Das versprochene zweite Computerwort − diesmal viel alltäglicher: Rohling. Eine unbeschriebene CD oder DVD. Ich kenne das Wort schon ewig und habe noch nie darüber nachgedacht, aber kürzlich war mir meditativ zumute:
Rohling ist eine Wortbildung auf -ling wie Abkömmling, Erstling, Sonderling, Günstling, Däumling, Schädling, Flüchtling …
Wen mögen die Linge?
Das Suffix -ling sorgt dafür, dass das Wort, an das es angehängt wird, ein Substantiv wird. Dabei ist die Ausgangsbasis ziemlich egal, das -ling gibt es bei vielen Wortarten:
Substantiv | Hof | → Höfling |
Adjektiv | schwach | → Schwächling |
Verb | saugen | → Säugling |
(Wie man sieht, gibt es in der Regel Umlaut, wegen dem [i] in -ling.)
Wirklich jeden?
Jein. Substantivierungen mit -ling gibt es zwar zu verschiedenen Wortarten, aber ganz wichtig für die Zuneigung der Linge ist natürlich, welche Wortarten sie heute noch mögen. Neubildungen nach dem Muster von Häuptling oder Lehrling gibt es heute quasi nicht mehr1, die Schwächlinge hingegen blühen auf: Das Suffix kann mittlerweile (fast) nur noch an Adjektive treten. Der Duden-Newsletter gibt z.B. Naivling und Primitivling als Neuschöpfungen an.
Und wer sind sie überhaupt?
Die Linge sind vielseitig. Es gab sie schon im Althochdeutschen und sie bildeten damals laut Kluge “Zugehörigkeitssubstantive”. Der Häftling gehört also in die Haft, der Hänfling in den Hanf, der Fremdling in die Fremde und der Fäustling an die Faust. Jagut. Sehr allgemein.
Die Bildungen gehen auf ein -ing zurück, z.B. in edil+ing, lantsidil+ing ‘Landsasse’. Das l im Auslaut solcher Wörter wurde dann als Teil der Endung reanalysiert, -ing wurde zu -ling.
Die entstandenen Substantive sind größtenteils Menschen (Sprössling, Liebling, Fremdling, Eindringling, Zögling), es sind aber auch Tiere dabei (Schmetterling, Frischling, Nestling, Sperling), gelegentlich Pflanzen (Pfifferling < mhd. pfefferlinc zu Pfeffer, Schößling, Schierling < ahd. skeriling zu *skarna- ‘Mist’) und sogar Dinge (Schilling, Fäustling) und Abstrakta (Frühling).
Linge sind doof!
Die heute noch produktiven Substantive auf -ling sind i.d.R. abwertende Personenbezeichnungen (fast ausschließlich für Männer verwendbar), meistens sucht man sich für sie auch gleich negative Basen aus, wie Aggressivling, Aufdringling, …
Diese negative Wertung ist sehr stark, es gibt keine positiven neuen Linge. Das böse Vorurteil wird aber natürlich nicht von allen älteren Bildungen geteilt, die Bezeichnungen für Nicht-Menschen sind neutral, die für Menschen können negativ sein, müssen es aber nicht. (Ein netter Dialog zum Thema.) Vielleicht ist die abwertende Bedeutung über den Zwischenschritt der Verkleinerung entstanden (wie bei Säugling oder auch den Tierjungen – Frischling – oder kleinen Tieren – Sperling, Bläuling). Weinrich et al. (2003) sind der Meinung, dass die negative Bedeutung zunächst nur im negativen Adjektiv steckte und von dort aus quasi auf die Endung überging, die sich dann auch an neutrale Wörter hängen konnte, um sie schlecht zu machen: Schreiberling. Leider erschöpfen sich meine kursorischen Nachforschungen aus Zeitgründen hier.
Ist ein Rohling brutal?
Jetzt aber endlich zur unbeschriebenen CD! Das Wort Rohling gab es schon lange vor den CDs in Nicht-Computerbedeutung, und zwar gleich doppelt:
- ein brutaler Mensch
- “Guß- oder Schmiedeteil, der zum Werkstück weiterverarbeitet wird.” (aus: Das neue Taschenlexikon in 20 Bänden, 1992)
Hier ist schön zu erkennen, dass das Wort einmal negativ ist (wenn es einen Menschen bezeichnet) und einmal neutral (bei einem Ding).
Ob die beiden Bedeutungen auf eine Ursprungsform zurückgehen (d.h. von einem Objekt auf einen Menschen übertragen), konnte ich nicht herausfinden, sie können durchaus unabhängig voneinander gebildet worden sein. Grimms Wörterbuch kennt nur den groben Menschen (und gleichnamige Pilze und Frösche), was aber wegen der technischeren Bezeichnung des Metallteils nicht viel heißen muss:
RÖHLING, m., auch rohling, homo rudis, gebildet wie frischling, neuling. bei MAALER der ihm eigenen form rouw entsprechend röuwling (der) ferus (vgl. roh I): die witwe merkte wohl, wo es den rohling drückte. KLINGER 6, 215;
Trotz Unergiebigkeit der Literatur (Das Taschenlexikon kennt ihn noch nicht, Wikipedia ist ungewöhnlich kurz angebunden und Kluge gibt erst recht nichts her) wage ich es zu behaupten, dass der CD-Rohling wohl von der zweiten Bedeutung herkommt. Ebenso wie das Metallteil ist die unbeschriebene CD für unsere Zwecke “formbar” und erhält erst so ihre Bedeutung. Erscheint mir sehr plausibel. Auch wenn die gewalttätige Erklärung irgendwie schöner wäre.
Fußnote:
1Gegenbeispiele (?): Teigling ‘Aufbackware in rohem Zustand’, Anlernling ‘Arbeiter, Angestellter mit Kurzausbildung’
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Hallo, hab dein Blog gerade über Technorati entdeckt und freue mich, das Suffix ‑ling einmal umfassend behandelt zu finden.
Viele Grüße
ein Schreiberling