritt, ste­ht im Hochdeutschen /tsv/ (schriftlich ‹zw›).

Der Grund dafür ist, dass das Niederdeutsche die soge­nan­nte Zweite Lautver­schiebung nicht mit­gemacht hat, mit der sich das Hochdeutsche laut­lich von allen anderen ger­man­is­chen Sprachen abge­set­zt hat. Im Zuge dieser Lautver­schiebung wurde aus dem /t/ ein /ts/, nicht nur vor einem /v/ son­dern ganz allgemein:

  • Tehn, Tähn, Tann („Zahn“)
  • Tied („Zeit“)
  • Toll („Zoll“)
  • Tung, Tuung („Zunge“)
  • Tuun („Zaun“)

In der niederdeutschen Wikipedia kann man sich deshalb heute noch eine tofäl­lige Siet anzeigen lassen, oder nach­se­hen, was tolet­zt ännert wor­den ist.

Die Wörter, die heute im Hochdeutschen mit einem /t/ begin­nen, began­nen vor der Lautver­schiebung (und begin­nen im Niederdeutschen bis heute) übri­gens mit /d/, z.B. dag/Tag.

Mit Wörtern wie twit­tern bekommt das Hochdeutsche also eine Laut­folge wieder, die es vor über tausend Jahren ver­loren hat — eine echte Bereicherung.

Würde man das Wort nachträglich der Lautver­schiebung unterziehen, käme dabei natür­lich zwitsch­ern her­aus. Im Niederdeutschen hieße twit­tern dann schilpen.

20 Gedanken zu „Twitter in den Zeiten der Lautverschiebung

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  2. Tim

    Ich möchte bei dieser Gele­gen­heit auf TwixT hin­weisen, ein hochin­ter­es­santes abstrak­tes Strate­giespiel. Deutsche Spiel­er gehörten lange Zeit zu den besten über­haupt. Ich weiß allerd­ings nicht, ob das an der Lautver­schiebung liegt. 🙂

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  3. Bernhard

    Nun­ja, Mhd. kan­nte noch den twërc und twërch, dwërch, quërch (=> quer, Zwerchfell); das waren näm­lich wohl ger­man­is­che /d/ oder /þ/ (vgl. engl. dwarf, nl. dwaars), nicht /t/ (im Gegen­satz zu zît), und insofern hat da eine Laut­nachver­schiebung stattgefunden. 

    (Natür­lich gab es auch mhd. schon zw-Wörter: zwei zwum Beispiel. Aber war nicht alles /t/, was zischt.)

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  4. anglistin

    Da möchte ich jet­zt aber schon ein­mal fra­gen, ob die hier schreiben­den “twit­ter” tat­säch­lich mit /tv/ aussprechen. Ich habe bish­er nur Leute /tw/ sagen hören, aber das kann an meinem ein­seit­i­gen Umgang liegen. In diesem Fall hätte Gareth aber wieder recht, denn das kann es im Deutschen nicht geben…

    Und ich frage mich auch, weshalb dem Deutschen das Gegen­stück zu “tweet” abhan­den gekom­men ist (oder gab es das nie, weil es wesentlich später ent­standen ist…). Wir haben zwar das Gezwitsch­er, aber nichts mehr für den einzel­nen “Zwi­etsch”…

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  5. Anatol Stefanowitsch

    Anglistin (#4), twit­tern spreche ich auf jeden Fall immer [tvıtɐn] aus, bei dem Eigennna­men Twit­ter vari­iere ich meinem Empfind­en nach zwis­chen [tvıtɐ] und [twıtɐ]. Bei Google war das am Anfang auch so: das Verb habe ich [ɡuɡln] aus­ge­sprochen (mit deutschem, nicht velar­isiertem [l]), den Eigen­na­men [ɡuɡɫ] mit dem velar­isierten („dun­klen“) [ɫ]. Inzwis­chen ist das aber ganz ver­schwun­den und ich sage nur noch [ɡuɡl].

    Für den Tweet set­zt sich auf Twit­ter möglicher­weise, angestoßen durch den let­zten Satz meines Beitrags oben, das Wort Schilp durch. Das kön­nte dann im näch­sten Jahr das Schön­ste Fremd­wort 2010 werden…

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  6. ramses101

    @anglistin: Auf Twit­ter selb­st hab ich es noch nicht erlebt, dass die beste­hen­den Begriffe eingedeutscht wur­den. Ich fol­lowe jeman­dem (obwohl ich per­sön­lich eher dazu tnediert hätte, es “abon­nieren” zu nen­nen, wie aufidenti.ca), rede von mein­er time­line, von der @-reply und vom fol­low­er friday 

    Allerd­ings gibt es jede Menge Neuschöp­fun­gen, wobei das wahrschein­lich das falsche Wort ist, die auf Twit­ter gemünzt sind. Twit­er­atur für “lit­er­arische” Tweets, Twiloso­phie für “tief­gründi­ge” Tweets etc. Oder auch Namensge­bun­gen wie “Twittwoch”, ein regelmäßiges Twit­tertr­e­f­fen an einem bes­timmten Mittwoch. Diese Ableitun­gen sind eigentlich immer “deutsch”.

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  7. Gareth

    Da möchte ich jet­zt aber schon ein­mal fra­gen, ob die hier schreiben­den “twit­ter” tat­säch­lich mit /tv/ aussprechen.

    Im Deutschen ja. Das o.g. Beispiel mit google trifft auf mich auch zu. Gle­ich­es gilt z.B. auch für andere Eigen­na­men. Win­dows und Word spreche ich mit nicht mit /w/ am Anfang, bei Face­book ist die Vokalqual­ität anders, Excel betone ich auch auf der ersten Silbe… Wohl gemerkt alles nur wenn ich Deutsch spreche.

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  9. Carsten aus Hannover

    Die Wiedere­in­führung ein­er, vor über tausend Jahren ver­loren gegan­genen, Vokalkom­bi­na­tion müsste doch ein tolles Argu­ment sein, sprachkon­ser­v­a­tiv­en Nör­glern das Wort “twit­tern” nahezubrin­gen. Das liegt zumin­d­est schon­mal eine Argu­men­ta­tion bere­it, falls die Aktion­is­ten mal eine Alter­na­tive dazu suchen. Wobei sie dazu ja wis­sen müssten was twit­tern ist und es noch inge­samt als wertvoll genug eracht­en eine Beze­ich­nung zu bekom­men. Da habe ich so meine leisen Twiefel..

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  10. Gareth

    Übri­gens, die nieder­ländis­che Sprachge­mein­schaft war schneller: 

    http://www.demorgen.be/dm/nl/991/Multimedia/article/detail/1032350/2009/11/22/Twitteren-woord-van-het-jaar.dhtml

    De leden van het genootschap Onze Taal kozen tij­dens een con­gres in Utrecht het woord ‘twit­teren’ tot woord van het jaar 2009. […] De 1.320 aan­wezige taal­liefheb­bers in Utrecht kon­den kiezen uit woor­den als kopvod­den­tax, vac­ci­natieangst, koninginnedag­dra­ma en vuvuzela (Zuid-Afrikaanse toeter gebruikt bij voet­bal­wed­stri­j­den). Twit­teren kreeg ongeveer 30 pro­cent van de stemmen.

    Über­set­zung: Die Mit­glieder der Gesellschaft “Onze Taal” wählten auf einem Kongress in Utrecht das Wort “twit­teren” zum Wort des Jahres 2009. […] Die 1.320 anwe­senden Sprach­lieb­haber in Utrecht kon­nten aus solch Wörtern aus­suchen wie “kopvod­den­tax” (Kopf­tuch­s­teuer), “vac­ci­natieangst” (Imp­fangst), “kon­nig­innedag­dra­ma” (König­in­nen­tag­dra­ma) und “vuvuzela” (bei Fußball­spie­len gebraucht­es südafrikanis­ches Sig­nal­horn). “Twit­teren” bekam unge­fähr 30 Prozent der Stimmen.

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  11. Bernhard

    @carsten: Wie gesagt, die tausend Jahre sind stark über­trieben – fünfhun­dert Jahre wäre wohl real­is­tis­ch­er, wie mhd. twerc, twin­gen etc. zeigen, die wohl erst früh­neuhochdeutsch allmäh­lich ver­schwinden (laut Reichmann/Wegera kommt die Ten­denz tw > zw im 16. Jh. übers Schwäbis­che hin­aus). (Außer­dem sind’s Kon­so­nan­ten, nicht Vokale, aber wir sind ja nicht kleinlich.) 

    Da das “z” aber kon­sti­tu­tiv fürs Deutsche ist, sodass wir also wieder ein­mal englis­che Lautkom­bi­na­tio­nen importieren (ins­beson­dere, wenn wir das “w” im twit­tern nicht als Frika­tiv sprechen), obwohl wir ein­fach elek­tro­n­isch zwitsch­ern kön­nten, dürfte die Begeis­terung über die retro­phonetis­che Inno­va­tion auch dämpfen.

    Aber vielle­icht soll­ten wir ein­fach alle einen zwitsch­ern auf die Inte­gra­tions­fähigkeit der deutschen Phonotaktik?

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  12. brotwart

    … kleine Kor­rek­tur am Rande: Hochdeutsches /tsv/ ist im Niederdeutschen nicht immer, son­dern nur meis­tens /tv/, manch­mal aber auch /dv/. Deswe­gen ist Zwang (jeden­falls in allen mir bekan­nten Dialek­ten) nicht Twang, son­dern Dwang (und zwin­gen natür­lich dwin­gen), ein Zwerg ist auf Niederdeutsch ein Dwarg und so weiter.

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  13. Lothar Lemnitzer

    @stefanowitsch Schilpen ist aber kein “Fremd­wort” (wahrscheilich auch nicht im näch­sten Jahr), son­dern ein durch Rück­bil­dung entstehendes/entstandenes Sub­stan­tiv mit der Bais schilpen. Mein Tipp ist, dass das aus dem Niederdeutschen stammt, aber “der Grimm” schweigt sich hier aus.

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  14. Nörgler

    Twit­tern ist ein Fremd­wort, das sich recht gut in die deutsche Sprache ein­fügt. Es hätte das Zeug, ein echt­es Lehn­wort zu wer­den, wenn das heutzu­tage über­haupt noch möglich wäre.

    Ander­er­seits fände ich es eigentlich schade, wenn sich dieses Wort durch­set­zte, denn im Deutschen geht das Bild­hafte dieses englis­chen Aus­drucks doch verloren.

    Dabei läge eine Lehnüber­set­zung sehr nahe: zwitsch­ern für to twit­ter und pieps für tweet.

    Zwitsch­ern bewahrt nicht nur die Meta­pher des englis­chen Aus­drucks, son­dern kennze­ich­net die mit twit­tern benan­nte Tätigkeit auch noch sehr treffend.

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  15. Achim

    @ Nör­gler: Gegen die Ver­wen­dung von zwitsch­ern an Stelle von twit­tern spricht die zusät­zliche Bedeu­tungskom­po­nente. Was die Aussprache ange­ht, schließe ich mich Gareth (#7) an. Ich sag’s allerd­ings nicht oft, weil ich nur sel­ten twit­tere. Kann meine Zeit lustiger verschwenden 😉

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  16. Dierk

    Außer­dem geht das Verb twit­tern auf ein Haupt­wort zurück, das Marken­name ist; der Ser­vice heißt nun mal Twit­ter und nicht Zwitsch­er oder Pieper. Wenn jemand ein Papier­taschen­tuch will, fragt er ja auch nach einem Tem­po [nicht ‘Geschwindigkeit’ oder ‘Zeit’] oder soft­ie [sic!]. Wobei Tem­po sich auch noch längst zum gener­ischen Begriff für Papier­taschen­tuch entwick­elt hat, was beson­ders die Konkur­renz bedauert.

    Solange ein Wort prob­lem­los adap­tier­bar ist — für Twit­ter ist das ja nun mehrfach fest­ge­hatlen wor­den -, also sowohl mor­phol­o­gisch wie phonetisch keine ungeschick­ten Ver­renkun­gen ver­langt, wo ist das Prob­lem. Schon gar, wo to twit und twit­ter wahrschein­lich aus dem Deutschen/Gotischen stammen.

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  17. Nörgler

    @Achim (#17):

    Weche Bedeu­tungskom­po­nente meinen sie, und warum spricht diese gegen die Ver­wen­dung von zwitsch­ern?

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  18. David Marjanović

    Im Hochdeutschen ist die Laut­folge /tv/ am Wor­tan­fang (oder genauer: inner­halb ein­er Silbe) nicht erlaubt. Sie kommt auss­chließlich in englis­chen Lehn­wörtern vor, wie etwa Tweed, Twen, Twill, Twist und eben twit­tern.

    Die spreche ich alle­samt mit [w] aus, und der Rest zumin­d­est mein­er Gen­er­a­tion auch. [tv] ist fast schwieriger!

    Außer Twen. Das spreche ich über­haupt nicht aus, weil es um mich herum nie­mand sagt. Übri­gens ist im Englis­chen mit­tler­weile tween aufgekommen.

    Und Twill – das kenne ich nicht ein­mal geschrieben.

    Bei Win­dows und Word sage ich auch [w]. Erst bei der Wikipedia wird [v] häu­figer (was sich lustiger­weise direkt aus dem Hawai­ian­is­chen recht­fer­ti­gen ließe).

    Wobei Tem­po sich auch noch längst zum gener­ischen Begriff für Papier­taschen­tuch entwick­elt hat

    In Deutsch­land.

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