Ich empfehle — mal für Zwischendurch — das Forum des “Verein Deutsche Sprache e.V.” (Quizfrage: Was am Namen des Vereins widerspricht der normativen Grammatik, vor dessen Altar diese faktenresistenten Sprachnörgler rumrutschen?)
Oh weh; ich fürchte, ich mache hier für mich ein Fass auf, von dem ich gar nicht so viel fressen könnte, wie ich kotzen wollte. Widmen wir uns also einer Einstellung, die leider so ziemlich allem zu Grunde liegt, was die “vier alten Herren” (Zitat Bremer Sprachblog) des VDS so von sich geben.
Gewisse Sprachwissenschaftler hier und anderswo sollten sich über das Thema gutes und schlechtes, richtiges und falsches Deutsch besser enthalten, da es für sie erklärter Maßen diese Kategorien gar nicht gibt. (Nutzer “Wolfgang” im VDS-Forum zur Diskussion: “Bastian Sick Kompetenzen in Fragen der Sprache”)
[Haut mich, aber entweder wurde im Titel des Threads auf Flektierung verzichtet oder gängige Interpunktionskonventionen missachtet. Hm, und ob man sich “über ein Thema enthalten” kann?]
Okay, vermutlich muss ich ein wenig ausholen.Natürlich hat die deskriptive Sprachwissenschaft ein Problem mit den Kategorien “gut”, “schlecht”, “richtig” und “falsch”. Aus einem einfachen Grund: weil sie präskriptiv sind. Wir gucken, was wo wie und in welchen sozialen und/oder kommunikativen Kontexten realisiert wird. Anders gesagt (nach Threadstarter “elis”): die deskriptive Sprachwissenschaft beobachtet nicht ob etwas einer Regel (1) folgt, sondern welcher Regel (2) es folgt. Das Konzept der Regel (1) ist die Idee einer normativen, gegebenen Regel, während Regel (2) die Regelmäßigkeit eines Phänomens beobachtet und beschreibt. So ist für die deskriptive Linguistik ein “größer-wie”-Komparativ nicht falsch, sondern ein Aspekt u.a. der alemannischen Grammatik, der in anderen regionalen und sozialen Dialekten eben anders realisiert wird (“größer-als”).
Und natürlich wird auch ein deskriptiver Sprachwissenschaftler ganz schnell schizophren, denn keinen noch so wertfreien Dozenten an der Uni würde es ungerührt lassen, wenn ich in meiner Hausarbeit “Seller isch halt no b’scheuerter wie i[x]” schreiben würde. Aber hier, an der Uni zum Beispiel, befinden wir uns in einem anderen sozialen und kommunikativen Kontext, der eine andere Sprache oder einen anderen Sprachstil (engl. register) und einen anderen Ton erfordert, und der natürlich auch eine engere Toleranzgrenze hinsichtlich sprachlicher und orthographischer Normabweichungen hat. Einige Konventionen sind auch nicht gänzlich unwichtig: So ist es ein Unterschied, ob ich in einem Drohbrief schreibe Ich schlage Sie krankenhausreif oder Ich schlage sie krankenhausreif. So gesehen darf ich “Wolfgang” auch darauf hinweisen, dass “einiger Maßen” ein einigermaßen, äh naja [ZENSIERT].
Was mich an obigem Zitat massiv stört — und ja, ich fühle mich angesprochen und angegriffen — ist die Geisteshaltung, die es offenbart. Ein Sprachwissenschaftler darf sich nicht dazu äußern, wenn Sprachkritiker und Sprachnörgler schlicht sprachwissenschaftliche widerlegbare und widerlegte (!) Unwahrheiten verbreiten? Wenn ein Bastian Sick den “Unterschied zwischen Nebensatz und Nebensatzwortstellung nicht weiß” (Nutzer “elis” im selben Thread) und daraus seine Unwahrheiten über die “zunehmende” Verkorksung und “Abschaffung” des Nebensatzes ableitet — gemeint ist die sich ändernde Wortstellung im Nebensatz, abgeschafft wird da nix -, soll ein Sprachwissenschaftler die Klappe halten? Wenn ich behaupten würde, ‑2 minus 3 sei sei 1, soll der Mathematiker die Fresse halten, weil ich die Ergebnisse der Mathematikwissenschaft in Frage stelle?* Anders ausgedrückt, wenn ich die wirtschaftswissenschaftlich fundierte Aussage “Nachfrage und Angebot beeinflussen den Preis” völlig haltlos angreife, dann würde ich die Herren Wirtschaftswissenschafter (!) des VDS gern mal hüpfen sehen.
Beim VDS und besonders im verlinkten Beitrag kommt aber genau das zum Vorschein. Egal, was die wenigen linguistisch geschulten Forumsmitglieder an sprachwissenschaftlichen Belegen anführen — es ist alles “unwissenschaftlich” und “rein subjektiv”. Und wenn man beim VDS mit dem sprichwörtlichen Latein dann am Ende ist, werden sie polemisch und die Sprachwissenschaftler einfach disqualifiziert, indem die Sprachnörgler die Parameter ändern. Man definiert die Linguisten einfach als “draußen”.
Die Sprachwissenschaft ist sich mitnichten einig. Und jede wissenschaftliche Meinung darf (muss!) in Frage gestellt und widerlegt werden (können). Das ist ja das Schöne daran. Sprachkritikern sei auch eine Kritik des Sprachgebrauchs unbenommen. Einige der Stilblüten können zu Recht moniert werden. Ich gehöre oft auch dazu. Und der oft genannte Vorwurf, Linguisten würden Bastian Sick seinen kommerziellen Erfolg neiden, ist nicht der Grund. Soll er doch. Wenn die widerlegbare Sprachkritik eines Herrn Sick und besonders die Rechtfertigung seiner Anhänger aber dazu führt, dass sie mit faktenresistenter Anmaßung nahezu die gesamte Expertise und Wissenschaftlichkeit eines komplexen Forschungsgebiets in Frage stellt, dann werde ich sauer. Wir fröhnen ja auch nicht, wie die wenigsten Wissenschaften übrigens, einer Blafaselwissenschaft.
*Natürlich könnte man anmerken, dass dieser Vergleich zwischen einer Naturwissenschaft und einer Geisteswissenschaft hinkt. Ich habe ihn aber bewusst gewählt, um die Absurdität der Einstellung einer Art Beweislastumkehr in der Denkweise der Sprachkritiker zu verdeutlichen.
Darf ich penibel werden?
Verein Deutsche Sprache e.V., ist doppelt: Verein. Geht sprachlich schon mal gar nicht, oder ist es ein Doppelverein…manx weiß es ja nicht genau!
Naja, einerseits vermutlich ja, andererseits nein.
Ja, weil natürlich e.V. für eingetragener Verein (oder so) steht.
Nein, weil e.V. quasi eine Art nachgestellte rechtliche Zuordnung ist. Ein “feststehender” Begriff also. Ist aber nur so meine Vermutung.
Und dafür möchte ich den VDS ja gar nicht kritisieren. Immerhin erlaubt er zumindest — hoffentlich — eine Unterscheidung zur sprachwissenschaftlich fundierteren Institution “Institut für Deutsche Sprache” (Uni Mannheim).
Ich vermute Du (!) liegst richtig mit Deiner Vermutung. Trotzdem bekomme ich bei sinnlosen Verdoppelungen immer ein kaltes Grausen. Ich bin nun mal kein Sprachwissenschaftler, aber ich denke Sprache ist eine ziemlich dynamische Angelegenheit. Sie entwickelt sich ähnlich schnell, wie sich unsere Gesellschaft verändert. Dem sollte man Rechnung tragen, auch verwissenschaftlichte Besserwisser.
Klar stellt es eine gewissen Faulheit dar, wenn ich meinem Kumpel was nach USA tippe und “4u” benutze. Aber diese Kurzform hat sich nun mal verselbstständigt. Jeder versteht sie! Wünsche Dir ein prima WE!
Was meinst du mit “verwissenschaftliche Besserwisser”? (Wirklich, ernstgemeinte und wertfreie Frage, keine rhetorische 🙂 )
Mit deiner Vermutung, dass Sprache eine ziemlich dynamische Angelegenheit ist, hast du’s eigentlich schon genau erfasst.
Was du “sinnlose Verdopplung” nennst, ist dein persönliches Sprachgefühl und dein persönlicher Sprachekel (den ich übrigens in dieser Hinsicht teilweise teile!). Es hilft aber, solche Verdopplungen (und beispielsweise Anglizismen!) zu verstehen, wenn man sich klar wird, dass Sprache generell was gegen totale Synonymie hat; bei Wörtern, Ausdrücken etc, die aber einen — und sei er noch so marginal — Bedeutungs- und Funktionsunterschied erkennen lassen, ist Sprache dagegen offen wie ein Scheunentor. Ein schönes Beispiel ist Loser. Einige Anglizismenjäger wollen ihn durch Verlierer oder Versager ersetzen. Loser ist aber weder jemand, der einen Boxkampf verloren hat, noch jemand, der beispielsweise etwas vergeigt hat. Klar, nennt man eine solche Person auch schon Loser: im Fall des Boxkampfes schwingt dann aber eine wertende Beschreibung statt (“Dass der das nicht gewonnen, dieser Loser!”), und im Fall eines Verbockens kann auch eine Beurteilung/Reaktion im Sinne von “Das ist ein totaler Loser!” erfolgen, beispielsweise bezüglich seines Lebensziels oder ähnlichem. Wenn ich aber einem Freund von einem Bekannten erzähle “Das ist n Loser”, dann kann ich damit auch sagen, dass das ein weltfremder, seltsamer Zeitgenosse ist. Loser, Verlierer und Versager haben zwar u.U. den gleichen Referenten, beurteilen aber anders.
Das gleiche gilt für Funktionsunterschiede: 4u würdest du nie in einem formellen Kontext benutzen. Es hat also eine Beschränkung im Sprachregister. Und sollte sich 4u auch in formellen Kontexten durchsetzen (was denkbar wäre), dann ist das ein normaler Sprachwandelprozess. Immerhin “Ihrzen” wir ja auch nicht mehr unsere Eltern. Und ein ähnlicher Fall liegt wohl bei Verein und e.V. vor — sie entspringen zwar dem selben Ursprungskonzept, haben aber unterschiedliche Bedeutungen bzw. Funktionen.
Du siehst, partielle Synonymie öffnen Lehnwörter Tür und Tor. Und das ist auch gut so! Denn sie erlauben uns in gewissen Situationen Bedeutungsunterschiede zu machen. Sie bereichern unsere Sprache. Ob man halt das Ortsgespräch “CityCall” nennen muss, sei mal dahin gestellt (finde ich auch überflüssig). Man könnte auch — als wirklich völlig von Sprachekel befreiter Mensch sagen, dass CityCall das ist, wofür mich die Telekom zur Kasse bittet, und Ortsgespräch das eigentlich geführte Telefonat, mit all seinem emotionalen Gepäck (die Liebste anrufen, eine Kündigung ankündigen etc.).
Ich z.B. habe einen Ekel vor der Konstruktion erdrutschartiger Sieg. Rutsch bezeichnet gemeinhin eine Abwärtsbewegung. Korrigiere mich, aber ich hab noch keine Erde nach oben rutschen sehen.
Hm ja, und zum “Rechnung tragen”: genau das macht die Sprachwissenschaft. Sie hat als Grundannahme, dass “richtige” Sprache von kompentenzen Muttersprachlern gesprochen wird. Ein Fehler ist nur dann z.B. “ungrammatisch”, wenn nahezu die gesamte Sprachgemeinschaft einen solchen als Fehler identifiziert. Ein “Fehler” wird nicht regelmäßig und nach immer wiederkehrenden Mustern reproduziert. “Er” fällt also nicht auf: “Das Gabel ist grün” wird dir einmal rausrutschen, aber nicht systematisch.
Sprachpfleger (z.B. Bastian Sick, VDS u.a.) reiten aber auf Dingen rum, die “inflationär” benutzt werden. Das ist absurd: sie bezeichnen etwas als “Fehler”, was von einem Großteil der kompetenten Muttersprachler benutzt wird, und folglich kein Fehler mehr sein kann. Auf “Das Gabel ist grün” reitet Sick ja nicht rum.
Wird “das Gabel ist grün” allerdings zum geflügelten Wort, was auch Sick & Co. auf den Plan ruft, dann haben wir es mit einem “Zweifelsfall” zu tun. Immerhin entzweit die Frage, ob es das Nutella oder die Nutella heißt, regelmäßig ganze Familien und Stammtische.
Setzt sich “das Gabel ist grün” als “korrekt” (=im allgemeinen Alltagssprech) druch, kann es per definition kein Fehler mehr sein. Das haben Sprachnörgler aber nicht verstanden. Schon Sokrates ärgerte sich über Sprachverfall.
“verwissenschaftliche Besserwisser”: unser Bildungssystem produziert solche. Und es wird immer schlimmer. Fachidioten wäre ein anderer Ausdruck. Wie passt das alles? Man muss hochspezialisiert werden, gleichzeitig aber perfekt interdisziplinär arbeiten können. Bist Du erfolgreich wirst Du Dich aber fragen, ob Du nicht besser Buchführung und tippen gelernt hättest.
Die Borg wollen auch immer alles assimilieren. Mich erschreckt, wie erfolgreich die irdischen Borg sind.
Bastian Sick, VDS kannte ich vorher nicht. Aber für mich passen solche Menschen in mein beschriebenes Schema. Da ich Sprache als dynamisch betrachte, halte ich wenig von Leuten, die etwas Lebendiges in eine Form pressen wollen. Aber Sprschwissenschaftler ist nicht gleich Sprachwissenschaftler…wäre auch komisch!
“4U”, manche Beispiele hinken und das hatte gar keine Beine! 🙂
Naja, Sick & Co und die Leute vom VDS sind ja eben KEINE Sprachwissenschaftler. Kein Sprachwissenschaftler würde die hanebüchenen Ansichten dieser Sprachpfleger (auch Sprachnörgler und Sprachpuristen genannt) teilen. Sie wären nämlich weder mit den Methoden, noch mit den Beurteilungskriterien der Sprachwissenschaft vereinbar.
Wer sich annähernd wissenschaftlich mit Sprache auseinandersetzt, wird merken, wie dynamisch die Sprache ist. Der Duden ist also immer nur ein Abbild zu einem Zeitpunkt. Nichts ist so veraltet wie die nächste Dudenausgabe.
Stimme Dir fast zu. Die Daten, auf deren Basis Regierungen Entscheidungen treffen, sind oft ebenso veraltet!
Ich bin ja meist etwas THC-haltig, wenn ich kommentiere…und Sick & Co. habe ich erstmal ganz instinktiv in´s Englische übersetzt… 🙂
Die Regierung hast du jetzt ins Spiel gebracht 😛
Aber wenn wir schon mal dabei sind: wir haben 10% Ausländeranteil in unserem Land — eigentlich traurig, was wir da an linguistischem und wirtschaftlichem Potential verschleudern! Wir wären beispielsweise der wichtigste Handelspartner der Türkei oder vieler osteuropäischer Staaten, wenn wir’s endlich mal schaffen würden, die Blockade in unserem Kopf abzustellen.
Es ist natürlich anderswo nicht alles Gold, was glänzt, aber die Ex-Kolonien Großbritanniens sind mit Sicherheit nicht aus Dankbarkeit wichtige Handelspartner der alten Kolonialmacht. Sondern weil da alte Beziehungen werken und beidseitige Strukturen entstanden sind. Und weil das Land und die Gesellschaft dort offener sind für linguistische und kulturelle Vielfalt. Wenn du’s an was festmachen willst, dann z.B. Staatsbürgerschaftsrecht. Wenn ich als Türke, Portugiese, Russe, Pole oder wie auch immer in der dritten Generation in diesem Land immer noch alle drei Jahre aufs Ausländeramt rennen müsste, würde ich in Deutschland auch nicht “ankommen” wollen. Herrje. Aber wem sag ich das 🙂
Sick ins Englische übersetzt?? 🙂 Wo wir gerade dabei sind: “Sick of Sick?” ist eine sprachwissenschaftliche Antwort auf Bastian Sick, falls es dich interessiert.
Äh, ja, der Portugiese muss natürlich nicht mehr aufs Ausländeramt. Und der Pole bald wohl auch nicht mehr. Aber ich glaube, du verstehst, was ich meine 😉
Das ist doch das, was mich nervt: weil niemand sich um Geschichte kümmert, weiß auch keiner, warum Deutschland alte Verbindungen z.B mit der Türkei hat. Ich lasse andere Staaten wie Iran und Irak mal unerwähnt… Ich habe heute keine gute Laune, aber ja ich verstehe, was Du mir sagen willst!
Das wird dann extrem, wenn mir Menschen mit Abitur glaubhaft versichern, dass wir ja auch die Welt auch nicht versaut haben, weil wir keine Völker unterjocht und kolonisiert haben. Hihi sach ich nur.