Nico, der Gewinner der Schplock-Jubiläumsverlosung 2009, hat sich nicht damit begnügt, ein Buch von mir geschickt zu bekommen – nein, er hat mir auch postwendend ein Buch zurückgeschickt. Jippie! Und zwar die Mittelhochdeutsche Grammatik von Paul/Mitzka in der 18. Auflage, die (und deren Nachfolgerinnen) ich tatsächlich noch nicht besaß. Ich habe mich enorm gefreut und gleich angefangen, zu lesen. Bereits auf Seite 27 habe ich dann etwas herausgefunden, was ich Euch auf keinen Fall vorenthalten will …
Im Alemannischen gibt es die Wörter seller, selli, sell. Sie entsprechen ungefähr dem hochdeutschen ‘jener, jene, jenes’/‘dieser, diese, dieses’/‘der, die, das’. Das sind Demonstrativpronomen, aber zu dem Thema schreibe ich mal gesondert was. Jetzt geht es nur darum, dass ich jahrelang gerätselt habe, woher die Formen kommen.
Hier ein Beispiel aus meinen Aufnahmen für die Magisterarbeit – ich hatte danach gefragt, welche Spiele es früher gab:
Un die Kardeschbiile, des hämmer au gho. Des het mo gwänlich vun de Vewonde irgendwie mol gschengt griegt, waisch, un … ja. Sell hämmer au gho. Un mer hänau fil gschbielt …
[Und diese Kartenspiele, das haben wir auch gehabt. Das hat man gewöhnlich von den Verwandten irgendwie mal geschenkt gekriegt, weißt du, und … ja. Das haben wir auch gehabt. Und wir haben auch viel gespielt …]1
Formal hat sell weder mit dies noch mit jenes etwas gemein, und sonst ist mir auch kein neuhochdeutsches Wort eingefallen, dem es entsprechen könnte. Ich habe immer mal wieder von Leuten den Vorschlag gehört, es könnte mit dem französischen cela ‘das’ oder celle, celui ‘die, der’ zu tun haben. Da ist aber nichts dran. Es gibt ein hochdeutsches Wort. Die Mittelhochdeutsche Grammatik hat mir auf die Sprünge geholfen:
Die neuhochdeutsche Entsprechung ist solcher (solche, solches). Im Althochdeutschen lautete es noch solihêr oder solher2. Es gab aber die Tendenz dazu, ein h in unbetonter Silbe nur noch ganz schwach und schließlich gar nicht mehr auszusprechen. Das führte zur südalemannischen Form solêr.
Gleichzeitig machte auch das Wort welcher in seiner althochdeutschen Form uuelihêr, uuelher3 diese Entwicklung mit und wurde zu weler. (Auch das gibt es noch heute als weller, welli, wells.)
Und schließlich nahm sich soler das weler zum Vorbild und beseitigte das o zugunsten des e-Lautes. Das nennt man Analogie, das eine Wort benutzt das andere als Muster, um mehr Regelmäßigkeit in die Formen zu bringen.
Seller übernahm schließlich im Alemannischen die Funktions des Demonstrativpronomens, in Aufgabenteilung mit den Artikeln. Die alten Demonstrativpronomen dieser und jener finden sich im Dialekt überhaupt nicht mehr. Und wenn man die ursprüngliche Bedeutung ‘solcher’ ausdrücken will, sagt man einfach so einer.
Heute Nacht werde ich ruhig schlafen können.
Fußnoten:
1 Ihr seht, dass auch des ‘das’ benutzt wird – das Verhältnis von der, die, des zu seller, selli, sell kann man nicht mit dem der hochdeutschen Formen gleichsetzen, aber tendenziell bezeichnen seller, selli, sell entferntere Dinge und Konzepte als der, die, des.
2 Nach Kluge kommt solch von so+lich, wobei lich ‘Körper, Gestalt’ hieß, also wörtlich ‘sogestalt’ oder freier ‘so geartet’. (Über die Entwicklung von lich habe ich schon einmal geschrieben: Fronleichnam frönt den Leichen)
3 Der Buchstabe <w> entstand aus <uu>.
“Schelle Se net an sellerer Schell, selle Schell schellt net, schelle Se an sellerer Schell, selle Schell schellt.”
Hab ich (Fischkopf) von einer Esslingerin gelernt. Interessant finde ich “sellerer” und habe schon lange die Vermutung, dass sie dem Versmaß geschuldet ist.
Oh, das war tief in meinem Hirn vergraben … kenne ich auch 🙂
Die Übersetzung: Schellen Sie nicht an dieser Klingel, diese Klingel schellt nicht, schellen Sie an jener Klingel, jene Klingel schellt. (Wobei im Spruch eigentlich kein Unterschied zwischen “dieser” und “jener” gemacht wird.)
Deine Frage nach sellerer hat mir eben ein investigatives Telefonat mit meinen Eltern beschert.
Zuerst wollte ich nämlich sagen, es sei ein ganz normaler Dativ Singular feminin — aber dann fielen mir Sätze der Art
Ich hob’s sellere gää.
‘Ich habe es dieser/jener gegeben’
ein: auch Dativ Singular feminin!
Nach einigen Tests mit meinen Eltern hat sich ergeben, dass wahrscheinlich die Unterscheidung zwischen NP (Nominalphrase) und PP (Präpositionalphrase) ausschlaggebend ist:
(1) Wenn das Wort einer Präposition folgt, die Dativ fordert (also auch on ‘an’, vun ‘von’, …), so lautet es sellerer.
(2) Wenn es sich um ein ganz normales Argument handelt, das vom Verb gefordert wird (‘Wem (DAT) hat wer (NOM) was (AKK) gegeben?’), ist es sellere.
(Weitere Verben, die ein Dativobjekt fordern, sind schenken, wegnehmen, …)
Das Paradigma lautet also:
Kasus: Singular / Plural
Nom/Akk: selli / selli
Dat: sellere / sellene
Präp+Dat: sellerer / sellene
Skurril, was? Für maskuline und neutrale Formen gibt’s keine Unterscheidung:
Kasus: Singular / Plural
Nom/Akk: seller (m), sell (n) / selli
Dat: sellem / sellene
Präp+Dat: sellem / sellene
Hallo,
dann wäre sellerer doch richtig, immerhin.
Bei einer hochdeutschen Übersetzung würde ich aus “schellen” klingeln machen.