Sprachverfall

Von Susanne Flach

Die typ­is­che Form, den Wan­del der Sprache wahrzunehmen, scheint darin zu beste­hen, ihn als Ver­fall zu erleben. Ist es nicht merk­würdig, daß unter­schei­dliche Ver­fall­s­the­o­retik­er seit mehr als 2000 Jahren immer wieder den zunehmenden Ver­fall ihrer jew­eili­gen Mut­ter­sprache bekla­gen, ohne je ein Beispiel für eine tat­säch­liche ver­fal­l­lene Sprache vor­weisen kön­nen? Es scheint auch nie­man­den zu geben, der bere­it wäre, den Ver­fall sein­er e i g e n e n indi­vidu­ellen Sprache zu bedauern: “Ach, was schreibe ich für ein verkommenes Deutsch im Ver­gle­ich zu meinen Großel­tern!” Sprachver­fall ist immer Ver­fall der Sprache der anderen. Das sollte stutzig machen.

Rudi Keller. 2003. Sprach­wan­del. Tübin­gen: UTB. S. 23

Sprache dient men­schlich­er Kom­mu­nika­tion. Das scheint auf den ersten Blick triv­ial, ist aber ungle­ich wichtiger, wenn es um die Sprachver­falls­de­bat­ten geht. Jed­er Sprach­pfleger, der ja den Ver­fall unser­er Sprache her­auf­beschwören will, brächte sich in höch­ste Erk­lärungsnot, wenn er mit der Sprache Walther von der Vogel­wei­des, um’s mal auf die Spitze zu treiben, in die näch­ste Kneipe zöge.

Gut, mögen jet­zt einige sagen, was ist dann mit Irish, ein­er gestor­be­nen Sprache? Aber da haben wir es ja schon. Gestor­ben. Nicht ver­fall­en. Gestor­ben durch lan­guage shift, also durch den Wech­sel ein­er ganzen Sprachge­mein­schaft von Irish zu Englisch. Aus den unter­schiedlich­sten Motiv­en übri­gens: erstens war von der Großen Hunger­snot haupt­säch­lich die arme, irischsprechende Bevölkerung betrof­fen. Man kön­nte über­spitzt sagen, dass die Sprache mit ihren Sprech­ern starb. Zweit­ens war Englisch — aus welchen verurteilungswürdi­gen Grun­den auch immer — die Sprache des sozialen Auf­stiegs, die Auswan­der­er nach Ameri­ka lern­ten Englisch und auch in Irland haben selb­st führende Nation­al­is­ten zum Ler­nen der englis­chen Sprache aufgerufen, des wirtschaftlichen Fortschritts wegen.

Nun ist auch Irisch nicht wirk­lich tot. Und auch für das Irisch wird ein “Ver­fall” beklagt, der sich — unter dem Ein­fluss des Englis­chen (Irisch ist für eine über­wälti­gende Mehrheit in Irland Zweit‑, wenn nicht sog­ar Fremd(!)sprache) — beson­ders im starken Rück­gang gram­ma­tis­ch­er Kom­plex­ität zeigt. Aber dies ist objek­tiv betra­chtet auch ein Fall von Anpas­sung an kom­mu­nika­tive Anforderun­gen ein­er Sprache: wenn eine Mehrheit der Irischsprech­er die kom­plex­en gram­ma­tis­chen Struk­turen des Late Mod­ern Irish des 18. und 19. Jahrhun­derts “ablehnt” und eine “mod­ernere” Syn­tax her­aus­bildet, die der Kom­mu­nika­tion­s­maxime (“Rede so, dass du ver­standen wirst”) Rech­nung trägt, dann ist das vor allem mod­er­nen Kom­mu­nika­tion­san­forderun­gen geschuldet. Dann ist das so, ein­fach gesagt.

Unser Deutsch ist ja auch nicht mehr das von Walther von der Vogel­wei­de oder das von Goethe. Es ist ver­mut­lich nicht mal mehr das von Kon­rad Ade­nauer. Wenn die Kom­mu­nika­tion mit einem Sprach­nör­gler also nicht funk­tion­iert, dann liegt das an unter­schiedlichen Auf­fas­sun­gen, aber mit Sicher­heit nicht an unser­er ver­fal­l­enen Sprache.

So ein­fach ist das manchmal.

2 Gedanken zu „Sprachverfall

  1. Max

    Mit Grauen erin­nere ich an diese lang­weili­gen Deutsch- und Philoso­phi­es­tun­den, in denen meine sprach­be­frei­eten Mitschüler erst­mal einen klas­sis­chen Text in für sie ver­ständlich­es Deutsch über­set­zen mussten. Nicht, dass sie dann mehr kapiert hät­ten, aber es war pure Ver­schwen­dung mein­er Zeit.
    Wie soll ich mich frei in ein­er frem­den Sprache bewe­gen, wenn ich es nicht mal in mein­er Mut­ter­sprache hinkriege.
    Sprachver­fall? Pap­per­la­papp! Das ist so wahr wie: ” Früher war alles besser.”

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    1. suz

      Mit der Ansicht bist du aber schon sehr weit, also für einen “Laien”. Immer­hin glauben mehr als zwei Drit­tel der Deutschen, dass die Sprache “ver­falle”. Wo sin­nvolle Sprachkri­tik anset­zen kön­nte, ist das Sprachge­fühl der Kinder und Schüler zu trainieren, ins­beson­dere unter Berück­sich­ti­gung sozial schwach­er Schicht­en oder bilin­gual aufwach­sender Kinder. Die Mär vom Migrantenkind, das keine sein­er Sprachen richtig könne, wäre dann näm­lich auch vom Tisch. Das ist ein soziales Prob­lem, kein linguistisches.

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