In Berlin tobt seit Monaten ein auch sprachlich interessanter Kulturkampf um den Religionsunterricht an staatlichen Schulen.
Die aktuelle Situation ist die folgende: An den Berliner Grundschulen (1–6. Klasse) gibt es einen (bis zu 90% staatlich finanzierten) Religions- und Weltanschauungsunterricht. Diesen Unterricht kann im Prinzip jede weltanschauliche Organisation anbieten, neben der katholischen und evangelischen Kirche bieten z.B. auch der Humanistische Verband Deutschland, die Jüdische Gemeinde und die Islamische Föderation diesen Unterricht an. Die Teilnahme am Religions- und Weltanschauungsunterricht ist in Berlin allerdings, anders als in den meisten anderen Bundesländern, schon seit 1948 freiwillig.
Von der 7. bis zur 10. Klasse gibt es in Berlin seit 2006 das Pflichtfach „Ethik“. Dessen Ziele sind, gerade in einer multikulturellen Großstadt, nur zu begrüßen:
Friedlich zusammenleben, gemeinsam über Werte nachdenken, Respekt für den anderen entwickeln. Diese drei Ziele gelten für jedes Unterrichtsfach. In „Ethik“ bedeuten sie noch mehr: Sie sind Inhalt des Unterrichtsfaches selbst. Nicht jede Mathematik-Stunde kann Fragen der Lebensgestaltung oder des Zusammenlebens berühren. Ethik-Stunden können dies, weil in ihnen die Beschäftigung mit Antworten, im Dialog und mit verschiedenen Sichtweisen, Programm ist.
Ethik ist ein Fach, das zu Berlin passt. Denn in unserer Stadt mit ihrer Vielfalt von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen, unterschiedlicher kultureller Traditionen müssen sich junge Menschen über die gemeinsame Basis unserer Gesellschaft klar werden können. Denn trotz aller Unterschiedlichkeit sind Übereinkünfte über die Eigenverantwortung, zur Gleichberechtigung von Frau und Mann und zum tolerantem Umgang mit Andersdenkenden Grundbedingung. [Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Berlin]
Neben dem Pflichtfach Ethik gibt es auch in der 7–10 Klasse weiterhin das freiwillige Fach „Religion“. Die Teilnehmerzahlen für dieses Fach sind seit Einführung des Faches „Ethik“ nur für den evangelischen Religionsunterricht kontinuierlich zurückgegangen, für alle anderen sind die Zahlen stabil oder leicht ansteigend.
Eigentlich ist also alles in bester Ordnung: Alle Schüler können im Ethikunterricht gemeinsam über ethische Normen diskutieren und wer außerdem eine wöchentliche Portion bronzezeitlicher Mythologie braucht, kann sie sich im Religionsunterricht freiwillig abholen.
Der Verein „Pro Reli“ sieht das anders. Mit sieben Argumenten, die derartig scheinheilig sind, dass ich sie hier nicht weiter diskutieren will, will man den Religionsunterricht zum Wahlpflichtfach erheben (was er, wie gesagt, in Berlin noch nie war), und Ethik ebenfalls zum Wahlpflichtfach herunterstufen. Der Verein, der unter anderem von der evangelischen und katholischen Kirche, der Jüdischen Gemeinde, der Türkisch-Islamischen Union und der Berliner CDU und FDP getragen wird, hat ein Volksbegehren durchgesetzt, in dem am 26. April über diesen Vorschlag abgestimmt werden soll. Im Gegenzug hat sich eine Initiative „Pro Ethik“ formiert, in der die Berliner SPD, Linkspartei und Bündnis 90/Die Grünen, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Bundesfachverband Ethik, die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union und der Humanistische Verband für eine Erhaltung des Status Quo kämpfen.
Damit komme ich endlich zum sprachlich relevanten Teil dieses Beitrags: den Plakaten und Transparenten, mit denen „Pro Reli“ und „Pro Ethik“ für ihre jeweilige Sache werben.
Die Initiative „Pro Reli“ wirbt unter anderem mit dem Bild eines blonden, blauäugigen Kindes, das selig lächelnd himmelwärts zeigt. „ES GEHT UM DIE FREIHEIT“ steht darüber, und „Keine Bevormundung durch den Staat“. Auf großen grünen Transparenten finden sich Forderungen wie „WIR WOLLEN WAHLFREIHEIT!“ und „WIR GLAUBEN NICHT, dass man auf Religionsunterricht verzichten kann.“
An Unehrlichkeit sind diese Aussagen kaum zu überbieten: Freiheit gab es in Berlin in Bezug auf den Religionsunterricht schon immer — tatsächlich kenne ich kein Bundesland, das in diesem Bereich soviel Freiheit geschaffen hat. Darüber hinaus werden die Lehrpläne staatlicher Schulen, wie sollte es anders sein, durch den Staat (die Bundesländer) festgelegt und der richtet sich dabei nach Prinzipien wie gesellschaftlicher Relevanz, beruflicher Anschlussfähigkeit und natürlich wissenschaftlicher Faktentreue. Eine Bevormundung ist das nur in sofern, als dadurch allen in Deutschland lebenden Menschen bis zum 16. Lebensjahr die „Freiheit“ genommen wird, ignorant zu sein. Dass dieses Prinzip auch auf einen allgemeinen Ethikunterricht ausgedehnt wird, stellt ebensowenig eine Bevormundung dar wie die Tatsache, dass im Englischunterricht Englisch, im Physikunterricht Physik und im Sportunterricht Sport unterrichtet wird. Und wem die Prinzipien staatlicher Bildungspolitik der Bevormundung zuviel sind, der darf seine Kinder auf (staatlich bezuschusste) Privatschulen schicken, die in der Gestaltung ihrer Lehrpläne nur wenig Rücksicht auf diese Prinzipien nehmen müssen. Und der Religionsunterricht soll auch nicht abgeschafft werden, in sofern ist es ohne Belang, ob die Religionsgemeinschaften glauben, man könne nicht ohne ihn auskommen: Religionsunterricht war in Berlin immer freiwillig und er soll auch freiwillig bleiben. „Pro Reli“ geht es bei aller an die amerikanischen Kreationisten erinnernder Freiheitsrhetorik nur um eine einzige Sache: man will die eigenen Kinder aus dem Ethikunterricht heraushalten. Warum, darüber könnte man trefflich spekulieren.
Wenden wir uns statt dessen wieder der Sprache zu. Im Gegensatz zum Orwell’schen Double Speak der Plakatüberschriften ist der Slogan auf den „Pro-Reli“-Plakaten und ‑Transparenten unfreiwillig ehrlich: „FREIE WAHL! zwischen ETHIK und RELIGION“ steht da. Ich nehme an, das soll eine Kurzform sein für Freie Wahl zwischen Ethikunterricht und Religionsunterricht, aber so, wie der Slogan nun auf den Plakaten steht, kann man ihn nur als Eingeständnis werten, dass Religion und Ethik einander ausschließen. Wir Atheisten haben diese Vermutung ja schon länger, aber es ist schön, dass jetzt auch die großen Religionsgemeinschaften in Deutschland es endlich zugeben.
Aber so sehr ich mit der Gegeninitiative „Pro Ethik“ sympathisiere, sprachlich hat sie auf ihren Plakaten leider auch daneben gegriffen. Eigentlich geht es ganz vernünftig los: „Ethik: Gemeinsam, nicht getrennt!“ steht dort auf rotem Hintergrund über einem Bild von zwei sehr sympathischen, generisch multikulturellen jungen Damen, die nicht entrückt in den Himmel sondern direkt in die Kamera lächeln. Damit kommuniziert das Plakat punktgenau den großen Vorteil des Ethikunterrichts. Leider hat man es nicht dabei belassen, sondern den sehr unglücklich formulierten Slogan „Am 26.4. NEIN zum Wahlzwang“ hinzugefügt. Wer sich vertieft mit der Materie beschäftigt versteht natürlich, was hier gemeint ist: Wenn „Pro Reli“ sich durchsetzt, müssen Schüler (bzw. deren Eltern) sich in Zukunft zwischen Ethik- und Religionsunterricht entscheiden, während sie nach dem Status Quo beides haben können. Ein alternatives, grün gehaltenes Plakat überschreibt das Foto mit „Lasst uns beides: Ethik plus Religion“ und macht damit etwas deutlicher, auf was sich Wahlzwang beziehen soll.
Das Wort Wahlzwang gesteht der Gegenseite aber implizit zu, dass man dort den Menschen eine „Wahl“ lassen will. Schlimmer noch, es stellt diese (angebliche) Wahlfreiheit als etwas schlechtes dar — einen Zwang zur Selbstständigkeit, mit der der Bürger überfordert ist. Ob man mit solchen Formulierungen die Herzen der Bewohner einer Stadt gewinnt, deren eine Hälfte bis vor zwanzig Jahren Hauptstadt einer sozialistischen Diktatur war, finden wir am 26. April heraus.
Bildnachweis: Alle Bilder © 2009 by Anatol Stefanowitsch (CC-BY-SA 2.5). [Wenn jemand ein besseres Bild des blauen Pro-Reli-Plakates besitzt und zur Verfügung stellen würde, wäre das sehr schön].
Ihr Hinweis auf amerikanische Kreationisten trifft den Nagel auf den Kopf: beide Gruppen machen einen Freiheitskampf aus ihren religiösen Grabenkriegen, die bis zum Anschlag unliberal sind. Das zieht aber, die benötigten Unterschriften hätte man mit sachlicher Information vermutlich nicht zusammenbekommen. Die Vorgehensweise erinnert an die (amerikanische) Schwulenbewegung, die erfolgreich versucht hat, positiv besetzte Wörter für sich zu reklamieren. Sowas ist perfekte PR-Arbeit, und das machen sich christliche Gruppierungen vermehrt zunutze, wenn sie darauf setzen, das Durchdrücken ihrer Mythen und Moralvorstellungen mit dem Begriff der Freiheit zu verkleiden.
Ähnlich gewisse Verkehrsbetriebe, die angesichts der anstehenden Buskampagne bemerken, dass sie lieber keine weltanschaulichen Slogans als Werbung akzeptieren wollen, aber ausblenden, dass sie das bei christlichen Werbe- und Unterschriftenaktionen noch nie gestört hat. Solche Entscheidungen verkauft man dann am besten unter dem Deckmantel der Toleranz.
Am erschreckendsten finde ich aber, dass die Pseudo-Liberalen von der Berliner FDP sich für Pro-Reli hergeben (wenn auch wohl nicht einstimmig). Liberale Politik macht in Deutschland wohl keiner mehr, außer vielleicht, wenn es um Geld geht.
Als Berliner evangelischer Christ macht diese ganze Kampagne auch mich stark ratlos. Damit befinde ich mich in bester Gesellschaft vieler Freunde, die von Beruf Pfarrer sind. Deren Einwände beginnen bei “schad’ ums Geld” (denn die Kampagne hat allein die evangelische Kirche (aus dem Kopf erinnert) bisher einen zweistelligen Millionenbetrag (25?) gekostet, und das ist Geld, das für Projekte weg ist!) und enden bei der Beanstandung fehlender formaler Logik, weil man beim scharfem Nachdenken einräumen muss, dass hier eine Freiheit (nämlich: am Religionsunterricht teilzunehmen) durch eine Pflicht (entweder am Religions- oder am Ethikunterricht teilzunehmen) ersetzt werden soll. Es bleibt eines der ewigen Rätsel der Demokratie, wie man das als Verlust von Freiheit bezeichnen kann.
Was meine eigenen Anfragen an das Thema betrifft — über die redet eh keiner: Wer oder was legitimiert Kirche (in der Schule) mit Alleinvertretungsanspruch über Glauben zu sprechen? Denn auch wer nicht an Gott glaubt, kann wohl kaum leben, ohne irgendetwas zu glauben.
Und fast noch vermessener finde ich die Idee, dass der Staat berufen sein könnte, Kindern zu vermitteln, was Ethik ist. Denn — dazu nur einen Gedanken — ethisches Handeln steht selbst in einer parlamentarischen Demokratie sehr häufig im Gegensatz zum Gesetz. Da sind die Kirchen deutlich weiter als der Staat, etwa in Asyl- oder Flüchtlingsfragen oder in der Frage, wie menschenwürdig ein Leben für ALG II (Harz IV)-Empfänger eigentlich noch ist — nicht eingerechnet die Tatsache, dass ein Drittel der Harz IV-Empfänger Kinder sind, bei denen die gesellschaftliche Hilflosigkeit nicht — wie die Politik dann gern darstellt — am zu hohen Alkohol- und Nikotinkonsum liegen kann.
Die Plakate von Pro Ethik haben mich auch verwirrt, aber mit den entsprechenden Hintergrundwissen würde ich als Berliner, obwohl evangelisch, für deren Sache Stimmen. Aber wie hätte man es anders formulieren könne, denn mit Nein muss man ja stimmen, wenn man für Ethik als Pflichtfach ist und für einen zusätzliche Wahlfreiheit, ob und welche Religionsunterricht man zusätzlich wünscht. Nein zum “Entweder — Oder”?
In Sachsen haben wir diesen “Wahlzwang”, aber da ich schon über die Kirchgemeinde die Glaubensgrundsätze meiner Religion vermittelt bekam (von Leuten, die man kannte, und den ich daher viel eher geglaubt habe, als irgendeinen fremden Lehrer oder Pfarrer) fand ich Ethik interessanter. Aber die Benennung des Unterrichts als Ethik fand ich zumindest in der Sekundarstufe II auch nicht mehr passend, (griechische) Philosophie wäre passender gewesen, soweit ich mich an den Inhalt des Unterrichts erinnern kann.
‘Nein’ ist werblich immer unglücklich. Es geht doch darum, etwas Positives, etwas Gutes an den Mann und die frau zu bringen, bzw. an das Kind:
JA — zur freien Entscheidung!
JA — zu freier Wahl!
Allerdings hat das einen praktischen und einen albernen Nachteil. Wenn auf entsprechenden Abstimmungszetteln tatsächlich ‘Nein’ angekreuzt werden muss, um die Freiheit zu erhalten, dann verwirrt ein positiver Spruch. Dummerweise scheinen alle Menschen inzwischen zu glauben, dass Werbung nur mit kurzen Slogans, mit schriftgeronnenen Soundbites funktioniert — ein aufklärerischer Fließtext fällt also oft weg.
Um das Dilemma zu lösen müsste man also versuchen, das ‘Nein’ beízubehalten, aber gleichzeitig positiv zu besetzen:
‘Nein’ — ist die richtige Wahl!
‘Nein’ — schafft Freiheit!
‘Nein’ — zur Bevormundung!
Der letzte schafft es auch noch, einen von den Gegnern zu Newspeak gemachten Begriff zurück zu erobern. Außerdem, so meine Erfahrung, sind Menschen, die sich in Organisationen wie Pro Reli sammeln, recht einfach zu verwirren. Es könnte also sein, dass die Benutzung von ‘Bevormundung’ einige falsch stimmen lässt.
Hallo,
ich glaube nicht, dass „FREIE WAHL! zwischen ETHIK und RELIGION“ “unfreiwillig ehrlich” ist und ausdrücken soll, quasi als Freud’scher Versprecher, dass Ethik und Religion einander ausschlössen. Vielmehr liegt hier — Linguisten aufgepasst! — eine Homonymie vor: So wie das Wort “Deutsch” einmal die Sprache und einmal das Unterrichtsfach bezeichnet, ist es auch bei Ethik und Religion der Fall. Diese Unterstellung ist polemisch (und passt damit hervorragend zu diesem Blog) und bewegt sich auf dem Schlammschlachtniveau eines Wahlkampfs.
Als Agnostiker (nicht Atheist — so viel Gewissheit maße ich mir nicht an) gehe ich ja nicht her und unterstelle Religion als solcher mangelhafte ethische Festigkeit. Manche religiösen Grundsätze sind aus der Sicht eines (meines) westlich-aufklärerischen Humanismus zwar nicht akzeptabel, weil unethisch (vieles läuft im Grunde auf Verletzung der Menschenwürde hinaus), aber viele Elemente dieses Humanismus wären ohne Christentum nicht entstanden.
Weltanschaulich gehören 60% der Berliner keiner Glaubensgemeinschaft an bzw. haben ggü. der Meldebehörde keine solche angegeben. Trotzdem fürchte ich, dass Pro Reli Erfolg haben könnte. Scheitern dürfte es eher am Verfehlen des Quorums.
Bevor unser letzter Oberbürgermeister ablebte, verfingen sich einige Düsseldorfer Initiativen ebenfalls im Ja/Nein-Gestrüpp. Der Trick von konservativer Seite aus war immer der gleiche: Gegeninitiativen so zu positionieren, daß diese in der Nein-Sager-Ecke landen mußten. Das wurde sehr methodisch so gehandhabt: In einem Fall wurde beispielweise eine Verordnung ohne zureichenden Konsens oder Prüfung von Alternativen vorzeitig verabschiedet, damit die Volksinitiative nicht mehr FÜR einen anderen Plan auftreten konnte, sondern gezwungen wurde, GEGEN die Verordnung zu mobilisieren. Von dort aus konnte dann Werbung geschaltet werden mit perfiden Fragen wie „wollen Sie, daß das so bleibt?“, als wenn es keine Alternativvorschläge geben würde. (Von der beliebten Schlagen-Sie-eigentlich-noch-Ihre-Frau?-Frageform lebte diese Werbung außerdem.)
Im Fall der verabschiedeten Verordnung war das den Initiativen schon klar, weswegen sie die vorzeitige Verabschiedung rechtlich verhindern wollten. Das Gericht wies die Klage/Verfügung ab mit der Begründung, daß die Verordnung durch eine erfolgreiche Initiative ja wieder gekippt werden könne. Ach.
Von all dem abgesehen finde ich diese Berliner Initiative inhaltlich so derartig perfide, daß ich ihr einen Platz in meiner Ain’t Faith Just Lovely?-Kolumne reservierte. Unglaublich. Und schön rekursiv: Das Motto „Ethik oder Religion“ ist in dieser Initiative selbstabbildend.
^_^J.
Dass die Kirchen ethischer handeln als der Staat, halte ich aber für eine äußerst gewagte These. Aber ich will hier auch nicht zu weit vom Thema abkommen. Es bleibt zu hoffen, dass die Berliner sich richtig entscheiden und dem Treiben dieses ominösen Pro Reli-Vereins ein Ende setzen.
“Und fast noch vermessener finde ich die Idee, dass der Staat berufen sein könnte, Kindern zu vermitteln, was Ethik ist. Denn — dazu nur einen Gedanken — ethisches Handeln steht selbst in einer parlamentarischen Demokratie sehr häufig im Gegensatz zum Gesetz. Da sind die Kirchen deutlich weiter als der Staat”
Das ist aber kein sehr realistischer Vergleich: Ethikunterricht an staatlichen Schulen würde ja nicht von Politikern oder Juristen gegeben werden, sondern von Lehrern. Die mit dem Staat zu identifizieren ist ein bisschen unfair. Genauso kann man Religionslehrer (also richtige Lehrer, keine Aushilfslehrer in ulkigen Klamotten) schwerlich für die Verfehlungen der Kirchen verantwortlich machen — und sie auch nicht für die positive Arbeit ihrer Glaubensgenossen loben.
“Denn auch wer nicht an Gott glaubt, kann wohl kaum leben, ohne irgendetwas zu glauben.”
Das ist ein sehr beliebter Spruch bei Theisten und er erinnert mich daran, dass ich darüber schon seit Ewigkeiten einen Blogbeitrag schreiben will. Sie machen mit diesem Satz nämlich ähnlich faulen Wortzauber wie die Pro-Reli-Typen mit ihrer Freiheitsrhetorik. “Glauben” kann ja Verschiedenes bedeuten — in irgendeinem Sinne “glaubt” bestimmt jeder irgendetwas. Im religiösen Sinne glaube ich aber, glaube ich, nichts.
@ Thomas
> Ethikunterricht an staatlichen Schulen würde ja nicht von Politikern oder Juristen gegeben werden,
> sondern von Lehrern
Und die sind bitte genau was? Beamte, also der Staat.
Der Staat hat allerdings die verfassungsrechtliche Verpflichtung, religiös und weltanschaulich neutral zu bleiben. Insofern ist es ihm versagt — auch mittels eines Ethikunterrichtes -, Bewertungen über die metaphysische Stellung des Menschen in der Welt abzugeben. Dieser Verfassungsgrundsatz wird in Berlin durch den “Ethikunterricht” (wessen Ethik wird da eigentlich gelehrt?) systematisch durchbrochen.
Dem Staat soll es aber versagt sein, Werturteile über Glaubensfragen abzugeben — schon allein deshalb, um Slogans wie “[Juden/Christen/Muslime/beliebige andere weltanschauliche Gruppe] raus” in Deutschland unmöglich zu machen. Insofern gebührt jeder Gruppe das Recht, Religionsunterricht anzubieten, der durch eine wie auch immer geartete staatliche Sichtweise nicht verdrängt werden dard.
Sprachlich mag die Initiative daneben gegriffen haben, inhaltlich ist sie völlig im Recht.
@Christian
“Und die sind bitte genau was? Beamte, also der Staat.”
Eben nicht. Der Staat ist viel mehr als Lehrer. Mit den von Wolfgang Hömig-Groß kritisierten Punkten haben Lehrer eher wenig zu tun. Darum ging es.
“Der Staat hat allerdings die verfassungsrechtliche Verpflichtung, religiös und weltanschaulich neutral zu bleiben. Insofern ist es ihm versagt — auch mittels eines Ethikunterrichtes -, Bewertungen über die metaphysische Stellung des Menschen in der Welt abzugeben. Dieser Verfassungsgrundsatz wird in Berlin durch den “Ethikunterricht” (wessen Ethik wird da eigentlich gelehrt?) systematisch durchbrochen.”
Welche Bewertung über die “metaphysische Stellung des Menschen” wird denn im Ethikunterricht abgegeben? In dem Ethikunterricht, den ich erlebt habe, war es gar keine. Es wurden metaphysische Modelle wie sie die großen Weltreligionen anbieten thematisiert, aber aus einer neutralen Warte.
Mir scheint, Sie verwechseln Ethikunterricht mit Atheismusunterricht?
@Thomas Exakt. Der Logik dieser inszenierten Verschiebung der Wortbedeutung zu folgen hieße auch, das Nichtsammeln von Briefmarken zum Hobby zu erklären oder die Aussage, daß Sterndeutung kompletter Nonsens ist, zu einer Form der Astrologie.
^_^J.
Christian (#9),
im Ethikunterricht geht es nicht um die „metaphysische Stellung des Menschen in der Welt“ oder darum, Werturteile über Glaubensfragen abzugeben, sondern um Ethik.
Der Berliner Rahmenlehrplan für dieses Fach (den man hier als PDF-Datei bekommt), beschäftigt sich mit der Frage nach dem richtigem Handeln (um das es in der Ethik geht) anhand von sechs Themenfeldern:
Themenfeld 1: Identität, Freundschaft und Glück
Themenfeld 2: Freiheit, Verantwortung und Solidarität
Themenfeld 3: Diskriminierung, Gewalt und Toleranz
Themenfeld 4: Gleichheit, Recht und Gerechtigkeit
Themenfeld 5: Schuld, Pflicht und Gewissen
Themenfeld 6: Wissen, Hoffen und Glauben
Sagen Sie mir doch bitte, wo hier die Grenzen staatlicher Zuständigkeit überschritten werden.
Aber immerhin sind Sie, anders als die Vertreter von Pro Reli, ehrlich genug, um zuzugeben, dass es Ihnen nicht um das Recht auf Religionsunterricht geht (denn dieses Recht haben die Berliner Schüler), sondern dass Sie den Ethikunterricht abschaffen möchten.
Es war schon spät und im Hellen würd’ ich auch nicht mehr alles so schreiben, ohne jedoch etwas grundsätzlich falsch zu finden. Mein Hinweis aber, dass kein Mensch ohne Glauben leben kann, war nicht theistisch gemeint. Ich hatte mal einen Mathelehrer, der hat immer gesagt: Wenn jeder nur noch über das sprechen würde was er weiß, wäre es still auf der Welt.
Ich zumindest weiß wenig und muss darum umso mehr glauben. Das meine ich ganz praktisch, etwa bezogen auf Weltwirtschaftskrise, Politik, Straßenverkehr, Ehe, Kommunikation. Überall muss ich mir mein Bild machen was ich glaube und ohne etwa den Glauben dass meine Frau mir zumindest grundsätzlich die Wahrheit sagt ist ein Menschenleben praktisch nicht zu managen. Fakten, Fakten, Fakten sind sozusagen garnix, es kommt drauf an, was man draus macht.
Und @Gareth: Doch, ich finde, das die Bilanz der Kirche (ich rede immer von der evangelischen in Deutschland) besser ist als die des Staates. Es gibt eine ganze Menge Leute die es bitter nötig haben, dass ihnen jemand hilft und das tut (in großem Maßstab) nur noch die Kirche. Über die Konquistadores, Kreuzzüge und Inquisition brauchen wir also hier nicht zu reden; der Staat hat sich ja in den letzten 1000 Jahren auch deutlich entwickelt.
@Wolfgang Hömig-Groß
Ihnen ist bekannt, dass die Gelder, die zu karitativen Zwecken verwandt werden, zum allergrößten Teil vom Staat, sprich: vom Steuerzahler kommen, vermutlich noch von privaten Spendern und praktisch gar nicht von den Großkirchen?
Ich finde es großartig, dass es Menschen gibt, die ehrenamtlich helfen und wenn die Motivation dahinter ein religiöser Glaube ist, ist das sicher nichts Grundverkehrtes. Aber diese Trennlinie zwischen Staat und Kirche, die Sie ziehen, entspricht in dieser Hinsicht nicht der Realität.
@Thomas Müller: Ja, die Finanzierung der kirchlichen Projekte kenne ich ziemlich genau, da weiß ich sozusagen mal wirklich was;-).
Aber da gibt es eine ziemliche Spanne, die von fast 100%iger staatlicher Finanzierung reicht (etwa bei den Religionslehrern oder Kitas) über Finanzierung von Maßnahmen über andere Leistungsträger (Arbeitsamt etwa), bei denen die Kirche auf den Regiekosten und einigem anderen sitzen bleibt bis hin zu einer ganzen Menge mir bekannter diakonischer Projekte, an denen sich der Staat gar nicht beteiligt, die also voll aus Kirchensteuermitteln bezahlt werden.
Aber da das Kirchensteueraufkommen seit Jahrzehnten im Sinkflug ist, wird das immer schwerer. Die Diakonie in Berlin setzt darum zunehmend auf projektbezogenes Fundraising — was ja auch nicht gerade eine staatliche Finanzierung ist.
Ach so, der andere Aspekt: Aus welchen Grund jemand hilft, aus Glaube, Liebe, Hoffnung, finde ich eigentlich egal; das dürften die Hilfeempfänger ähnlich sehen. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Heißt umgekehrt: Glauben allein reicht nicht.
Ich meine auch, absichtlich so formuliert zu haben, dass etwa eine Hilfe wie die der Volkssolidarität oder der HU — beide explizit ähm, agnostisch?, — ausdrücklich einbezogen blieb. Vielleicht kam das nicht so gut rüber.
Wolfgang, ich wollte auch niemandem mehr die Inquisition oder die Kreuzzüge vorwerfen, das ist Schnee von gestern. Aber dass ausschließlich die evangelische Kirche gemeint war, ließ sich der Aussage “Da sind die Kirchen deutlich weiter als der Staat (…)” nicht entnehmen. Ich dachte der Plural schließe die katholische Kirche mit ein, die programmatisch viele der o.g. Themenfelder des Berliner Ethikunterrichts (Freiheit, [Anti-]Diskriminierung, Toleranz, Gleichheit, [Un-]Schuld) offen ablehnt oder ihnen zumindest zuwiderhandelt.
@Gareth: Du hast recht, so direkt steht es da nicht. Aber ich bin schon mit kurz und genau überfordert, mit kurz und ausführlich erst recht. Gott oder wem auch immer sei Dank lässt sich das ja hinterher noch feinjustieren.
Dass ich es mit der katholischen Kirche auch nicht so habe (obwohl — oder weil? — ich Konvertit bin), kann man ja an den durchweg katholischen Beispielen gut erkennen. Die evangelische Kirche hat da durchaus auch ihre Sündenfälle, zumindest wenn man die ganzen Denominationen zusammennimmt — die Verbrennung Andersdenkender kam zwar nicht jeden Tag, aber immerhin öfter vor. Und auch die kleinen Grausamkeiten passen nicht so gut zum hehren Anspruch.
Ach du meine Güte, das ist ja erschreckend! Wie ist es nur möglich, daß die “meisten anderen” Bundesländer derart kraß dem Grundgesetz zuwiderhandeln? Da wird es aber wirklich höchste Zeit, daß jemand das Bundesverfassungsgericht einschaltet!
“Erfolgreich”?
Gay hat sich von “fröhlich” komplett auf “schwul” verschoben, dann auf “homosexuell” erweitert, und wird jetzt als allgemeines Schimpfwort gebraucht: That’s so gay! “Wie dumm, das zu tun!”
Außerdem spielt die Verwendung von “fröhlich” für “schwul/homosexuell” den amerikanischen Fundamentalisten in die Hände, die glauben, es handle sich um eine sündhaft-hedonistische lifestyle choice. (Viele prominente Fundamentalisten sind selbst homo- oder bisexuell und gehen daher ganz selbstverständlich davon aus, gay sex mache in der Tat potentiell jedem Spaß — sei eben gay in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes.)
Heutzutage versucht die LGBT-Bewegung, das bisher negativ besetzte Wort queer für sich zu reklamieren. We’re here, we’re queer, get used to it!
Womit ich meine, sie glauben, jeder Mensch ist genau wie sie — unterdrückt (gottesfürchtig) oder nicht unterdrückt (sündhaft) — homo- bzw. bisexuell, und können sich andere Orientierungen überhaupt nicht vorstellen. Vor ein paar Tagen ist mir so ein Fall auf einem Blog begegnet, wenn auch ein weniger prominenter als Alan Keyes.
Schade, dass auf der (für mich) eigentlich “richtigen” Seite immer eine so selbstverständlich religionsfeindliche Einstellung herrscht. Ich habe nichts gegen Atheisten, verstehe ihre Argumentation, auch wenn ich sie nicht teile. Es ist aber ein Unterschied ob man etwas für sich persönlich ablehnt oder ihm grundsätzlich (mit Allgemeinheitsanspruch) feindlich gesinnt ist. Schade.
@Fabian: Gut, dass sich Betroffenheitstrolle immer so unfreiwillig selbst entlarven:
Aktuelle Politik in Berlin: Ethik für alle, Religion für die, die es wollen. Von feindlicher Gesinnung keine Spur.
Der Vorschlag von Pro Reli: Zwangsentscheidung zwischen Ethik und Religion. Klingt für mich feindselig. Dumm gelaufen.
Ein kurzer Hinweis eines Ethik-Lehrers: (auch wenn das Fach bei uns anders heißt)
Die Argumentation, dass der Staat mittels Ethikunterricht die weltanschauliche Neutralität verlässt, hat Thomas Müller in Beitrag 10 schon wiederlegt. Des weiteren scheint mir dies in der vorhandenen Debatte ohnehin nicht angebracht, da dieses Problem für den Religionsunterricht noch viel stärker gilt.
Sprachlich fällt mir auf, dass ich bei der Freiheitskampagne zunächst keinen Widerspruch finde. Es geht um Freiheit vom Zwang zum Pflichtfachethik. Die Entscheidung: Religion zusätzlich? Ja/ Nein. Wird geändert in Welches Fach Religion/Ethik. Auch die Auswahl zwischen zwei Alternativen scheint mir “freier” als die zwischen “Ja” und “Nein”. Die Kommunikation des ganzen ist unehrlich, der Kern selbst nicht.
Trotzdem wäre mir ein Religionskunde/Ethikunterricht ohne Alternative lieber, aber dieser wäre eben in der Tat mit Zwang verbunden. Mit genau der selben Art von Zwang wie der Schulbesuch allgemein. Nur durch diesen kann sich aber der mündige Bürger entwickeln, da nur hier weltanschaulich neutrale Erziehung garantiert wird. (… zumindest ist sie dort eher überprüfbar.)
Hö? Ich, Troll? Ja, sicher. Ich meinte nicht in Berlin, ich meinte in diesem Eintrag. Was soll das mit den Seitenhieben von wegen Religion und Ethik schliessen sich aus? Zumindest aus meiner Sicht völliger Quatsch.
Aber, wie gesagt, ich finde es schade, dass das von der “richtigen” Seite kommt. “Richtig”, weil ich mit allem anderem in diesem Eintrag absolut übereinstimme.
Troll? Ne, nur beleidigter Gläubiger 😉 *etwas Selbstironie*
Religionsfeindlichkeit? Wo denn? Ich z.B. bin gegen den Religionsunterricht als Alternative zum Fach Ethik, das das freundliche Zusammenleben der Menschen in einer Großstadt wie Berlin fördern soll. Ich habe aber überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn religiöse Menschen gerne das Fach Religion belegen möchten. Daran wird ja in Berlin auch niemand gehindert. Bisher konnte nur niemand plausibel darstellen, warum Religionsunterricht eine bessere Alternative zum bisherigen Ethikunterricht sein soll.
Hier hat zudem auch glaube ich keiner gegen gläubige Menschen i.A. gewettert, sondern gegen die Kampagne Pro Reli und ihre dubiose Vorgehensweise. Die feindlichen Einstellungen herrschen übrigens (zumindest institutionell) eher auf der anderen Seite — z.B. bei der katholischen Kirche, die für den Religionsunterricht zuständig ist und deren Indoktrination unverständlicherweise mit dem unparteiischen Ethik-Lehrplan gleichgestuft werden soll…
Ich bin in Berlin zur Schule gegangen und nicht in den “Genuss” des Ethikunterrichts gekommen (den gab es da noch nicht). Ich habe trotzdem freiwillig den Religionsunterricht besucht, obwohl ich meine persönliche Einstellung als atheistisch, wenn nicht sogar religionsfeindlich bezeichnen würde.
Der Religionsunterricht war jedoch für mich interessant, da er eben nicht *eine* Religion, sondern Religion im Allgemeinen behandelte. Wir haben sowohl über die großen westlichen Religionen als auch über verschiedene Naturreligionen usw. gesprochen — obwohl mein Religionslehrer evangl. Pfarrer ist.
Warum man beide Fächer getrennt unterrichten soll (und nicht die Wahl lässt beide zu besuchen) kann ich nicht verstehen. Es werden doch — in gutem Unterricht — gänzlich verschiedene Dinge betrachtet.
Ob man mit staubtrockenen Abhandlungen altertümlicher philospohischer Theorien die heutige Jugend aus ihrem Rechtsdrall holen kann (vgl.: http://www.rp-online.de/public/article/politik/deutschland/686064/Deutschlands-Jugend-driftet-nach-rechts.html) sei hier dahingestellt.
Gruß
Pro Reli hat sich für die Werbung einen Experten eingekauft 😉 http://www.messitschbyburns.de/archives/554
Ach der war auch schon für die Tempelhof-Chose verantwortlich. Na dann bleibt nur zu hoffen, dass die Vernunft erneut gewinnt.
Bei Orwell gab es keinen doublespeak sondern nur doublethink, oldspeak und newspeak.