Metaphorische Gestik

Von Anatol Stefanowitsch

Ein kurz­er Hin­weis: Mein Münch­n­er Kol­lege Hans-Jörg Schmid spricht in der Süd­deutschen Zeitung vom Sam­stag und in der BR-Sendung „Sozusagen“ vom 6. März all­ge­mein­ver­ständlich und auf dem Stand der Forschung über Metaphern.

Er spricht dort unter anderem über die Bedeu­tung, die Meta­phern über die Sprache hin­aus für unsere Denkprozesse haben und weist unter anderem auf fol­gende, inter­es­sante Quelle für dies­bezügliche Evi­denz hin:

Eine Frau spricht über eine Beziehung zu einem Mann. Sie sagt, es sei immer so ein Auf und Ab gewe­sen, es sei von ganz steil oben an und dann nach ein­er Abflachung immer etwas hoch und runter gegan­gen. Und dazu macht die Sprecherin eine kreative Kur­ven­be­we­gung mit der Hand, während die Meta­pher — eine Beziehung als Weg, der Höhen und Tiefen hat — ja sehr kon­ven­tionell ist. Die Gestik zeigt also, dass eine Stan­dard-Meta­pher trotz­dem im Bewusst­sein sehr konkret wird, wenn man inten­siv über ein The­ma spricht — son­st wäre die Hand­be­we­gung nicht so bedacht und indi­vidu­ell, also eine metapho­rische Gestik, die weit über das Stan­dard­reper­toire hinausgeht.

Beobacht­en Sie doch in den näch­sten Tagen mal sich und Ihre Gesprächspart­ner und suchen Sie nach solchen metapho­rischen Gesten. Ich weiß zum Beispiel, dass ich oft diese Geste mache, wenn ich Dinge wie Mach dir darüber keine Sor­gen mehr oder Schon vergessen:

Es gibt sich­er ver­schiedene Erk­lärun­gen für diese Geste, aber die, die mir spon­tan ein­fällt, ist die fol­gende: In der deutschen Sprache reden wir über die Zeitlin­ie so, als ob die Zukun­ft vor uns und die Ver­gan­gen­heit hin­ter uns liegt:

  • Da haben wir ein schönes Stück Arbeit vor uns.
  • Wir bewe­gen uns auf eine Krise zu.
  • Das liegt weit zurück
  • Eine anstren­gende Zeit liegt hin­ter uns.

Und mit mein­er Geste ver­schiebe ich ein Ereig­nis metapho­risch in die Vergangenheit.

Wer sich wis­senschaftlich mit diesem The­ma auseinan­der­set­zen will (Stu­den­ten: BA-Arbeit­s­the­men!), dem sei das fol­gende Buch mein­er Kol­le­gen Alan Cien­ki und Cor­nelia Müller als Ein­stieg empfohlen:

CIENKI, Alan und Cor­nelia MÜLLER (2009): Metaphor and Ges­ture. Ams­ter­dam: John Ben­jamins. [Google Books]

17 Gedanken zu „Metaphorische Gestik

  1. Julius

    Bei ein­er der let­zten Reden unser­er Kan­z­lerin dachte ich noch: Die Gesten sehen so ein­studiert aus, daß, egal, was sie dazu sagt, irgend­wie unehrlich wirkt/klingt… Gibt es eigentlich auch bei Gestik sowas wie Konversationsmaximen?

    Bei mir sel­ber habe ich fest­gestellt, daß ich sowohl bei ‘keine Ahnung’ als auch bei ‘x ist heikel’/‘kann man nicht mit Gewis­sheit sagen’ dazu neige, die Fin­ger auseinan­der zu spreizen — deutet evtl. Offen­heit der Entscheidung/im Resul­tat an — kA.

    P.S.: War C. Müller nicht neulich irgend­wo im TV zu sehen? Wenn ich nur erin­nerte, wo… *stirn­run­zel* *kopfkratz*

    Antworten
  2. Patrick Schulz

    Hm, ich kön­nte ja jet­zt mal pro­vokant sein und fra­gen, was das mit Lin­guis­tik zu tun hat? Oder ich bin selb­stkri­tisch und frage mich, ob Prag­matik nicht doch zur Lin­guis­tik dazugehört…

    (Nichts für ungut, aber ich finde fach­liche Kon­tro­ver­sen nun­mal inter­es­san­ter als end­lose Diskus­sio­nen um Reli­gion oder Sprachnörgelei)

    Antworten
  3. Achim

    Es kon­nte kein passendes Plu­g­in gefun­den werden.”

    Sagt jeden­falls Fire­fox, und der Inter­net Exploder merkt nicht mal, dass es hier etwas auszuführen gibt.

    Antworten
  4. Wentus

    Ein Schatz für die Samm­lung metapho­risch­er Gesten ist sicher­lich die Gebär­den­sprache, die ja genau die im Video dargestellte Geste als “gestern” oder “ver­gan­gen” benutzt. 

    Weit­er­hin gibt es natür­lich die Hin­weise auf bes­timmte Kör­perteile als Aus­druck für bes­timmte Gefüh­le, wie z.B. das Stre­ichen über den eige­nen Bauch als Hin­weis auf einen guten Geschmack, obwohl der ja nur im Mund, oder noch exak­ter in der Nase, zustandekommt.

    Da es wis­senschaftliche Hin­weise darauf gibt, dass die frühkindliche und die früh­men­schliche Sprache in erster Lin­ie eine Gebär­den­sprache ist, ist dieses The­ma also Lin­guis­tik par excellence.

    Antworten
  5. P.Frasa

    In der deutschen Sprache reden wir über die Zeitlin­ie so, als ob die Zukun­ft vor uns und die Ver­gan­gen­heit hin­ter uns liegt”

    Ich würde sog­ar meinen, daß das auf abso­lut jede Sprache zutrifft? Wobei ein Gegen­be­weis natür­lich span­nend wäre, aber Raum -> Zeit ist ja ein abso­lut stan­dard­mäßiger Grammatikalisierungsweg.

    Antworten
  6. Anatol Stefanowitsch

    P. Frasa (#8), nein, die Ver­sprach­lichung von Zeit ist flex­i­bler. Im Man­darin zum Beispiel ist die Zukun­ft oben und die Ver­gan­gen­heit unten (Link) und im Aymara ist die Ver­gan­gen­heit vorne und die Zukun­ft hin­ten (Link). Ich nehme an, dass das deutsche Mod­ell sta­tis­tisch das häu­fig­ste in den Sprachen der Welt ist, aber das kön­nte natür­lich ein rel­a­tivis­tis­ch­er Fehlschluss sein.

    Antworten
  7. Wolfgang Hömig-Groß

    Ich habe sog­ar irgend­wo mal eine plau­si­ble Erk­lärung dafür gele­sen, warum in (auch) manchen afrikanis­chen Sprachen die Zukun­ft hin­ten imag­iniert wird: Die Ver­gan­gen­heit liegt vor uns im Sicht­bere­ich, die Zukun­ft ist unsicht­bar, also hin­ter uns. Schon Klasse, dass man alles auch immer anders machen kann. Ähn­liche Unter­schiede soll es übri­gens auch in der Wahrnehmung von Raum und Rich­tung geben. Wenn ich nur wüsste, wo ich das gele­sen habe … Es ging um einen Ver­such, bei dem Proban­den eine zer­störte räum­liche Ord­nung sin­ngemäß wieder her­stellen soll­ten, was Asi­at­en anders lösen als Europäer (die ersten nach Him­mel­srich­tung, die let­zeren in Bezug auf sich selbst).

    Antworten
  8. Wolfgang Hömig-Groß

    Ach so: Welch­es Plu­g­in brauche ich denn für obi­gen Inhalt? Mein Fire­fox sagt immer, ich müsse noch ein Plu­g­in instal­lieren, aber die Automatik gibt nur ein “unbekan­ntes Plu­g­in” an. Das ist lei­der etwas zu unspez­i­fisch, da ich zu viele unbekan­nte Plu­g­ins kenne. Und wie nen­nt man eigentlich Plu­g­ins auf deutsch? Stöpsel? Pfropfe? Viele Fra­gen, wenige Antworten.

    [A.S.: Ich habe oben einen Nach­trag mit Links zu ver­schiede­nen Medi­en­for­mat­en und entsprechen­den Pro­gram­men eingefügt.]

    Antworten
  9. Reyntjes

    Die ein­dringlich­ste lit­er­arische Ver­ar­beitung des The­mas “her­ab­set­zende, abwehrende, demüti­gende, ‘abschnei­dende’ Geste” ist Ernst Wiecherts frühe Erzäh­lung “Die Gebärde”.

    (Zur Entste­hung: E.W. ver­faßte diese für ihn untyp­is­che Erzäh­lung 1932 und reichte sie für einen Erzählwet­tbe­werb ein; was abgle­htn wurde. Er wollte dann den Text inte­gri­eren in seine (erste) Auto­bi­ogra­phie “Wälder und Men­schen. Eine Jugend” (1936).

    Die Erstveröf­fentlichung kam aber erst nach dem Ende der Nazi-Herrschaft im Jahre 1947 in einem Schweiz­er Ver­lag zus­tande. — Ich ver­füge über eine pri­vate, nicht veröf­fentlichte Arbeit über diese Erzäh­lung, hin­sichtlich Entste­hung, Wort­wahl, Stilmit­tel, par­alin­guist­siche Gestik, Struk­tur und Intention…) 

    Text der Erzäh­lung im Netz verfügbar:

    http://www.ernst-wiechert.de/Ernst_Wiechert_Der_Fremde/Ernst_Wiechert_Herbig_Die_Gebaerde_und_Der_Fremde.pdf

    Antworten
  10. David Marjanović

    Im Man­darin zum Beispiel ist die Zukun­ft oben und die Ver­gan­gen­heit unten (Link)

    Nein, umgekehrt, heißt es dort. Es wird sog­ar der Ver­gle­ich dazu gezo­gen, dass man auf dem Com­put­er von oben nach unten liest und nach unten scrollen muss, um in die Zukun­ft zu kommen.

    Wenn ein chi­ne­sis­ches Buch zwei Bände hat, heißen sie “oben” und “unten” statt “1” und “2”; län­gere Serien wer­den durchnumeriert.

    Nur für Geolo­gen, Paläon­tolo­gen, und ver­mut­lich Archäolo­gen ist die Ver­gan­gen­heit unten und die Gegen­wart oben! 🙂

    Antworten
  11. Lars von Karstedt

    @Wolfgang Hömig-Groß (10)

    Es ging um einen Ver­such, bei dem Proban­den eine zer­störte räum­liche Ord­nung sin­ngemäß wieder her­stellen soll­ten, was Asi­at­en anders lösen als Europäer (die ersten nach Him­mel­srich­tung, die let­zteren in Bezug auf sich selbst).

    Solche Ver­suche wur­den u.A. von Mitar­beit­ern des Max-Planck-Insti­tuts für Psy­cholin­guis­tik in Nijmegen durchge­führt. Es ging dabei um die Frage, welche Rolle die Sprache für die Raumkog­ni­tion spielt, also, wie räum­liche Wahrnehmung und Ori­en­tierung in der jew­eili­gen Sprache kodiert wer­den. Die Fest­stel­lung, dass Asi­at­en “es anders machen” als Europäer ist allerd­ings zu pauschal.

    Bei Sprachen mit einem sog. Absoluten Sys­tem wer­den Rich­tun­gen im Sinne von Him­mel­srich­tun­gen ver­bal­isiert, also z.B.: “Hol mal bitte den Ball, der da süd-östlich von dem Baum liegt. Diese find­en sich auf mehreren Kon­ti­nen­ten, sind allerd­ings rel­a­tiv sel­ten. Ein in der ein­schlägi­gen Lit­er­atur häu­fig genan­ntes Beispiel ist das Guugu Yimithirr, eine Aus­tralis­che Sprache, der wir das Wort Kän­gu­ru ver­danken (ich schlage vor, dieses schlimme Fremd­wort umge­hend in “Hüpf­beut­ler” zu ändern). Die häu­fig­ste Vari­ante sind rel­a­tive Sys­teme, bei denen Rich­tun­gen z.B. entwed­er in Rela­tion zu Sprech­er oder Hör­er oder zu expliz­it benan­nten Objek­ten aus­ge­drückt wer­den (Hol mal bitte den Ball, der da links vom Baum liegt). Andere Vari­anten beziehen oft die unmit­tel­bare Umwelt der Sprech­er ein, also z.B bergauf/bergab, Rich­tung Meer/Richtung Land usw. Auf der Home­page der Lan­guage and Cog­ni­tion Group des MPI Nijmegen gibt es eine Rei­he von Literaturhinweisen.

    Antworten
  12. Lars von Karstedt

    Was ich jet­zt vergessen habe um den Unter­schied zwis­chen Absolutem und Rel­a­tivem Sys­tem zu verdeut­lichen: Beim Absolutem Sys­tem ist es völ­lig egal, wo Sprech­er und Empfänger sich im Ver­hält­nis zum Baum befind­en; der Ball wird immer süd-östlich vom Baum liegen. Im Fall des Rel­a­tiv­en Sys­tems ist es hinge­gen wichtig, wo sich Sprech­er und Empfänger in Rela­tion zum Baum befind­en. Ste­hen sie nördlich des Baums ist “links vom Baum” ein ander­er Ort, als wenn sie südlich des Baums stünden.

    Antworten
  13. David Marjanović

    Ein in der ein­schlägi­gen Lit­er­atur häu­fig genan­ntes Beispiel ist das Guugu Yimithirr

    In vie­len oder allen solchen Sprachen gibt es übri­gens auch keine Wörter für “links” und “rechts”. “Schau, da ist eine Ameise auf deinem östlichen Bein!”

    Andere Vari­anten beziehen oft die unmit­tel­bare Umwelt der Sprech­er ein, also z.B bergauf/bergab, Rich­tung Meer/Richtung Land usw.

    Tlin­git: vier Verbprä­fixe für “an Land zur Küste”, “an Land von der Küste weg”, “auf dem Meer zur Küste”, “auf dem Meer von der Küste weg”.

    Antworten
  14. P.Frasa

    argh, dieses The­ma jet­zt wieder… ich hab meine let­zte Sem­i­narar­beit genau über dieses The­ma verfasst…

    So Sys­teme wie Guugu Yimit­thir oder Tzeltal (benutzt ein “intrin­sis­ches” Sys­tem, das ist noch mal etwas anders) sind zwar vielle­icht sel­ten, aber es ist doch all­ge­mein in eini­gen Sprachen noch so, daß z.B. “oben” und “unten” eine erhe­bliche Rolle im lin­guis­tis­chen Sys­tem darstellen. Wird oft überse­hen, wenn man sich am Stan­dard ori­en­tiert, aber z.B. in ale­man­nis­chen oder auch ital­ienis­chen Dialek­ten des Alpenge­bi­ets ist die ver­tikale Dimen­sion ziem­lich zen­tral im ganzen Denken und Sprechen ver­ankert. Extrem­stes Beispiel für so etwas sind aber die Kiran­ti-Sprachen in Ost­nepal, der bis­lang einzig bekan­nte Fall von “Höhenka­sus” (d.h. ver­schiedene Loka­tivka­sus je nach Höhe des Objek­ts rel­a­tiv zum Sprecher).

    Die Unter­suchun­gen vom MPI sind zwar sehr gut, aber ich denke, nicht ganz so sys­tem­a­tisch. Es wird z.B. aus­ge­blendet, daß wir auch im Deutschen oder Englis­chen eine Rei­he an anderen Möglichkeit­en haben, den Raum zu beschreiben, als nur mit “links” und “rechts”, etc. etc. Darauf wird bei Leonard Talmy (“Toward a Cog­ni­tive Seman­tics”) etwas mehr eingegangen.

    Wichtig ist vor allem, daß Sprachen wie Tzeltal und so gewisse Sys­teme häufiger/spontaner benutzen als wir. Wir kön­nen zwar auch Him­mel­srich­tun­gen ver­wen­den (“nördlich von…”), aber eben sel­tener in pro­to­typ­is­chen, spon­ta­nen Sit­u­a­tio­nen. Ist also let­zten Endes wieder eine Frage von “habit­u­al thought”, Whorf läßt grüßen.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.