Ich habe mich bei meiner Suche nach Beispielen für das Wort Scheißmeister im vorangehenden Beitrag in die Irre leiten lassen. Die Hörfunkkorrespondentin der ARD in New York hatte in einem Beitrag über deutsche Lehnwörter im amerikanischen Englisch über dieses Wort, gestützt auf das Urban Dictionary, Folgendes geschrieben:
Andere [deutsche Wörter im Englischen] sind aber reine Erfindung, pseudodeutsche Kunstworte: “Scheißmeister” — zum Beispiel — soll in etwa “fünftes Rad am Wagen” heißen.
Ich hatte solche Verwendungen gesucht und nicht gefunden und deshalb vermutet, dass es sich bei dem Wort um die ins Urban Dictionary eingeschleuste Erfindung eines Spaßvogels handeln könnte. Aber bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass nur die Bedeutung erfunden ist — das Wort an sich gibt es, und ein pseudodeutsches Kunstwort ist es nicht.
Der israelische Historiker Yitzhak Arad beschreibt die Geschichte des Wortes eindrucksvoll:
Throughout the day the prisoners were under the careful watch of the SS, the Ukrainians, and the capos. Theirs was a day of perpetual work and motion, and woe to anyone who stopped to rest. Anyone who slowed down would be whipped on the spot or recorded by the capo or the SS man in charge for “treatment” at the evening roll call. The only place the prisoners were able to sit quietly for any amount of time without being watched was in the lavatories. There were only a few toilets in the camps, but the prisoners — and especially the weak and sick among them who continued working only out of fear that if they stopped working they faced certain death — found the only place for a short rest was in the lavatories. In general the Jewish capos were considerate of the sick and looked the other way during their frequent visits and long stays in the lavatories. During the winter that the typhus epidemic spread through Treblinka, the toilets became the main rest area.
In Treblinka, Küttner began noticing the “exaggerated” use of the toilets by the prisoners and, to put a stop to it, he appointed a Jewish supervisor over every toilet; these supervisors were given the title Scheissmeister (“shit master”). For their entertainment, the Germans dressed the Scheissmeister in a special outfit: the clothes of a rabbi and an eight-cornered cantor’s turban. He had to wear a large alarm clock around his neck and carry a whip. He was aiso ordered to grow a Vandyke beard. He would have to make certain that the prisoners did not stay in the toilet for more than two minutes and that there should be no more than five people in the lavatory at a time. It was the duty of the Scheissmeister to chase out those who dallied. A prisoner who did not obey the Scheissmeister was registered and his number was submitted to Küttner.
Thus the lavatories, which had been the only place where the prisoners had found some semblance of peace, turned into yet another place of hardship and torture. [Yizhak Arad, Belzec, Sobibor, Treblinka. The Operation Reinhard Death Camps, Indiana University Press, 1987, S. 205]
Die Gefangenen standen den ganzen Tag unter genauer Beobachtung durch die SS, die Ukrainer und die Kapos. Ihr Tag bestand aus ununterbrochener Arbeit und Bewegung, und wehe dem, der sich auch nur einen Moment ausruhen wollte. Jeder, der langsamer arbeitete wurde auf der Stelle ausgepeitscht und vom Kapo oder befehlshabenden SS-Mann für eine „Behandlung“ während des Abendappells eingetragen. Der einzige Ort, an dem die Gefangenen einen Augenblick lang still und unbeobachtet dasitzen konnten, waren die Latrinen. Es gab nur einige wenige Toiletten in den Lagern, aber die Gefangenen — besonders die Kranken und Schwachen unter ihnen, die nur aus der Angst heraus weiterarbeiteten, dass ihnen, wenn sie zu Arbeiten aufhörten, ein sicherer Tod erwartete — erkannten, dass die Latrinen der einzige Ort für eine kurze Pause waren. Die jüdischen Kapos nahmen generell Rücksicht auf die Kranken und übersahen deren häufige und lange Aufenthalte in den Latrinen stillschweigend. Während des Winters, in dem sich in Treblinka die Typhusepidemie ausbreitete, wurden die Toiletten zum wichtigsten Ruheraum.
Der “übertriebene” Gebrauch der Toiletten durch die Gefangenen fiel in Treblinka [dem Lagerleiter, SS-Hauptscharführer Kurt] Küttner auf. Um diesen Gebrauch zu unterbinden, ernannte er einen jüdischen Aufseher für jede Toilette; diese Aufseher erhielten den Titel „Scheißmeister“. Zu ihrer Unterhaltung schrieben die Deutschen dem Scheißmeister eine besondere Kleidung vor: Das Gewand eines Rabbiners und einen achteckigen Kantorturban. Er musste sich einen großen Wecker um den Hals hängen und eine Peitsche bei sich tragen. Man befahl ihm auch, sich einen Van-Dyke-Bart wachsen zu lassen. Es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Gefangenen sich nicht länger als zwei Minuten in der Toilette aufhielten und dass nie mehr als fünf Leute auf einmal die Latrine benutzten. Der Scheißmeister hatte die Anweisung, diejenigen herauszujagen, die diese Zeit überschritten. Gehorchte ein Gefangener nicht dem Scheißmeister, wurde dies notiert und seine Nummer wurde an Küttner gemeldet.
So wurden die Latrinen, die der einzige Ort gewesen waren, an dem die Gefangenen so etwas wie Frieden gefunden hatten, zu einem weiteren Ort der Qual und Folter[eigene Übersetzung].
Die Autorin des oben erwähnten Artikels kommt angesichts der von ihr besprochenen Lehnwörter (die größtenteils aus dem Jiddischen stammen) am Ende zu einer optimistischen Einschätzung:
Ist doch auch toll, dass nicht nur Wörter wie Achtung oder Angst, Blitzkrieg oder Schadenfreude übernommen werden.
Da hat sie sich leider zu früh gefreut. Es ist eben doch nicht so einfach, deutsche Lehnwörter zu finden, auf die man stolz sein kann.
Ich hätte bislang Stein und Bein geschworen, dass das Wort erst durch Bayern-München-Hasser erfunden sein müsste.
In der Logik der Lagerleitung war das Vorgehen folgerichtig: “Vernichtung durch Arbeit” lautete das Programm, und wer sich der Arbeit entzog, konnte nicht vernichtet werden. Also wurde am Donnerbalken gerüttelt, bis die armen Kerle erwünschtermaßen in die Grube fielen. Welche ‘Erfindungsgabe’ aber steckten diese SS-Sadisten in die detaillierte Uniformierung ihrer ‘Scheissmeister’. Und wozu? War das bloß Gaudi und Entertainment für verkommene Seelen?
@Klaus Jarchow: Wer solche Sachen wie KZs baut, findet schnell Freunde unter den Perversen der Welt und das Ergebnis kann man als halbwegs normaler Mensch nur fassungslos bestaunen.
Dieser Dreck kriecht übrigens nicht nur im Nationalsozialismus unter der Teppichkante hervor: Mich hat die besondere Entwürdigung der Aufseher im KZ durch liturgische Gewänder sehr an Guantanamo erinnert, wo die Aufseher die muslimischen Gefangenen zu Koranschändungen gezwungen haben. Und das geschah wohl eher nicht auf direkte Weisung von George Bush, da steckt m.E. jede Menge persönlicher Erfindungsreichtum hinter — siehe auch Abu Ghraib.
Wenn ich ein weltweit aus dem Deutschen entlehntes Wort nennen sollte, auf das man stolz sein kann, würde ich in der Regel auf “Kindergarten” verweisen…
Ansonsten gibt es noch so Dinge “Leitmotiv” oder “Zeitgeist”, die auch zumindest im Englischen zu finden, aber eher wertneutral sind.
Mir ist als Amerikaner das Wort shitmeister bekannt, als Bezeichnug fuer jemand, der gut am Ueberzeugen ist, und dazu glaubbare aber unwahre Argumente benutzt.
Ich kann mir gut vorstellen dass jemand konsequenterweise den ersten Teil verdeutscht hat, aus Wortspielerei.
“Scheiß(e)-”
- Wer die Orthographie im Grimmschen Wörterbuch beherrscht, findet viele Lexeme, aber nicht das Nomen „Scheiszmeister“.:
SCHEISZ, m.
und:
SCHEISZANGST, f. — SCHEISZBANGE, adj. — SCHEISZBANN, m. — SCHEISZBECKEN, n. — SCHEISZBEERE, f. — SCHEISZBISCHOF, m. — SCHEISZBOCK, m. – SCHEISZBRÄMER, m. — SCHEISZBRIEF, m. — SCHEISZBUTTE, f. — SCHEISZDARM, m. — SCHEISZDRECK, m. — SCHEISZE, f. — SCHEISZEL, m. — SCHEISZELN, v. — SCHEISZEN, v. — SCHEISZER, m. — SCHEISZEREI, f. — SCHEISZERIG, adj. — SCHEISZERISCH, adj. — SCHEISZERN, v.
SCHEISZFALK, m. — SCHEISZFIDEL, adj. — SCHEISZFREUNDLICH, adj. — SCHEISZGANG, m. — SCHEISZGASSE, f. — SCHEISZGELB, adj. — SCHEISZGELTE, f. — SCHEISZGRABEN, m. — SCHEISZGUT, n. — SCHEISZHAFEN, m. — SCHEISZHAFT, adj. — SCHEISZHAUFE, m. — SCHEISZHAUS, n. — SCHEISZHÄUSCHEN, n. — SCHEISZHAUSFEGEN, n. — SCHEISZHAUSFEGER, m. — SCHEISZHAUSFÜLLER, m. — SCHEISZHAUSRÄUMER — SCHEISZHUND, m. — SCHEISZICHT, adj. — SCHEISZIG, adj. — SCHEISZKACHEL, m. – SCHEISZKÄFER, m. — SCHEISZKAMMER, f. — SCHEISZKARRE, f. — SCHEISZKERL, m. — SCHEISZKÖRNER , plur. — SCHEISZKRAM, m. — SCHEISZKRAUT, n. — SCHEISZKRÖTE, f. — SCHEISZKÜBEL, m. — SCHEISZLING, m. — SCHEISZLORBEER, m. — SCHEISZLUST, f. — SCHEISZMANGEL, m. — SCHEISZMATZ, m. — SCHEISZMELDE, f. — SCHEISZNÖTHIG, adj. — SCHEISZPFAFFE, m. — SCHEISZPFLAUME, f. — SCHEISZREIHER, m. — SCHEISZRÜBE, f. — SCHEISZSACHEN, plur. — SCHEISZSTUHL, m. — SCHEISZSTÜHLCHEN, n. ‑SCHEISZTAG, m. — SCHEISZTEUFELPROCESSION, f. — SCHEISZUNG, f. — SCHEISZWINKEL, m. — SCHEISZWURZ, f.
URL.:
http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb/wbgui?lemmode=lemmasearch&mode=hierarchy&textsize=600&onlist=&word=Scheisz&lemid=GS06421&query_start=1&totalhits=0&textword=&locpattern=&textpattern=&lemmapattern=&verspattern=#GS06421L0