Ich bereite gerade ein Referat vor. Es könnte das letzte meines Studiums sein. Ist das nicht gruselig?
Das Referat ist für ein Examenskolloquium in der deskriptiven Sprachwissenschaft, und es geht um Komposition. Das ist, ganz einfach gesagt, wenn man zwei (oder mehr) Wörter zu einem neuen zusammenfügt. Wie zum Beispiel Sprache+Blog=Sprachblog:
Eine ganz skurrile Unterart der Komposita sind die sogenannten “Phrasenkomposita”. Das sind Zusammensetzungen, bei denen das Erstglied nicht etwa ein Substantiv oder ein Adjektiv ist, sondern eine ganze Wortgruppe (“Phrase”). Ein paar Beispiele:
- Schönes-Wochenende-Ticket
- Trimm-dich-Pfad
- Stehaufmännchen
- Dritte-Welt-Laden
- 40-Stunden-Woche
Die meisten Phrasenkomposita werden aber spontan gebildet und schaffen es nie in ein Wörterbuch – “Er ist ein Ich-will-zu-meiner-Mami-Heuler” zum Beispiel, oder “Sie ist eine Ich-esse-nur-manchmal-Steak-Vegetarierin”.
Bei solchen Bildungen ist also immer die Phrase eine Einheit, und dann wird sie mit einem Substantiv kombiniert: [Schönes-Wochenende]-Ticket.
Wie genau das funktioniert, also was unser Gehirn tut, wenn es Phrasenkomposita bildet, wird unter SprachwissenschaftlerInnen erbittert diskutiert. Das liegt daran, dass man kaum etwas darüber weiß, was das Gehirn so tut – die Neurolinguistik steht bei vielen Sachen noch sehr am Anfang. Vorstellungen darüber, was das Gehirn macht, gibt es aber zuhauf.
Was an Phrasenkomposita jetzt so spannend ist, ist die Tatsache, dass sie zwei Bereiche betreffen: die Morphologie (also die Wortebene) und die Syntax (also die Satzebene). Die Phrase ist nach syntaktischen Kriterien strukturiert, passt sich aber in ein Wortbildungsmuster ein – also in Morphologie.
Die Morphologie schöpft normalerweise aus Wörtern und Wortelementen, die wir kennen – in der Linguistik spricht man vom “mentalen Lexikon”. Das stellt man sich als eine riesige Art von Wörterbuch im Kopf vor. Jedes Morphem (so nennt man die Wörter und Wortelemente) hat einen eigenen Eintrag in diesem Lexikon, und wenn man ein neues Wort braucht, nimmt man sich einfach die gängigen Regeln und baut es sich zusammen. Natürlich in den allermeisten Fällen vollkommen unbewusst.
Komposita sind nun zunächst einmal zwei Wörter aus dem mentalen Lexikon, die man nach Kompositionsregeln miteinander kombiniert. Wenn ich zum Beispiel so etwas sage wie “Gib mir mal das Internetteil da!”, dann habe ich Internetteil regelkonform zusammengebaut um in der konkreten Situation etwas zu bezeichnen – vielleicht meine ich z.B. ein Buch, das ich im Internet bestellt habe, oder ein LAN-Kabel, oder etwas, das ich aus dem Internet ausgedruckt habe … irgendein Ding eben, das etwas mit dem Internet zu tun hat. Was genau, wird in der speziellen Situation schnell klar sein.
Die meisten Komposita, die wir so verwenden, sind aber keine Neubildungen, sondern welche, die schon vor langer Zeit mal jemand zusammengebaut hat. Wir benutzen einfach das fertige Produkt und haben es auch so komplett in unserem mentalen Lexikon abgespeichert. (Da gibt’s Debatten, wo die Grenze ist, aber darauf lasse ich mich jetzt nicht ein.) Hausfrau zum Beispiel ist nicht die Besitzerin eines Hauses (wie Hausherr), sondern eine Frau, die den Familienhaushalt führt. Diese spezielle Bedeutung lässt sich nicht aus den Bestandteilen erschließen, sie muss irgendwo abgespeichert sein. In ihrem Lexikoneintrag nämlich.
So, und jetzt kommen die Phrasen ins Spiel. Stehen die auch im Lexikon? Hat Schönes Wochenende einen Eintrag? Die verschiedenen Erklärungsmodelle konkurrieren da wild miteinander – ein paar will ich ganz grob skizzieren:
- Der syntaktische Ansatz: Das mentale Lexikon enthält gar keine Wortbildungsregeln, die Regeln folgen im Wesentlichen den syntaktischen Regeln (also denen zur Bildung von Sätzen). Im Lexikon sind nur Morpheme abgespeichert, keine komplexeren Bildungen.
- Die Konversionsanalyse: Was wie Phrasen aussieht, sind gar keine – das sind Nomen. Sie werden durch Konversion nominalisiert, und dann erst, als neues Nomen, mit einem Zweitglied kombiniert. (Konversion bedeutet, dass die Wortart gewechselt wird, ohne bestimmte Nachsilben anzufügen. Z.B. das Leben aus dem Verb leben.) Da man dabei davon ausgeht, dass das Erstglied ein Nomen ist, müsste es z.B. ein Nomen wie Trimm-dich geben, das aber in Wirklichkeit gar nicht alleine stehen kann.
- Die Zitatanalyse: Die Phrasen sind Zitate und gar keine richtigen Wortbestandteile. Die syntaktische Struktur der Phrasen ist also für Phrasenkomposita völlig egal, sie entstand quasi bei der Entstehung der Aussage – jetzt wird sie nur noch zitiert. Das erscheint besonders logisch für Phrasenkomposita mit kompletten Sätzen wie Ich-will-zu-meiner-Mami-Heuler, wo man der entsprechenden Person wirklich die Aussage “Ich will zu meiner Mami!” in den Mund legt. Aber ob man wirklich alle Phrasen auf (echte oder vorgestellte) Aussagen zurückführen kann?
- Der gemischte Ansatz: Manche Konstruktionen – die lexikalisierten wie Trimmdichpfad – stehen im Lexikon, die anderen werden nach syntaktischen Regeln generiert und dann zur Wortbildung benutzt.
Ich habe mich noch nicht entschieden, welchen Ansatz ich am plausibelsten finde – ich glaube ich schwanke zwischen Zitat und gemischtem Ansatz. Ich bin also gespannt, was im Kolloquium für Meinungen und Argumente auftauchen.
(Strukturbäume erstellt mit phpSyntaxTree.)