Ich habe gestern über den Verein „Pro Reli“ geschrieben, der in Berlin versucht, per Volksentscheid das Pflichtfach „Ethik“ zu einem Wahlpflichtfach herabzustufen und dafür den Religionsunterricht, der in Berlin aus historischen Gründen freiwillig ist, ebenfalls zu einem Wahlpflichtfach zu machen. Die Berliner Schüler/innen, die derzeit im Ethikunterricht nach gemeinsamen Werten suchen und sich darüber hinaus im Religionsunterricht mit der Religion ihrer Wahl befassen können, müssten sich dann für einen der beiden entscheiden.
Der Verein „Pro Reli“ verschweigt den derzeitigen Stand der Dinge geschickt, und tut auf Plakaten und Transparenten so, als ob es in der Abstimmung darum ginge, einen Religionsunterricht überhaupt erst möglich zu machen. Und der Abstimmungstext auf dem Stimmzettel trägt entscheidend dazu bei, dieses Missverständnis bei oberflächlich informierten Wählern zu verfestigen. Er lautet:
Abgestimmt wird über den Gesetzentwurf über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion, der im Amtsblatt für Berlin vom 6. März 2009, Seite 570, veröffentlicht ist und im Wesentlichen folgenden Inhalt hat:
Ethik‑, Religions- oder Weltanschauungsunterricht werden als gleichberechtigte ordentliche Unterrichtsfächer in den öffentlichen Schulen Berlins angeboten. Jede Schülerin und jeder Schüler an allgemeinbildenden Schulen muss eines dieser Fächer belegen. Schülerinnen und Schüler dürfen — bei einem Alter bis 14 Jahren ihre Eltern — frei wählen, an welchem dieser Fächer sie teilnehmen.
Abstimmungsfrage:
Stimmen Sie diesem Gesetzesentwurf zu? Ja Nein [Der Landeswahlleiter für Berlin]
Da auf dem Stimmzettel mit keinem Wort erwähnt wird, dass sowohl Ethik- als auch Religionsunterricht bereits angeboten werden, entsteht durch den Satz „Abgestimmt wird über den Gesetzentwurf über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion“ natürlich der Eindruck, es gäbe derzeit mindestens eins der beiden Fächer nicht (vor allem, da das Wort Wahlpflichtbereich den meisten Stimmberechtigten unbekannt sein dürfte). Dass Religion und Ethik nun als „gleichberechtigte ordentliche Unterrichtsfächer“ angeboten werden sollen, klingt aus dieser Perspektive so, als ob hier alle etwas hinzugewännen, obwohl in Wirklichkeit ein großer Teil der Schüler etwas verlieren würde (nämlich eine weltanschaulich neutrale Beschäftigung mit Ethik).
Einige der Leser/innen haben in den Kommentaren auf das Problem hingewiesen, dass bei einem Volksentscheid immer eine Seite für ein „Nein“ werben muss und damit möglicherweise von vorneherein einen psychologischen Nachteil hat. Im Zusammenspiel mit dem unklar formulierten Text des „Pro-Reli“-Stimmzettels ist das hier sicher der Fall.
Kann gut sein. Ich als SPD-Mitglied und Christ finde es sehr schade, dass sich der Berliner Senat nicht um eine Kompromisslösung gekümmert hat, sondern vielmehr so eine harte Linie fährt und meinen, einen neuen Kulturkampf führen zu müssen. Ich würde für Ja stimmen, hätte ich die Möglichkeit dazu.
“und im Wesentlichen folgenden Inhalt hat” — das ist also eine Zusammenfassung des Landeswahlleiters, ja? Das hätte man in der Tat allgemeinverständlicher formulieren können …
Ich sag nur “Removes the right of same-sex couples to marry” — dagegen hat es in Kalifornien übrigens Klagen der Initiatoren von Proposition 9 gegeben, die allerdings abgelehnt wurden.
Christian (#1), dies ist eine ernstgemeinte Frage:
Aktuelle Situation: Ethik und optional Religion.
„Pro-Reli“-Antrag: Entweder Ethik oder Religion.
Welche Art von Kompromiss stellen Sie sich zwischen diesen Positionen vor? Mir fallen mehrere Alternativlösungen ein, aber keine von denen ist ein Kompromiss:
- Optional Ethik und optional Religion (würde am derzeitigen Status des Religionsunterrichts nichts ändern und wäre nur dann ein Kompromiss, wenn „Pro Reli“ tatsächlich zugeben würde, dass sie eigentlich „Anti Ethik“ heißen müssten);
- Religion und optional Ethik (wäre deutlich extremer als der „Pro-Reli“-Antrag);
- Nur Religion (wäre viel extremer als der „Pro-Reli“-Antrag);
- Nur Ethik (wäre tatsächlich eine „harte Linie“ seitens des Senats);
- Weder Ethik noch Religion (wäre ein völliges Vermeiden einer Entscheidung und vielleicht noch am ehesten als „Kompromiss“ zu bezeichnen, da niemand bekommt, was er/sie will).
Das alles ist — mit Verlaub — ausgemachter Quatsch.
Ich empfehle die Lektüre des Berliner Gesetzes über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. Danach kann Gegenstand eines Volksbegehrens/Volksentscheids nur der Erlaß eines neuen oder die Änderung oder Aufhebung eines bestehenden Gesetzes sein. Der Antragsteller für ein Volksbegehren/Volksentscheid ist verpflichtet, dem Antrag einen ausgearbeiteten, mit Gründen versehenen Gesetzentwurf beizufügen.
Abgestimmt wird somit über den vorgelegten Gesetzentwurf. Wer zustimmt, wählt “Ja”, wer nicht zustimmt, wählt “nein”. So einfach ist das, und der Antragsteller hat darauf keinerlei Einfluß. In $ 34 (2) des Gesetzes heißt es zudem:
“(2) Die in dem Volksentscheid jeweils zu stellende Frage ist
vom Landesabstimmungsleiter oder von der Landesabstimmungsleiterin
so zu formulieren, daß sie mit „Ja“ oder „Nein“
beantwortet werden kann. Zusätze sind unzulässig.”
Wer sich über Gründe und Gegengründe informieren will, kann das in den “Amtlichen Informationen zum Volksentscheid” des Landesabstimmungsleiters tun.
Die Unterstellung, der Antragsteller für ein Volksbegehren/Volksentscheid könne den Wahlzettel oder die Alternative Ja/Nein manipulieren, ist daher völlig abwegig.
Nörgler (#4), ich verliere langsam die Geduld mit Ihnen. Welcher Teil Ihres Kommentars ist ein Beleg für Ihre Behauptung, „das alles“ sei „ausgemachter Quatsch“? Im Gegenteil, Sie bestätigen doch Jens’ Vermutung, dass der Landeswahlleiter selbst den Text formuliert. Das Gesetz, über das abgestimmt wird, ersetzt ein bestehendes, also spricht nichts dagegen, auch dieses in der Zusammenfassung zu erwähnen. Und niemand hier hat auch nur angedeutet, dass die Alternative „Ja/Nein“ von irgendjemandem manipuliert worden ist. Ich lasse Ihnen hier große Freiheiten mit Ihren Kommentaren, solange Sie etwas Inhaltliches beitragen (und wenn es noch so falsch ist), dürfen Sie hier auch gerne einen rauen Tonfall pflegen (zumindest mir gegenüber). Aber Ihre mit allgemeinen Beleidigungen garnierte Beispiele Ihres mangelnden Textverständnisses fangen an, mich zu langweilen.
Na ja, wer nie vor die Tür kommt, Herr Nörgler, wird sicher eher einmal Ideal mit Realität verwechseln, nich’? Da auch in Berlin irgendjemand einen Antrag auf ein Volkbegehren/einen ‑entscheid stellen muss — und der Landeswahlleiter dies nicht von sich aus machen kann, hat der Antragsteller sehr wohl einen großen Einfluss auf die Formulierung. Tatsächlich wäre es vermessen und vermutlich sogar unzulässig, wenn die zuständige Stelle der Exekutive [= Regierung] Texte auf Entscheidungszetteln selbst verfasst.
Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass im Büro des Landeswahlleiters eine Formulierung entwickelt wird, die Bürokratese ist — aber selbst dies geht nur in Absprache mit den Initiatoren.
On another note, die bestehende Regelung ist bereits ein Kompromiss, jeder kann religiös gefärbten Unterricht in der staatlichen Schule nehmen [was ohnehin nur gesellschaftlich geduldet ist; verfassungsrechtlich fragwürdig bleibt es], keiner muss. Ich frage mich ohnehin schon seit Jahrzehnten — mein Alter war noch einstellig, als mir das Thema auffiel -, weshalb Religionsunterricht in Deutschland konfessionsgebunden und einseitig ist. Es spielt dabei keine Rolle, ob Imame, Pfarrer, Pastoren oder Scientologen [kA wie deren Berufsbezeichnungen lauten] unterrichten.
Eine gute Lösung wäre ein vergleichender Religionsunterricht, also eine Betrachtung der Religion und des Glaubens im gesellschaftlichen Zusammenhang durch die Jahrtausende. Denn im Grunde ist das Fach an sich nicht schlimm, ja, es ist genauso ein Fach wie Deutsch, Geschichte, Englisch, Erdkunde oder Wirtschaft. Man kann es also mit üblichen wissenschaftlichen Methoden fassen, zumindest solchen, die auch in anderen Fächern angewandt werden. Aber das ist natürlich nicht, was Pro Reli [oder die diversen Glaubensgemeinschften in D] wollen, so etwas wollen nur Atheisten wie ich.
Mir scheint, ein wesentlicher Aspekt des Wahlzettelproblems geht hier verloren: Es ist die Aufgabe der politisch aktiven BürgerInnen, sich zu informieren, und zwar vor dem Urnengang (sonst dauert das in den Kabinen auch zu lange). Wer auf Meinungsbildung verzichtet, sollte wenigstens so freundlich sein, auf die Teilnahme an Abstimmungen ebenfalls zu verzichten (so habe ich das mit der Demokratie jedenfalls verstanden).
Insofern ist es nicht notwendig oder gar sinnvoll, dass auf dem Stimmzettel das alte Gesetz, das neue Gesetz, Argumente für und wider abgedruckt sind; der Text hat also eher Erinnerungsfunktion. (Bei Wahlen liegt ja auch nicht das Parteiprogramm bei – und manIn hat sicherlich keinen Anspruch auf Neuwahlen, wenn manIn uninformiert wählt und hinterher findet, dass die CDU nicht christlich genug, die GAL nicht alternativ genug oder die Linke nicht links genug ist und der Name also irreführend ist.) ManIn geht doch in die Wahlkabine mit einer Meinung und Absicht, die manIn sich vorher gebildet hat.
Auch wenn ich noch nicht so lange Berliner bin, so hatte ich doch bereits einmal die Gelegenheit, an einer solchen Abstimmung teilzunehmen (Nicht-Schließung von Tempelhof für den Flugbetrieb). Mit der Abstimmungsbenachrichtigung flatterten auch zwei Blätter eng bedrucktes Papier ins Haus: Die Begründung der Antragsteller, warum die frühere Entscheidung (Schließung Tempelhof) revidiert werden solle, und die Begründung des Senats, warum die frühere Entscheidung immer noch richtig sei.
Gespannt bin ich auf diesen Begründungszettel von Pro Reli — ob der also den gleichen Neusprech enthält wie die Plakate.
Die Werbeagentur der ProRelis hat die Argumentation für ihre PR übernommen:
“Berlin ist das einzige Bundesland, in dem Eltern und Schüler nicht zwischen Ethik- und Religionsunterricht wählen können. ”
http://www.wuv.de/news/agenturen/meldungen/2009/03/124542/index.php
Das ist schlichtweg sachlich falsch, weil sie unterstellt, dass Eltern und Schüler in allen anderen Bundesländern zwischen Ethik- und Religionsunterricht wählen können. Ethik ist aber in den meisten Bundesländern überhaupt kein Schulfach.
Aber schön, dass Pro Reli bewusst mit Falschinformationen wirbt. Wer’s nötig hat…
#3:
Es stimmt, die Fronten wirken zum jetzigen Zeitpunkt sehr verhärtet — weil sich beide Seiten verrannt haben und nicht mehr ohne Gesichtsverlust rauskommen.
Ich denke, der Berliner Senat hätte sich früher um einen Kompromiss bemühen müssen. Gerade die SPD ist in dieser Frage mitnichten einer Meinung: Andrea Nahles und Wolfgang Thierse vertreten bspw. die Sache von Pro Reli (wie ich ja auch, aber ohne Promi zu sein ;), andere hingegen wie Björn Böhning sind komplett anderer Meinung.
Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, bei diesem Thema Kulturkämpfe zu führen; wirklich glücklich dürfte außer CDU und FDP niemand über diese Situation sein.
#10:
Wirklich? Das wusste ich gar nicht; in welchem Bundesland ist Ethik als Alternative zu Religion denn kein Schulfach?
Nordrhein-Westfalen z.B. Dort ist das Fach zwar als Schulversuch unter verschiedenen Namen aufgetaucht (mal heißt es Ethik, mal Humanistische Lebenskunde, mal Praktische Philosophie), aber nicht flächendeckend und umfassend umgesetzt.