Die typische Form, den Wandel der Sprache wahrzunehmen, scheint darin zu bestehen, ihn als Verfall zu erleben. Ist es nicht merkwürdig, daß unterscheidliche Verfallstheoretiker seit mehr als 2000 Jahren immer wieder den zunehmenden Verfall ihrer jeweiligen Muttersprache beklagen, ohne je ein Beispiel für eine tatsächliche verfalllene Sprache vorweisen können? Es scheint auch niemanden zu geben, der bereit wäre, den Verfall seiner e i g e n e n individuellen Sprache zu bedauern: “Ach, was schreibe ich für ein verkommenes Deutsch im Vergleich zu meinen Großeltern!” Sprachverfall ist immer Verfall der Sprache der anderen. Das sollte stutzig machen.
Rudi Keller. 2003. Sprachwandel. Tübingen: UTB. S. 23
Sprache dient menschlicher Kommunikation. Das scheint auf den ersten Blick trivial, ist aber ungleich wichtiger, wenn es um die Sprachverfallsdebatten geht. Jeder Sprachpfleger, der ja den Verfall unserer Sprache heraufbeschwören will, brächte sich in höchste Erklärungsnot, wenn er mit der Sprache Walther von der Vogelweides, um’s mal auf die Spitze zu treiben, in die nächste Kneipe zöge.
Gut, mögen jetzt einige sagen, was ist dann mit Irish, einer gestorbenen Sprache? Aber da haben wir es ja schon. Gestorben. Nicht verfallen. Gestorben durch language shift, also durch den Wechsel einer ganzen Sprachgemeinschaft von Irish zu Englisch. Aus den unterschiedlichsten Motiven übrigens: erstens war von der Großen Hungersnot hauptsächlich die arme, irischsprechende Bevölkerung betroffen. Man könnte überspitzt sagen, dass die Sprache mit ihren Sprechern starb. Zweitens war Englisch — aus welchen verurteilungswürdigen Grunden auch immer — die Sprache des sozialen Aufstiegs, die Auswanderer nach Amerika lernten Englisch und auch in Irland haben selbst führende Nationalisten zum Lernen der englischen Sprache aufgerufen, des wirtschaftlichen Fortschritts wegen.
Nun ist auch Irisch nicht wirklich tot. Und auch für das Irisch wird ein “Verfall” beklagt, der sich — unter dem Einfluss des Englischen (Irisch ist für eine überwältigende Mehrheit in Irland Zweit‑, wenn nicht sogar Fremd(!)sprache) — besonders im starken Rückgang grammatischer Komplexität zeigt. Aber dies ist objektiv betrachtet auch ein Fall von Anpassung an kommunikative Anforderungen einer Sprache: wenn eine Mehrheit der Irischsprecher die komplexen grammatischen Strukturen des Late Modern Irish des 18. und 19. Jahrhunderts “ablehnt” und eine “modernere” Syntax herausbildet, die der Kommunikationsmaxime (“Rede so, dass du verstanden wirst”) Rechnung trägt, dann ist das vor allem modernen Kommunikationsanforderungen geschuldet. Dann ist das so, einfach gesagt.
Unser Deutsch ist ja auch nicht mehr das von Walther von der Vogelweide oder das von Goethe. Es ist vermutlich nicht mal mehr das von Konrad Adenauer. Wenn die Kommunikation mit einem Sprachnörgler also nicht funktioniert, dann liegt das an unterschiedlichen Auffassungen, aber mit Sicherheit nicht an unserer verfallenen Sprache.
So einfach ist das manchmal.
Mit Grauen erinnere ich an diese langweiligen Deutsch- und Philosophiestunden, in denen meine sprachbefreieten Mitschüler erstmal einen klassischen Text in für sie verständliches Deutsch übersetzen mussten. Nicht, dass sie dann mehr kapiert hätten, aber es war pure Verschwendung meiner Zeit.
Wie soll ich mich frei in einer fremden Sprache bewegen, wenn ich es nicht mal in meiner Muttersprache hinkriege.
Sprachverfall? Papperlapapp! Das ist so wahr wie: ” Früher war alles besser.”
Mit der Ansicht bist du aber schon sehr weit, also für einen “Laien”. Immerhin glauben mehr als zwei Drittel der Deutschen, dass die Sprache “verfalle”. Wo sinnvolle Sprachkritik ansetzen könnte, ist das Sprachgefühl der Kinder und Schüler zu trainieren, insbesondere unter Berücksichtigung sozial schwacher Schichten oder bilingual aufwachsender Kinder. Die Mär vom Migrantenkind, das keine seiner Sprachen richtig könne, wäre dann nämlich auch vom Tisch. Das ist ein soziales Problem, kein linguistisches.