Nach dem Althochdeutschen will ich mir heute das Mittelhochdeutsche vorknöpfen.
Die mittelhochdeutsche Sprachperiode setzt man von 1050 bis 1350 an – das ist die Zeit des Nibelungenlieds (das man übrigens mit einem kurzen i ausspricht) und Walthers von der Vogelweide (bei dem der Genitiv zum Rufnamen gehört).
Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch – wo ist der Unterschied?
Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Unterschieden, aber mit am auffälligsten ist wohl die sogenannte “Nebensilbenabschwächung”. Während im Althochdeutschen noch fast jeder Vokal an fast jeder Stelle im Wort vorkommen konnte, konzentriert das Mittelhochdeutsche klangliche Vielfalt auf eine einzige Silbe pro Wort: die betonte.
Die anderen Silben (“Nebensilben”) werden mit langweiligen Vokalen abgespeist, während die betonte Silbe (“Hauptsilbe”) sich den Luxus einer unglaublichen Varianz erlaubt. Im Althochdeutschen konnten die Laute a, e, i, o und u (und die ihnen entsprechenden Langvokale) in jeder Silbe eines Wortes vorkommen. Um diese Laute zu produzieren, muss sich die Zunge ganz schön viel bewegen: Für das i muss sie vorne oben im Mund sein, für das a unten und für das u hinten oben … Stress!
Eine Silbe, die nicht betont ist, wird (im Deutschen) sowieso schon schwächer ausgesprochen als eine betonte – der Schritt zur weiteren Schwächung war also nicht groß. Und so wurden diese “Vollvokale” im Mittelhochdeutschen an eine Stelle im Mund verlagert, an der die Zunge einfach nur gemütlich rumliegen kann: in die Mitte. Diesen zentralen Vokal, der hier mit einem umgedrehten <e> dargestellt wird, nennt man “Schwa”.1
Hier mal eine kleine Gegenüberstellung:
Althochdeutsch:Fater unseer, thu pist in himile. uuihi namun dinan. qhueme rihhi din. uuerde uuillo diin […] (Quelle) |
Mittelhochdeutsch:Vater unser, der dû in dem himel bist, geheileget sî dîn nam […] zuo kum an unz das rîche dîn, dîn wille werde […] (Quelle) |
Sehr wörtlich: ‘Vater unser, du bist in Himmel. Weihe Namen deinen. Komme Reich dein. Werde Wille dein.’ |
Sehr wörtlich: ‘Vater unser, der du in dem Himmel bist, geheiliget sei dein Name. Zukomme an uns das Reich dein, dein Wille werde.’ |
Die Nebensilbenabschwächung beförderte das Entstehen analytischer Strukturen. Ursprünglich hatte das Deutsche eine sehr reiche Endungsflexion, die Wortendungen machten immer schnell klar, um welchen Kasus oder welche Person etc. es ging. Wenn nun aber alle Endungen nur noch einen einzigen Vokal besitzen dürfen, fallen viele dieser Endungen zusammen und man kann nicht mehr sagen, welche Form gemeint ist.
Wie gut, dass Ersatz in Sicht war: Die Artikel und Pronomen wurden verstärkt genutzt und schließlich auch obligatorisch. Im Althochdeutschen gab es sie zwar teilweise schon, aber sie waren bei weitem nicht so verbreitet und hatten noch mehr “Bedeutung”, d.h. man konnte sie nicht einfach vor jedes Substantiv oder Verb setzen, weil man sonst die Aussage zu stark veränderte. Die Definitartikel (der, die, das) haben sich überhaupt erst im Verlauf des Althochdeutschen entwickelt.
Und sonst noch?
Das war jetzt natürlich nur ein einzelner Aspekt des Mittelhochdeutschen, da ist noch viel mehr passiert. Über einiges davon könnt Ihr hier lesen:
- Die Auslautverhärtung: wirzind urlaup
- Der Sekundärumlaut: Tagesmus und Gezirkumfixe
- Bedeutungsveränderungen: Falsche Freunde und wahre Worte
- Konrad von Megenburg: Von der sluntrœr und der äffinn
Fußnote:
1Wie man den Laut ganz genau ausgesprochen hat, lässt sich heute nicht mehr eindeutig sagen – man geht von Schwa aus, aber wahrscheinlich gab es auch Gegenden mit einem e-Laut. Und manchmal verschwand der Laut völlig, was man an Schreibungen wie <lebn> statt <leben> sieht. Ausgenommen sind Silben mit einer Nebenbetonung wie -ung oder -heit.
Ist zwar kein Abriss des Mittelhochdeutschen sondern nur der Nebensilbenabschwächung, aber die finde ich sehr schön und verständlich erklärt.
Mhd. Schwa wird im mitteldeutschen Raum übrigens auch gerne mit dem Graphem i geschrieben — Der orthographische Ausfall des Vokals in lebn dürfte aber wohl auf nichts weiter hinweisen als darauf, dass phonemisches /ən/ auch damals schon phonetisch als silbisches [n̩] realisiert werden konnte (ich kenne nur Beispiele mit N, glaube ich).
Entschuldigung… ich habe nicht bedacht, dass HTML funktioniert und spitze Klammern also nicht erscheinen… Was ich schreiben wollte war:
“mit dem Graphem ‘i’ geschrieben”
“des Vokals in ‘lebn’ dürfte…”
Hab’s repariert! 🙂
Hallo,
wo sind weitere Kapiteln, Themen, d.i. ‘das Frühhochdeutsch (FHD.)’ sowie ‘das Neuhochdeutsch (NHD.)’, zu finden? Zur Zeit gibt’s hier nur ‘AHD’ und ‘MHD’, oder ich irre mich…?
a) Althochdeutsch (AHD)
http://www.sprachlog.de/2009/09/24/althochdeutsch/
Die gibt es bisher tatsächlich nicht — danke für die Anregung, zumindest für Frühneuhochdeutsch sollte sich etwas Vergleichbares basteln lassen.
Eine wunderbare Seite habt ihr da! Mir gefallen all eure Artikel sehr sehr gut — als angehender Germanist fühle ich mich hier richtig wohl. Bitte unbedingt weitermachen! (: