Auf dem Schulweg heute morgen.
Meine Tochter: Papa, wir nehmen jetzt endlich die Wortarten durch.
(Sie hatte schon ungeduldig darauf gewartet, seit ich ihr irgendwann einmal erklärt habe, dass manche Wörter großgeschrieben werden, weil sie zu einer bestimmten Wortart gehören).
Ich: Na endlich! Und welche Wortart habt ihr gestern kennengelernt?
Sie: Tuwörter.
Oh, nein. Lehrer tun also heutzutage immernoch so, als könne man Wortarten an ihrer Bedeutung erkennen? Bei uns hießen Verben damals Tätigkeitswörter, aber irgendwie hatte ich gehofft, dass sich in den letzten dreißig Jahren in dieser Hinsicht etwas getan hätte.
Ich: Ah. Und was sind Tuwörter?
Sie: Alles, was man machen kann — laufen und springen und so.
Ich: Ah. Und in dem Satz Er friert, wo ist da das „Tuwort“?
Sie: Friert, also frieren.
Ich: Und in dem Satz Die Schokoladentorte schmeckt gut?
Sie: Schmecken.
Ich: Ja, und ist frieren etwas, was man „macht“?
Sie: Nee.
Ich: Und schmecken?
Sie: Nee, man kann ja nicht sagen, „Was macht die Torte? — Sie schmeckt gut“.
Ich: Ja. Und ist Unfug ein Tuwort?
Sie: Nee.
Ich: Aber es ist doch etwas, was man machen kann.
Sie: Ja, aber es ist kein Tuwort.
Ich: Also gibt es Wörter, die etwas bezeichnen, das man „machen“ kann, die aber keine Tuwörter sind, und Wörter, die Tuwörter sind, die aber etwas bezeichnen, was man nicht machen kann.
Sie: Ja, stimmt.
(Pause)
Sie: Ja, zum Beispiel auch fliegen.
(Hm. Hat sie mich vielleicht falsch verstanden?)
Ich: Wieso fliegen?
Sie: Ja, weil wenn man sagt „Ich fliege nach Amerika“, dann fliegt man ja nicht selber. Das Flugzeug fliegt.
Auf dieses Beispiel, das übrigens semantisch extrem komplex ist, wäre ich gar nicht gekommen, aber es zeigt, wie sinnlos es ist, Wortarten semantisch zu bestimmen. Fliegen ist ja eigentlich ein „Tu“-Wort: Was macht der Vogel? Er fliegt. Aber selbst solche Wörter werden in Zusammenhängen verwendet, in denen ihre Bedeutung durch den Kontext so verändert wird, dass sie nicht mehr passen. Und das erkennt sogar ein Schulkind nach einem zweiminütigen Gespräch über Wortarten. Warum erkennen es Lehrer nicht, wenn sie einer Generation nach der anderen falsche Semantisierungen von Wortarten vorsetzen?
Es ist ja nicht so, als ob die Wissenschaft hier nichts zu bieten hätte. In jeder Einführung in die Sprachwissenschaft findet sich eine Diskussion über Wortarten und dort ist immer zu lesen, dass Wortarten nicht über Bedeutungen definiert werden können, sondern nur über ihr morphologisches Verhalten (mit welchen Affixen können sie auftreten) und über ihre Position im Satz (an welcher Stelle stehen sie, welche Rolle spielen sie dort).
Ich glaube, einer der Gründe für die Hartnäckigkeit, mit der sich Definitionen wie „Tuwörter bezeichnen alles, was man tun kann“ halten ist der, dass Sprecher (auch Schulkinder) eine sprachliche Intuition haben, die es ihnen ermöglicht, zu erkennen, welche Wörter in die selbe Klasse gehören. Diese Intuition beruht höchstwahrscheinlich auf einem unbewussten Wissen um morphologisches und syntaktisches Verhalten, aber da sie es Kindern ermöglicht, Wörter korrekt zu Wortarten zusammenzufassen, entsteht bei den Lehrern der Eindruck, die Definition helfe dabei.
Ich: Ja. Deshalb ist „Tuwörter“ kein guter Name für diese Wörter. Wir nennen sie deshalb Verben. Das ist das lateinische Wort für „Wort“.
Sie: Verben.
Ich: Genau. Aber wenn man Verben nicht an der Bedeutung erkennt, woran erkennt man sie denn dann?
Sie: Weiß ich nicht.
Ich: Naja, du hast ja alle Verben erkannt, auch die, die man nicht „machen“ kann. Woran hast du die wohl erkannt?
Sie: Weiß nicht. Ich weiß einfach, welches Wort das Verb ist.
Ich: Ja, aber woher?
(Pause)
Sie: Bei Verben kann man immer en sagen: laufen, springen, frieren…
Ich: Ja, das stimmt. Die Form nennt man Infinitiv. Verben kann man daran erkennen, dass sie einen Infinitiv haben, aber auch eine Gegenwartsform und eine Vergangenheitsform: laufen, Ich laufe, Ich lief.
Sie: Ah.
Ich: Ja, deshalb nennt man Verben manchmal auch „Zeitwörter“.
Sie: Ah. springe, sprang.
Ich: Genau. Wortarten kann man immer daran erkennen, was für Formen sie haben können.
Sie: Ok. Verben haben eine Zukunftsform und eine Vergangenheitsform.
Ich: Nein, deutsche Verben haben eine „Gegenwartsform“, die kann man für die Gegenwart und die Zukunft verwenden: Wir fahren gerade in die Schule, Wir fahren im nächsten Sommer an die Ostsee. Und eine Vergangenheitsform. Französische Verben haben eine eigene Zukunftsform: Nous allons à l’école, allons — Gegenwartsform, aber Nous irons en vacances, irons — Zukunftsform.
Zehn Minuten Schulweg reichen also, um einer Drittklässlerin (a) einen lateinischen Fachbegriff beizubringen, (b) ihr zu erklären, dass Wortarten nicht über ihre Bedeutung sondern über ihr formales Verhalten definiert werden und © darauf hinzuweisen, dass dieses formale Verhalten sprachspezifisch ist.
Ich: Und kennst du noch andere Wortarten?
Sie: Ja, Namenswörter.
Ich: Und was sind Namenswörter?
Sie: Wörter für Sachen, die man anfassen kann.
Ich: Darüber reden wir morgen.
Sachen, die man anfassen kann. Wie gern ich doch den Ofen und den Löwen gebracht hab, nur um die Lehrer zu reizen 🙂
Meine Kinder (6 und 9, also frisch in der Schule) haben die Bezeichnungen Verben und Substantive gelernt. Dafür sind die die Objektfälle für meine Augen irritierend benamst: 3. und 4. Objektfall für Dativ und Akkusativ. Immerhin ist das nicht dem Genitiv sein Tod …
Mich haben seinerzeit Aktiv und Passiv verzweifeln lassen. „Leidensform“. Wer leidet denn da? hab ich mich immer gefragt. Und hätte mir wegen meines Unverständnisses beinahe eine satte 5 eingefangen.
Ich finde es gar nicht weiter verwunderlich, dass Ihre Tochter so einfach erkennt, was manchen Lehrern nicht auffällt: nach Sprachwissenschaftlern sind Kinder doch sicher die besten Sprachexperten. 🙂
Schließlich brauchen Kleinkinder bekanntlich auch keine Grammatiken, um Sprachen zu lernen. Eine Drittklässlerin hat ihren Sprachzenit zwar wohl schon hinter sich, aber noch weitgehend unverdorben vom Sprachunterricht hat sie den meisten Erwachsenen bestimmt noch etwas voraus.
Wobei man sich auch fragen kann, wieviel Sinn es macht, Kindern (im Deutsch-Unterricht) mit Grammatik-Themen auf die Nerven zu gehen, gerade wenn es sich um konfuse Konzepte wie Wortarten handelt.
Im Zusammenhang mit meiner im Abschluss befindlichen Abschlussarbeit habe ich mich mit Lehrmaterialien für den Fremdsprachenunterricht (Englisch) befasst. Als Halblinguist tut man sowas ja eher selten, sieht man die Welt doch lieber deskriptiv als präskriptiv. Aber nun gut. An der Volkshochschule heißen alle Wortarten lustig. Hauptwörter gibt es, und Zeitwörter. Intuitiv würde ich ja sagen “gestern” oder “Sekunde” oder “ewig”, das sind Zeitwörter. Hauptwörter, das wären für mich die Verben, denn die sind ja meist dafür zuständig, dass im Satz was passiert. Und das ist doch die Hauptsache. Klar, die Verben können eine Zeitform annehmen, daher Zeitwörter. Irgendwie schon logisch, aber nicht intuitiv. An den Hauptwörtern ist hingegen nichts mehr logisch. Oder ist mir da etwas entgangen?
In der Grundschule hießen Nomen bei uns Nomen, auf dem Gymnasium hieß es dann Substantive. Da dachte ich natürlich das wäre der bessere und richtigere Ausdruck. Auf der Uni haben dann wieder alle Nomen gesagt… witzig 🙂
[quote]Wobei man sich auch fragen kann, wieviel Sinn es macht, Kindern (im Deutsch-Unterricht) mit Grammatik-Themen auf die Nerven zu gehen, gerade wenn es sich um konfuse Konzepte wie Wortarten handelt. [/quote]
Ich muss sagen, zu wissen was ein Verb ist hilft einem wohl kaum beim Deutsch sprechen, allerdings ist sowas sicher hilfreich wenn man andere Sprachen lernt, so habe ich es zumindest empfunden.
Allerdings: Gelernt was ein Verb wirklich ist, hab ich erst im Englischunterricht.
Bei uns hieß es in der Grunschule erst Tuwort (1. + 2.Klasse) dann Zeitwort (3.+ 4. Klasse). Im Deutschunterricht kam es so weit ich weiß nicht mehr dran, aber in Englisch nannte man es dann schließlich Verb.
Hmm. In meinem Englischunterricht hieß “Verb” aber was ganz anderes, nämlich “Prädikat” (mehr oder weniger).
Dann viel Spaß mit „Luft & Liebe“.
Glücklicherweise bin ich selbst an der Grundschule nicht mit mehreren Generationen von Benennungen für Wortarten gequält worden, sondern habe sofort die korrekten lateinischen Fachausdrücke lernen dürfen. Das hat mir am Gymnasium einen enormen Vorsprung verschafft.
Auf der anderen Seite hat ein Mitschüler in meinem Arabisch-Kurs aufgrund seiner Grundschul-“Ver”-bildung noch als Rentner große Schwierigkeiten, einen korrekten arabischen Satz zu bilden, weil er die Unterschiede zwischen Subjekt und Objekt weder nach ihren Benennungen noch inhaltlich versteht.
Mist, ich habe mich vertan: Verben und Nomen lernen sie, nicht Substantive. Insoweit Dank an den auf mich mäeutisch wirkenden Kommentar von Raimund Mayer (#6).
Ich erinnere mich gut an ein Ereignis aus meiner Grundschulzeit, bei dem ich Tunfisch zum Tuwort machen wollte, weils ja so ähnlich klingt.
Meine Mutter fands damals gut, meine Lehrerin nich so sehr. Es beweist aber, dass der Unsinn nicht erst neulich aufgekommen ist. Zumindest in Berlin.
Trotzdem können Sie stolz auf ihre Tochter sein: Sie hat etwas kapiert, was mir nach einem virtel Jahrhundert nocht nich vollständig aufgegangen ist! Wahrscheinlich bin ich deshalb kein Sprachwissenschaftler geworden.
Grüße
Ich finde die Beispiele recht interessant, nur weiß ich nicht, ob sie aus sicht des schulischen (fremd-)sprachenerwerbs so nützlich sind.
Morphologische lassen sich ebesnoleicht Irrtüber erzielen, wie durch semantische Klassifizierungen. Der Reihe laufen, springen, frieren lassen sich wunderbar Kuchen und Pferdchen hinzufügen, ohne das diese Verben wären. Daas man selbstverständlich nicht gekucht werden kann ist mir auch klar, nur kann die morphologische Klassifizierung ebenso in die Irre führen.
Beispiel aus dem Englischunterricht:
Ich: In deinem Satz fehlt das Verb.
Schüler (5. Klasse): ???
Ich: (zeige auf die Stelle im Satz an der Tafel) Da fehlt noch ein Wort.
Schüler: ???
Ich: Was macht denn Jack in Deinem Satz?
Schüler: ???
Ich: Was tut er denn?
Schuler: Achso, ein Tu-Wort. Jack doesn’t feed his hamster.
Mit diesem Dialog möchte ich mich keinesfalls über den Schüler lustig machen, sondern lediglich aufzeigen, dass es anscheinend Schüler gibt, denen die Bezeichnung hilft.
(Mir ist auch klar, dass der Schüler in seinem Beispielsatz das Hilfsverb für ein Vollverb gehalten hat, aber wenn ich jetzt auch noch mit dieser Differenzierung angefangen hätte, dann hätte er vermutlich gar nichts mehr verstanden…)
Man könnte sowas auch als “Lügen für Kinder”* definieren, die versuchen es ihnen einfach zu machen. Obs nun hilft weiss ich auch nicht.
*Eine Bezeichnung von Terry aus dem Buch Die “Gelehrten der Scheibenwelt”
Carsten (#13),
Nein, denn die Reihe laufen, springen, frieren ist ja keine morphologische Klassifizierung. Das morphologische Kriterium ist nicht die Endung -en, sondern die Tatsache, dass diese Wörter Gegenwarts- und Vergangenheitsformen haben (und Markierungen für Person und Numerus ihres Subjekts, usw.). Wie Sie selber sagen, ist das bei Kuchen und Pferdchen nicht der Fall.
Ja, das zeigt eigentlich nur, dass sich vor Ihnen niemand die Mühe gemacht hat, den Schülern Begriffe wie Verb beizubringen.
Soziobloge (#14), „Lügen für Kinder“, sehr gut. Na, es wird schon dabei helfen, es ihnen einfach zu machen. Aber natürlich hilft es nicht dabei, irgendetwas zu verstehen…
Zu #13 fällt mir ein, dass ich in einem Deutschtest (6. oder 7. Klasse) mal Zitrone durchkonjugieren sollte – sehr »kreative« Lehrerin. Die meisten haben es stattdessen duchdekliniert.
Ich wollte mit dem Beispiel “Kuchen” lediglich demonstrieren, dass auch dieses scheinbar morphologisch zu der Reihe passt. Es lassen sich also genauso falsche Analogien bilden wie “Tunfisch” = “Tu(n)wort”. Dass diese Analogie falsch ist, weiß der Lernende ja noch nicht, besonders, wenn ihm das Wort nicht bekannt ist. Durch ausprobieren mit anderen Endungen merkt er es dann (wenn er das Wort denn kennt), das ist aber für die semantische Klassifizierung ebenso der Fall.
Ansonsten würde ich mich dem Sozioblogen anschließen.
Mit kuchenden Grüßen, Carsten (noch eine Wortart, die auf ‑en Enden kann)
“Die Lehrer” sind anders als “die Sprachwissenschaftler” an die Vorgaben und Konventionen gebunden, die ihnen vorgesetzt werden. Würde ich plötzlich nach einer völlig anderen Grammatik unterrichten als üblich, gäbe das spätestens nach dem nächsten Lehrer- oder Schulwechsel einen Riesenkrawall, da bestimmte als bekannt vorausgesetzte Fachbegriffe neu eingeführt werden müssten.
Gefragt sind da wohl eher die Didaktiker und Sprachwissenschaftler an den Unis, die übrigens auch Lehramtsanwärtern ihre Kenntnisse vermitteln (sollten). Zu klären wäre hier wohl, warum kaum neuere Ansätze der Lehreraus- und ‑fortbildung stattfinden oder in den Curricula landen. Mangelt es vielleicht an tragfähigen Konzepten? Sind manche Diskussionen zu akademisch für den schulischen Alltag?
Also, nach meiner Erinnerung waren die Bezeichnungen “Tu-Wort” und “Sach-Wort” durchaus hilfreich und passend. Eine Klassifizierung danach, ob es auch eine Vergangenheitsform gibt oder nicht, hätte mich sicher verwirrt. Andererseits hatte ich wohl genug Phantasie (oder Intuition), um zu erkennen, dass man auch einige dieser Tu-Wort nicht wirklich tun kann (“Ich tu mal gut aussehen.”).
@Hedemann (#18)
Werden diese Vorgaben aber nicht im Kultusministerium ausgeklüngelt? Da kann der Lehrernachwuchs noch so gut an der Uni ausgebildet werden, wenn er bei den Konventionen, denen er zu folgen hat, nicht mitreden kann.
Disclaimer: Ich habe nur eine schwache Vorstellung davon wie restriktiv Lehrpläne de fakto für den ausführenden Lehrer sind und wie genau diese Lehrpläne in die Welt kommen. Vielleicht weiß es ja einer der anderen Kommentatoren genauer.
@Soziobiologe
Die “Lügen für Kinder” meinen aber, daß man Kindern einfache Modelle oder Theorien nahebringt, die später durch erweiterte Modelle “Lügen für Abiturienten”, “Lügen für Studenten”,“Lügen für Erwachsene”, “Lügen für Wissentschaftler”, “Lügen Teilchenphysiker”, “Lügen für Astrophysiker”, “Lügen für wen auch immer” ergänzt werden. In diesem Fall scheint das keine “Lüge für Kinder” zu sein, sondern eine später oder auch sofort störende Fehlinformation.
nebenbei: Ich war ja vor einigen Jahren sehr schockiert, als ich herausfinden mußte, daß man auch an der Uni noch mit Begriffen wie “Fürwort” konfrontiert wird. Hier habe ich damals meinem Erstaunen Ausdruck zu geben versucht.
Und ich war (auch wenn das nur bedingt hierher paßt) auch ziemlich schockiert, daß in meiner Einführung in die Sprachwissenschaft an der Uni den meisten erst noch mal erklärt werden mußte, welche Wortarten es überhaupt gibt. Von wegen “Bildungsrepublik”.
In meinen ersten beiden Schuljahren (1989–91, DDR-Lehrplan und DDR-Lehrbücher) hießen die Dinger Substantive und Verben und ich kann mich nicht erinnern, dass damit irgendjemand ein Problem hatte. Als wir dann in der 3. Klasse plötzlich westdeutsches Lehrmaterial bekamen tauchten dann dort Begriffe wie Tuwort und Dingwort auf, die natürlich weder von Lehrern noch von Schülern ernsthaft verwendet wurden. Im Gegenteil, man war irgendwie stolz darauf, dass man stattdessen so wissenschaftlich klingende Begriffe wie Verb und Substantiv kannte. (Auch Begriffe wie Wer-Fall, Wessen-Fall usw. dienten eher der allgemeinen Belustigung, im Unterricht hieß es natürlich Nominativ, Genitiv usw.)
Am Gymnasium hießen die Verben dann auch offiziell wieder Verben und die Substantive plötzlich Nomen (zumindest in den Lehrbüchern) — man erklärte uns, das sei wohl so ’ne Ost-West-Sache (im Osten Substantiv, im Westen Nomen) und wir können verwenden was wir wollen.
@Erchen
Ja das stimmt, die Lügen für Kinder müssen nachher entsprechend erweitert werden. Ich ging davon aus, dass in den weiterführenden Schulen, dann die Modelle der Sprache vertieft werden. Ich meine jedenfalls, das dies bei uns so war. Wenn das nicht so ist, führt das natürlich nicht weiter.
Ich kenne sogar Fälle, wo Viertklässler bei der Satzgliedanalyse lernen, dass Subjekte im Wer-Fall stehen und immer Dingwörter sind, weswegen sie auch Personalpronomen so gut wie nie als Subjekte in Sätzen erkennen.
Auch von d i e s e n Kinden aus den gutbefragten Elternhäusern und gutsituierten Grundschulen (in den super gut gelegenenen Schulbezirken und Stadtteilen…) erfährt das Lehrpersonal, dass sie — bei Eintritt in die 5. Klasse (sagen wir mal, des ganz normalen Gymnasiums; Gesamtschule ist ja eine Utopie “ex abrupto” (so Schmidt-Nachahmung durch Ralf Husmann, in KulturSPIEGEL 4/2009) — alles vergessen haben, was sie mit doll kopierten 30 Seiten Übungsblättern in GS 3 und 4 gelernt haben: alles grammatische Getue, was nicht mit der Alltags-und Familiensprache im ordinär-kommunkaiven Einklang stand…
.. und sie lernen es ‘flinkest’, wenn neben der Fremdsprache ab Klasse 5 der Stoff im Deutschunterricht eingeübt und dauerhaft wiederholt wird.
(Sonst bleibt da eben nix hängen in den Kinderköpfen v o r dem Übergang in die logisch-kognitive Phase (wird Piaget noch gekonnt?), was sich h i e r so schön fachlich dressiert anhört! — Und sich entwickelndes Kinderdenken hat nix mit Vaterschwulst und Fachgelüge und BLOG-Angeberei zu tun.)
Reyntjes (#26), dies ist eine einmalige Abmahnung: Ihre Meinung, wenngleich sie in diesem Fall reichlich unqualifiziert ist, ist hier immer willkommen. Ihre Unverschämtheiten nicht. Wenn Sie sich auskotzen wollen, eröffnen Sie bitte ein eigenes Blog oder trollen Sie sich zurück ins VDS-Forum.
Ich muss dringend mal ein Feedback zum Blogeintrag selbst geben. Die Geschichte ist so putzig und zeugt von einem schlauen kleinen Mädchen und einem geschickt erklärenden Vater, der genau an der richtigen Stelle inne hält, dass ich mich nicht wundere, dass es so viele Diskussionsbeiträge gibt. Der Dialog könnte so in die Schulbücher übernommen werden. Wirklich herrlich. Ich hoffe sehr, dass er authentisch ist und dass Deine Tochter bald Substantive bzw. Verben in der Schule durch nimmt. Der Dialog ist übrigens ein exzellentes Beispiel dafür, wie man Dinge mittels der eigenen Erkenntnisse des Lernenden lehrt. Mein letzter Satz war etwas gestelzt, aber ich bin ja auch kein Sprachwissenschaftler.
In Ö zuerst Tunwörter, dann Zeitwörter, und bei mir in der 4. Klasse zusätzlich Verben (sonst erst im Gymnasium). Genauso Namenwörter, dann Nomen; Hauptwörter sind glaube ich nie vorgekommen, und Substantive schon gar nicht. Wiewörter*, Eigenschaftswörter, Adjektive.
* Was ja auf deutsch gar nicht funktioniert: Die Antworten auf wie? sind Adverbien, oder zumindest verhalten sie sich so. Das wird einem übrigens nie beigebracht, und man stolpert dann im Englisch‑, Französisch‑, Spanisch- und/oder Russischunterricht darüber, wie bizarr das Deutsche** in dieser Hinsicht ist. Hat zwei Jahre gedauert, bis ich das kapiert hatte.
** Mit Ausnahme der höchstalemannischen Dialekte (Züridütsch im Unterschied zu Bärndütsch). Siehe “Lügen für Erwachsene”.
Naja, dieser Schüler scheint “Tu[n]wort” eben gekannt zu haben, und “Verb” nicht.
Also, daß Wortarten mit Semantik nichts zu tun haben, würde ich heftig bestreiten. Sicher gibt es einen Haufen Wörter in jeder Wortart, die aus der Reihe tanzen, aber die prototypischsten Beispiele sind für Nomen nun eben greifbare Dinge, für Verben Tätigkeiten, usw. Die Ausnahmen beweisen eigentlich nur, daß Sprecher einer Sprache in der Lage sind, eine Tätigkeit so darzustellen, daß sie wie ein greifbares Ding verstanden wird, und umgekehrt.
Natürlich sind in der einzelsprachlichen Analyse morphologische und syntaktische Gegebenheiten aufschlußreicher, da sie fossilisierter sind als die Semantik. In jeder typologischen Studie werden Wortarten aber immer noch funktional-semantisch verstanden. z.B. wird “Adjektiv” meistens so definiert, daß Wörter wie “gut”, “rot” oder “groß” als Adjektive gelten. Anders läßt sich so eine Fragestellung im Sprachvergleich ja gar nicht verfolgen, da es kaum universale morphologische oder syntaktische Merkmale irgendwelcher Wortarten gibt.
(Züridütsch ist kein Höchstalemannisch. Höchstalemannisch wäre z.B. Walliser Dialekt oder Senslerisch.)
Ehrlich gesagt frage ich mich, ob es didaktisch nicht einfach sinnvoller ist, Kindern beizubringen, daß Verben (oder wie auch immer man sie nennt) eben meist Tätigkeiten beschreiben. Würde man in der Schule immer mit dem Komplizierten anfangen, käme man nirgendwohin. Man beginnt in der Physik ja auch nicht mit der Quantentheorie. Ob wirklich alle Drittkläßler in der Lage sind, so komplexe Themen (und komplex ist das Thema Wortarten einfach nach wie vor) linguistisch-abstrakt zu verstehen, naja, ich weiß es nicht.
Ich möchte P. Frasa zustimmen. Wir haben in der Grundschule (Schleswig-Holstein, um 1970) Tuwörter und Dingwörter durchgenommen und uns ziemlich schnell darüber amüsiert, dass “schlafen” ja ein Nichtstun und “Luft” kein Ding ist. Aber irgendwie hat sich die Vorstellung, es hier mit einer prototypischen Definition zu tun zu haben, wohl in unseren Kinderhirnen festgesetzt. Jedenfalls haben wir das System kapiert. Wenn ich mir mangels eigener Kinder den Nachwuchs von Geschwistern und Freunden anschaue, könnte ich auf die Idee kommen, dass eine Erklärung, zu der einem Grundschulkind gleich eine Ausnahme einfällt, didaktisch gar nicht so schlecht ist: Man denkt nämlich drüber nach und merkt sich den Kram. (Wenn ich so nachdenke, vermute ich fast, dass während meiner Grundschulzeit am Lehrplan geschraubt wurde, denn auch “Zeitwort” und “Namenwort” gehören zu den tieferen Sedimentschichten in meinem Hirn.)
Ansonsten bin ich bestimmt nicht der einzige, der deutsche Grammatik mit Beginn des Lateinunterrichts kapiert hat. Da wurde das Verständnis der Kategorien nämlich wichtig…
Ups. Habe ich mir falsch gemerkt. :-] Danke!
Zum Thema Schulgrammatik und dem Würgreiz, den sie verursacht, bin ich neulich auf [1] auf Harald Schweizer: “Krach oder Grammatik?” [2] gestoßen. Autor und Verlag sagen mir garnichts, aber den ergooglebaren Auszug [3] finde ich interessant. Kennt das jemand (oder auch ähnliches)? Ich hadere noch mit dem Kaufen, einfach aufgrund der Diskrepanz von Preis und meinigem Portemonnaiinhalt.
[1] http://blog.ueber-setzen.com/?p=425
[2] http://www.amazon.de/Krach-oder-Grammatik-Streitschrift-Sprachunterricht/dp/3631571828
[3] http://www-ct.informatik.uni-tuebingen.de/daten/krach2.pdf
@33: Nunja, die Lehrveranstaltungen von Harald Schweizer werden nicht umsonst in der Tübinger Sprachwissenschaft und Computerlinguistik nicht als Kurse angerechnet. Letztendlich ist er ein in Ungnade gefallener Theologe, der bei den Informatikern abgestellt wurde und sich jetzt auf reichlich idiosynkratische Weise der Sprachwissenschaft zuwendet. Von dem her sind seine Werke immer mit Vorsicht zu lesen. Man wird jedenfalls auch als Student das Gefühl nicht los, dass Harald Schweizer in einigen Punkten die sprachwissenschaftlichen Grundlagen fehlen.
Beim Durchlesen des Auszuges sind mir jedenfalls auch schon einige Dinge negativ aufgefallen. Ich meine, er argumentiert ständig mit Ausnahmen. Das kann man nicht machen, man kann nicht einfach mit den Ausnahmen anfangen, denn es gibt IMMER Ausnahmen.
Sein Ärger über das Wort “Genus” z.B. ist total aus der Luft gegriffen, der Begriff ist nun mal absolut Standard (und das lateinische Wort “genus” weist da ja auch in die richtige Richtung, das ist nun wirklich nicht auf den männlich-weiblich-Gegensatz fixiert), oft auch in der englischen Form “gender”. Ob es nun 3 oder 20 Genera sind, spielt da nicht so eine Rolle.
Ich verstehe schon den Titel des Buches nicht. Die Auszüge fand ich eher nervig, der Autor scheint auf Teufel komm raus zu versuchen lustig zu sein. Insgesamt wenig Substanz.
Ich denke schon, dass man Schulkindern mit dem Begriff “Tuwort” die Kategorie “Verb” nahebringen kann. Mit Bezug auf die Beispiele im Text:
“Was tut man, wenn man im Winter in der Badehose rausgeht?”
“Man friert .”
“Er sagte, wir würden sicher ganz schön frieren, und das taten wir tatsächlich.”
“Er sagte, der Kuchen würde uns sicher schmecken, und das tat er auch.”
Aber nicht: “Was er erzählte, klang nach reinem Unfug, und es war tatsächlich reiner tun .”
- Ich denke, das deutsche “tun” hat eine schwache Bedeutung, eher wie englisch “do” (was ja auch als Dummy für Vollverben fungieren kann), und nicht wie “make”. Wenn man darauf hinweist, kann man den Begriff “Tuwort” sinnvoll verwenden; es heißt ja nicht “Machenwort” oder “Aktionswort”.
@Jo (#37)
Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Man könnte zusätzlich noch auf die umgangssprachliche Verwendung von “tun” verweisen, etwa:
“Tut der Kuchen dir schmecken?”
Im Englischen muß man sich ja entsprechend ausdrücken: “Do you like the cake?”
Allerdings paßt “Tuwort” nicht zum Verb sein. Insofern ist “Zeitwort”, was ich der Schule gelernt habe, doch allgemeiner verwendbar.
Im übrigen ist es m.E. reichlich gleichgültig, welche Bezeichnungen man kleinen Kindern beibringt. In jedem Fall muß der Lehrer genauer erklären, was gemeint ist, egal welches Etikett er den Wortarten aufklebt.
Hier stimme ich Ihnen wohl ausnahmsweise uneingeschränkt zu.
Das wird sich regional unterscheiden. Wenn ich einen Thema-und-Kommentar-Satz machen will und mich dabei um die deutsche Wortreihenfolge herumschwindeln muß, kommen schon so Sachen heraus wie “gut sein tut es nicht”.
Allerdings würde ich dergleichen kaum schreiben.
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Obligatorischer Witz:
“ ‘Tun’ tut man nicht!”
“ ‘Tun’ tut man nicht tun!”
Diejenigen, die sich für Harald Schweizers Ansätze interessieren (auch die Kritiker), seien auf seine website http://www.alternativ-grammatik.de hingewiesen. Die ist zwar noch im Aufbau, bietet aber jetzt schon viele Inhalte zu allerlei Themenfeldern der Grammatik. Was man mindestens durch einen Besuch gewinnt, ist eine andere Perspektive.
wissensvermittlung und wissensdrang hin oder her. ich verstehe nicht recht, wieso man jenes gespräch mit diesem kind geführt hat. wird es nicht von jenem zeitpunkt an probleme in seiner sozialen funktion in der schule gehabt haben? seien tu-wörter mal verben und jene diskussionen um die wortarten doch wissenschaftlich gesehen mehr als berechtigt; doch warum missbraucht man immer “die kleinen” nur um sich seiner wissenschaftlichen position zu bemächtigigen?