Judith Holofernes von Wir sind Helden ist ein poetisches Genie, und „Kaputt“ vom Album „Soundso“ ist einer ihrer besten Texte (Nörgler, dibbedabb & Co: das ist keine wissenschaftliche Aussage, sondern eine Meinung — die dürfen Wissenschaftler auch haben).
Aber der Refrain des Liedes birgt ein kleines sprachwissenschaftliches Rätsel. So wird er auf der Webseite der Band zitiert:
So viel kaputt
aber so vieles nicht
Jede der Scherben
spiegelt das Licht
So viel kaputt
aber zwischen der Glut
zwischen Asche und Trümmern
war irgendwas gut
Ich bin mir aber sicher, dass das nicht dem entspricht, was Holofernes tatsächlich singt: ich höre eindeutig Jeder der Scherben — Scherbe(n) wäre hier ein Maskulinum. Und damit bin ich offensichtlich nicht ganz allein, auch wenn die Mehrzahl der Googletreffer für die Zeile die feminine Form enthält (wer sich selbst ein Bild machen will, der kann bei Amazon genau den fraglichen Schnipsel hören).
Wenn ich richtig höre, stellt sich die Frage, woher die maskuline Form kommt. Das Duden-Universalwörterbuch kennt nur die Scherbe, aber das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm kennt neben dieser standarddeutschen Form auch das Maskulinum der Scherbe/n, das im älteren Neuhochdeutschen neben der femininen Form zu finden war. So findet sich in Bibelausgaben dieser Zeit sowohl und er nam eine scherben und schabet sich (Hiob 2:8), als auch er vergrůb sich in den mist, und mit einem scherben kratzet er den grind ab der haut. Die Grimms weisen noch darauf hin, dass „heutzutage … das masc. besonders in den bair.-österr. mundarten gebräuchlich“ sei, wobei „heutzutage“ Mitte des 19 Jahrhunderts war. Judith Holofernes stammt allerdings nicht aus Bayern oder Österreich, sondern aus Berlin.
Da wir für den oder die Liegestütz/e/n so detaillierte dialektale Informationen sammeln konnten, gelingt das ja vielleicht auch für den oder die Scherbe/n. Also: wer kennt die maskuline Form aus dem alltäglichen Sprachgebrauch (bitte mit Angabe der Herkunftsregion)?
“Der Scherben” ist auch heutzutage in der Hochsprache noch gängig, nämlich als Fachausdruck für gebrannte Keramik.
Ich kenne beide Varianten allerdings in minimal unterschiedlicher Bedeutung:
die Scherbe — Bruchstück einer Keramik
der Scherben — das gesamte [Werk]Stück in der Herstellung eben jener Gegenstände, die dann zu weiblichen Scherben zerfallen; Fachbegriff aus dem keramischen Handwerk
Region: echtes Norddeutschland [Lachstadt, Schläfrig-Hohlschwein, nördliches Niedersetzen, Meck-Pomm rotweiß]
Ich kenne zwar die maskuline Form nicht, mir fällt dazu jedoch ein, dass es im Deutschen noch Reste einer Kollektiv-Form gibt, wie sie beispielsweise im Arabischen ausgeprägt ist. Sie bezeichnet typischerweise ein Material im Gegensatz zu einem Stück. Ein Beispiel: Fels — Felsen. In ähnlicher Weise könnte hier das Material “gebrannter Ton” und ein Stück davon gemeint sein.
Den Scherben kenne ich aus der südlichen Steiermark als alltägliche Bezeichnung für Tongefäße, z.B. Blumentöpfe. Meines Wissens in ganz Ostösterreich gebräuchlich ist die Redewendung “den Scherben aufhaben” für eine höchst unglückselige Situation — gemeint ist dabei nicht irgendein Gefäß, sondern ein (gefüllter) Nachttopf. 🙂
Zu der von Wentus (Kommentar 3.) angesprochenen Kollektiv-Form kann ich beitragen, dass es in der Imkerei die Wendung “der Bien” gibt (oder zumindest gab, meine Quelle ist nicht die neueste). Damit bezeichnet der Imker das komplette Bienenvolk im Gegensatz zum einzelnen Individuum, das er, wie alle anderen auch, als “die Biene” bezeichnet.
Vermutlich eher so mittel-hilfreich, aber: Judith Holofernes zog mit sechs Jahren von Berlin nach Freiburg im Breisgau, wo sie blieb, bis sie 20 war.
Guten Tag, ein Wiener hier.
Ich bestätige Hedonistins Wissen — hier im Osten hat man regelmäßig sprichwörtlich “’n Scherb’n auf”, die Bedeutung ist “Pech gehabt”. Außerdem wird die Toilette auch wenn man sie nicht auf hat als “der Scherben” bezeichnet. Andere Ton- und Keramikgefäße sind davon ausgenommen, “der Scherben” ist nur die Kloschüssel.
Im Bezug auf Bruchstücke höre ich die maskuline Form häufig, aber nicht ausschließlich. Verhältnis ist wohl Pi*Daumen 50:50.
Jetzt bilde mir allerdings ein, dass bestimmte Verben eine bestimmte Form bevorzugen… das muss ich mal länger beobachten 😉
Die maskuline Form der Scherbe(n) als Bezeichnung für ein Gefäß ist bei den Grimms getrennt verzeichnet, aber in dem Text geht es ja nicht um Gefäße sondern um Bruchstücke von irgendetwas.
Die Möglichkeit einer Kollektivform ist interessant, aber der grammatische Kontext (Jeder der Scherben) lässt diese Lesart für diesen Text nicht zu.
Lukas (#6), doch das ist sehr hilfreich, denn es stellt einen Zusammenhang zu der Sprachregion her, in der laut den Grimms die maskuline Form zumindest im 19. Jahrhundert noch verbreitet war!
Ich kann “hat den Scherben auf” als wienerisch bestätigen, aber die Beziehung zur Scherbe habe ich gar nicht hergestellt.
Das mit der Kollektivform ist sehr interessant. Vielleicht erklärt das, warum manche weiblichen Nomen auf ‑e (Pfanne, Zunge, Schokolade, Schule…) in den bairisch-österreichischen Dialekten so wie die sächlichen (Auge, Ende…) das ‑e verlieren, die meisten (Hose, Brille, Seite, Seife, Haube, Truhe, Flasche, Pflanze, Tablette, Platte, Dose, Fliese, Suppe, Schale…) es aber durch ‑n (-m, ‑ng) ersetzen, wenn auch unter Beibehaltung des Femininums und ohne jede kollektive Bedeutung.
Übrigens: in Österreich heißt es nicht die Socke, sondern der Socken.
Wo, geographisch, kommt das her? Es passt nämlich genau in meinen Dialekt, wo “Scherbe” auch so ein Wort auf ‑n ist (und weiblich bleibt).
Ich hätte dazusagen müssen, dass ich erst mit 11 Jahren nach Wien gekommen bin und vorher in Linz gewohnt habe.
Jetzt kommt mal was weit hergeholtes: “Die Scherben” — alle Mitglieder der Band “Ton, Steine, Scherben”. 😉
Ne ne, ich würd auch mal auf Freiburg tippen oder einfach auf bessere ‘Singbarkeit’ durch reingemogeltes ‘Fugen‑r’ bzw. Schwa-Laut.
Jetzt fällt mir erst das Prinz-Eugen-Lied ein! Er ließ schlagen einen Brucken, dass man kunnt hinüberrucken mit d’r Armee wohl für die Stadt.
Hier zwei leicht modernisierte Fassungen des Prinz-Eugen-Liedes.
Kapier ich nicht. Wieso soll jeder der besser singbar sein als jede der?
Tut mir leid, falls mein Unverständnis sprachlicher Halbbildung entspringt, aber:
Was ist daran männlich?
“Jede der Scherben spiegelt das Licht.” Die Scherbe spiegelt das Licht. Die Scherben spiegeln das Licht. Jede einzelne der Scherben spiegelt das Licht. So wie “Jede (einzelne) der Frauen trug einen Topf.”
Ich bin verwirrt.
Edit
Oder, anders gefragt: Wie würde der Satz eurer Meinung nach aussehen, wenn Scherben weiblich wäre?
Ich (Idiot) habe ein nicht überlesen. Verzeihung.
@David: hm… besser singbar, naja, kam mir (als rheinländer) ganz subjektiv grad so vor. lippen offener und runder? ne, irgendwie nicht. an der zungenstellung liegts auch nicht. ok, bei genauerer betrachtung ziehe ich meine these (als nicht-phonetiker) zurück 😉
So zugedröhnt und schlecht artikuliert, wie der Text in der Hörprobe versinkt, ist alle Dichtkunst und grammatikalische Treue an ihm verschenkt.
Ich habe mir den Schnipsel jetzt nicht angehört (so was macht man nicht im Büro, wenn andere zuhören…), aber gegugelt habe ich. Und von den stolzen acht Treffern mit “jeder” sind zwei offenbar Zitate aus dem Gedächtnis, die ein “in” davor gesetzt haben:
Soviel kaputt aber so vieles nicht in jeder der scherben spiegelt das licht soviel kaputt aber zwischen der glut zwischen asche und trümmern war irgendwas gut.
Und kann es vielleicht ein Versprecher sein? Ist da halt reingerutscht und wurde nicht bemerkt, oder der Take war ansonsten gut gelungen, so dass die Helden sagten “sei’s drum”.
Achim (#19), da der Refrain mindestens dreimal wiederholt wird und Holofernes jedesmal jeder der Scherben singt, halte ich einen Versprecher für unwahrscheinlich. Und der Take ist zwar gut, aber SO gut, dass man einen Genusfehler ignoriert? Nein, entweder ich verhöre mich hier oder es liegt ein dialektaler Einfluss vor.
Ich würde ja fast vermuten, dass es sich um einen Verhörer handelt. Fr
Ups, das ging daneben… Also nochmal:
M.E. handelt es sich um einen Hörfehler. Frau Holofernes neigt ja zu einem sehr runden und offenen Schwa-Laut (“Bittöö gib mir nur ein Wort”), deswegen höre ich das auch als “jede” (bzw. eben “jedöö”).
Weiß jemand, wie’s im Booklet steht? Wenn es für die Helden denn wirklich “der Scherben” wäre, würden sie das doch wohl auch so abdrucken, oder?
Ich halte zwar überhaupt nichts von Wir sind Helden, will mich aber trotzdem zum eigentlichen Thema äußern. Ich höre da auch kein jeder heraus, weil sie das Schwa, wie schon erwähnt, eher untypisch singt.
Ich habe der Scherben jedenfalls noch nie gehört, weder als Ersatz für die Scherbe noch in einem Bedeutungsunterschied zu derselben.
@David Marjanović: Mein deutscher Spracherwerb hat im Ruhrgebiet stattgefunden und dort ist ebenfalls der Socken geläufig, dieses Phänomen ist also nicht auf Österreich beschränkt.
Ich wage ja zu behaupten, dass das schlicht und ergreifend an unsauberer Artikulation liegt, ansonsten könnte man auch noch die Vermutung anstellen, dass es sich um ein Spielen mit der Assonanz von Scherben zu ‘Schergen’ handelt, also jenseits von gut und böse, ähm, dialektalen Unterschieden liegt.
Erstens werden ‘E’s bei Judith Holofernes oft zu ‘A’s beim Singen, sie singt z. B.:
“Steig auf, ich tragA dich” (Ein Elefant Für Dich)
“Du Awartest viel zu viel” (Aurelie)
“Und Rand und Band ziehn ohnA mich aufs Land” (Ausser Dir)
“Bin ich nicht wütend gAnug für dich” (Wütend Genug)
usf.
Zweitens steht im Booklet von “Soundso” tatsächlich “Jede der Scherben spiegelt das Licht” — insofern würde ich den Klang “Jeder” genauso der Holofernschen Vokalfärbung (“Jeda”) zuordnen.
Achim (19)
Ich höre da auch ein (zugegeben sehr schwach gesprochenes) “in” vor “jeder”. Und dann paßt es ja wieder zum femininum.
Hier in Konstanz, im badischen Süden des Ländles, sagen wir “der Scherbe(n)” nicht die Scherbe. Damit wäre es: jeder der Scherbe(n). Das “n” wird nicht gesprochen.
Genauso wie wir “der Butter” oder “der Marmelad” sagen.
Die männlichen Formen überwiegen im Dialekt insgesamt, je nachdem wie stark noch Dialekt gesprochen wird, werden männliche Formen auch für Frauen genutzt, statt:
“das gehört der Frau”
“das ist der “Frau” seins”
Herr Stefanowitsch,
wieso verweisen Sie zur Hörprobe eigentlich auf amazon? :—)
Man kann sich das Stück in hervorragender Qualität doch auf der verlinkten Homepage direkt anhören.
Also ich hab’s mir mehrfach von der CD angehört und höre da auch ein „Jeder“ heraus.
Also hier im westlichen, rheinischem Ruhrgebiet (Das Ruhrgebiet ist ja sprachlich zweigeteilt) hab ich „Der Scherbe(n)“ im Alltag noch nie gehört.
Ich denke, giardano (25) hat hier recht und es ist einfach nur eine Sache der Aussprache. Wenn man sich mal das Lied „Ein Elefant für dich“ anhört, kann man leicht heraushören, daß sie die unbetonten [ə]s sehr offen ausspricht, so daß sie kaum von [ɐ]s zu unterscheiden sind.
Ich weiß, deiner Monster sind gernau wie meiner und so.
@ #4
och mensch ich hatte die österreicher für viel poetischer gehalten. wer “den scherben aufhat” hat einen GEFÜLLTEN nachttopf auf dem kopf?
ich hab mir die redensart bisher so erklärt:
wenn einer über nacht verrückt wird und nachttopf mit hut verwechselt — nun gut, wenn er nachts in den hut pinkelt ist das suboptimal, aber immerhin merkt es keiner. anders, wenn er sich am nächsten morgen den scherben aufsetzt und das haus verlässt: in diesem moment SEHEN ALLE DASS ER SPINNT, und so hab ich die redensart bisher gedeutet.
wieder eine illusion weniger *seufz*
Grimm ist nicht der einzige, der die männliche Variante kennt. Auch in neueren Wörterbüchern ist sie zu finden. Siehe jeweils die erste Lesart:
DWDS:
http://www.dwds.de/?kompakt=1&sh=1&qu=scherben
Scher|ben, der; ‑s, -: 1. (südd., österr.) Scherbe. 2. (südd.) irdener Topf [für Blumen]. 3. (Keramik) gebrannter, aber noch nicht glasierter keramischer Werkstoff: die Glasur wird auf den vorgebrannten S. aufgeschmolzen.
© 2000 Dudenverlag, Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache
Dies, in Kombination mit einer im Breisgau verbrachten Jugend, könnte vielleicht die männliche Form erklären; es sei denn, es liege tatsächlich einfach an der Aussprache “jeda”.
Zur eigentlich gestellten Frage: In meinem Dialekt, dem Zürichdeutschen, ist das Wort (Schèèrbe) auch als Bruchstück männlich.
Also ich bin aus der Steiermark und verwende der Scherbe(n) für einen Topf 🙂
Wie wäre es denn, Judith H. einfach zu fragen, was sie da genau singt und wo es herkommt? Kann doch gut sein, dass eine entsprechende Mail-Anfrage beantwortet wird.
Das sind nur die Wiener. Aus Linz war mir weder die Redensart noch der männliche Scherben geläufig. 🙂
Nein, wenn er, statt in der
TinteScheiße zu sitzen, …Und jetzt habe ich mir das Lied endlich angehört…!
Ja, ich höre da am ehesten noch mein /ɐ/ heraus, also “jeder der Scherben”. Trotzdem ist dieser Laut sehr leicht von Holofernes’ /ɐ/ zu unterscheiden: sie hat nämlich überhaupt keins. Sie nimmt stattdessen /aː/: zweimal derselbe Vokal in Vater [ˈfaːtʰaː], zweimal derselbe in darunter [daːˈʀʊntʰaː].
(Das macht die Merkel doch auch, oder?)
Dann habe ich mir wie empfohlen “Ein Elefant für dich” angehört. Holofernes’ Schwa ist, wenn es lang gesungen wird (ich fraaaageeee kommt vor), irgendein gewürgter gerundeter Zentralvokal, vermutlich das halb mythische [ʚ]; wenn es kurz ist, kommt etwas heraus, das wirklich nahe am [ɐ] ist. Also höre ich beinahe, wie beschrieben, “deiner Monster sind gernau wie meiner” — und dieses “beinahe” könnte daran liegen, dass ich ja gerade gelernt habe, dass sie /ɐ/ durch /aː/ ersetzt.
Kommt davon, wenn man sich überhaupt ein Schwa zulegt. Wo ich herkomme, gibt es sowas nicht. =8-) 😉
Nochmal was Neues: Die entsprechende Färbung könnte auch durch den Einsatz von klangbearbeitenden Effekten herrühren. In der Tat wäre eine direkte Anfrage an die Dame für die Klärung am sinnvollsten.
gutentag@wirsindhelden.de
Bin gespannt, ob noch was kommt.
Sprachgefühl sagt:
- Standarddeutsch: eindeutig feminin
- Schweizerdeutsch: eindeutig maskulin
Ich höre übrigens auch “JedER”
Ich habe den Song jetzt mehrmals gehört. Eindeutig “Jeder”. Und nun grüble ich über mein Sprachgefühl, das sich weigert, das als falsch zu empfinden. Umgekehrt habe ich bei “die Scherbe” dasselbe Gefühl wie bei “die Butter” — es wirkt fremd, aber auch nicht falsch. Aufgewachsen bin ich auf der Baar (zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb).