Auf Bild Online sind dieser Tage unter der Überschrift „Die 10 Geheimnisse der deutschen Sprache“ zehn nicht sehr geheime Wissensbrocken über die deutsche Sprache erschienen. Beim Lesen der Überschrift habe ich Vorfreude über die Dummheiten verspürt, die da wohl stehen würden und die ich hier zerpflücken könnte. Aber besonders ergiebig war die Sache dann doch nicht. Nur bei ein paar Details liegt die Bild-Redaktion offensichtlich daneben, der Rest ist etwas ungenau oder schwer nachvollziehbar aber nicht eindeutig falsch. Da ich mir die Arbeit aber nun einmal gemacht habe, will ich die Ergebnisse meiner Überprüfung trotzdem teilen.
1. 155 Mio. Menschen sprechen weltweit Deutsch – Rang 9. (Nr. 1: Mandarin, 867,2 Mio).
Das ist großzügig geschätzt, könnte aber ungefähr stimmen. Das Goethe-Institut geht von weltweit 110 Millionen Muttersprachlern aus, zu denen 17 Millionen Menschen hinzukommen, die derzeit (2005) Deutsch als Fremdsprache lernen. Mir ist keine Statistik darüber bekannt, wieviele nichtdeutsche Muttersprachler bereits Deutsch sprechen, aber da die Zahlen der Deutschlerner seit Jahren rückläufig sind, wäre es nicht übertrieben, zu den 17 Millionen noch einmal 20–30 Millionen Sprecher des Deutschen als Fremdsprache hinzuzurechnen. [Link: Goethe-Institut]
2. Deutsch besteht aus rund 300 000 Wörtern.
Hier war die Bild-Zeitung eher konservativ: laut Duden-Redaktion liegt der Wortschatz des Deutschen zwischen 300 000 und 500 000 Wörtern [Link: Duden]. Auch das ist aber nur geraten, denn die Frage „wieviele Wörter“ das Deutsche (oder irgendeine andere Sprache) hat, lässt sich schlicht nicht beantworten. Sprachen sind im ständigen Wandel, neue Wörter kommen hinzu, alte Wörter verschwinden. Es gibt keine Kriterien dafür, ab wann ein Wort zu einer Sprache hinzugerechnet werden kann oder ab wann es als verschwunden zählt. Hinzu kommt, dass unklar ist, wo die Grenzen des Deutschen sind, ob etwa Dialektwörter mitgezählt werden. Schließlich ist unklar, was als „Wort“ zählt: zählen nur einfache Wörter, oder zählt man auch Komposita mit?
Da die Antworten auf alle diese Fragen im Belieben desjenigen stehen, der die Wörter zählt, kommen unterschiedliche Sprachgemeinschaften auf sehr unterschiedliche Schätzungen ihres Wortschatzes. In der englischsprachigen Welt glaubt man gerne, dass das Englische den größten Wortschatz habe, und verweist dabei gerne auf das Oxford English Dictionary, das über 500 000 Wörter in 290 000 Einträgen enthält (z.B. hier):
The statistics of English are astonishing. Of all the world’s languages (which now number some 2,700), it is arguably the richest in vocabulary. The compendious Oxford English Dictionary lists about 500,000 words; and a further half-million technical and scientific terms remain uncatalogued. According to traditional estimates, neighboring German has a vocabulary of about 185,000 and French fewer than 100,000, including such Franglais as le snacque-barre and le hit-parade.
Nun ist das Oxford English Dictionary ein historisches Wörterbuch: es enthält tausende von Wörtern, die aus der Sprache verschwunden sind oder die nur in bestimmten Dialekten vorkommen, und natürlich enthält es abertausende von Lehnwörtern. Ein vergleichbares Wörterbuch gibt es für das Deutsche oder Französische nicht, aber daraus lassen sich keinerlei Rückschlüsse über die Größe ihrer Wortschätze ableiten.
3. Jährlich kommen rund tausend neue Wörter dazu, Dutzende verschwinden auch.
Woher diese Statistik stammt, ist mir völlig schleierhaft. Mein Kollege Lothar Lemnitzer kommt in seiner Wortwarte schon in einem einzigen Monat auf über 300 neue Wörter. Aber hier gelten die selben Einschränkungen, wie bei Punkt 2: Wieviele neue Wörter man zählt, hängt davon ab, was man als Wort zählt und was nicht. Immerhin gibt die Behauptung der Bild Anlass zur Hoffnung: Wenn für tausend neue Wörter nur „dutzende“ alte verschwinden, müsste der deutsche Wortschatz ja pro Jahr um mindestend 900 Wörter anwachsen — wir werden das Englische also bald eingeholt haben.
4. Die Abrogans-Handschrift (8. Jahrhundert) ist das älteste Buch in deutscher Sprache. Sie wurde in einem Kloster im Südwesten des deutschen Sprachraums von etwa 20 verschiedenen Händen verfasst.
Das scheint grundsätzlich zu stimmen.
5. Der Mainzer Reichslandfriede (15. August 1235) ist das erste Reichsgesetz, das in deutscher und lateinischer Sprache geschrieben wurde.
Auch hier stimmt Wikipedia zu.
6. Im 13. Jahrhundert konnte man das Wort „haben“ in 20 verschiedenen Formen schreiben: haben, hauen, haven, hawen, habben, habin, hauin, habn, hab’n, habein, habm, habent, habe, heben, hebben, han, hane, hain, hayn, hen.
Genaugenommen konnte man es schreiben, wie man wollte: eine einheitliche Orthografie (geschweige denn eine offizielle) gabe es im 13. Jahrhundert noch nicht. Man schrieb deshalb so, wie man sprach (oder zu sprechen glaubte). Die Beispiele der Bild zeigen deshalb nicht nur orthografische, sondern vor allem dialektale Variation.
7. Die Märchen-Brüder Grimm haben 1838 in Berlin das Deutsche Wörterbuch begonnen. Der erste Band „A – Biermolke“ erschien 1854.
Das stimmt. Interessant ist vielleicht noch: der letzte Band erschien erst 1960.
8. Etliche deutsche Wörter sind ausgewandert: In den USA spricht man z. B. vom „Schweinehund“, in Nigeria sagt man „Ist das so?“
Den Schweinehund kennen die Amerikaner, wenn überhaupt, aus Kriegsfilmen, in denen Deutsche mit diesem Wort unglaubhaft freigiebieg damit um sich werfen. Und das angebliche nigerianische Istdasso stammt — wie könnte es anders sein — aus der Liste der „ausgewanderten Wörter“. Es scheint ungefähr so real zu sein, wie das Gestaltmikrofon: es gibt keinen einzigen Treffer auf nigerianischen Webseiten.
9. Das Wort „Reklame“ wurde 1930 als undeutsch gegen „Werbung“ ausgetauscht.
Hier bleibt unklar, wer diese zwei Wörter gegeneinander „ausgetauscht“ haben soll. Ein offizielles Verbot erscheint mir unwahrscheinlich, da der damalige Reichskanzler Heinrich Brüning andere Sorgen gehabt haben dürfte. Aber vielleicht war es ja gar kein Verbot, sondern nur der Wunsch damaliger Sprachnörgler. Oder die Bild hat sich im Jahr geirrt. Wie dem auch sei, besondere Mühe hat sich mit der Vermeidung des Wortes Reklame offensichtlich niemand gegeben.
10. Beispiel Sprach-Entwicklung: „Da kam eine samaritische Frau, um Wasser zu holen. Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken…“ (Bibel-Übersetzung 1926). Bei Martin Luther las sich das 1522 so: „Da kompt eyn weyb von Samaria, wasser zu schepffen, Jhesus spricht zu yhr, gib myr trincken…“
Wofür auch immer das ein Beispiel ist — Sprachentwicklung lässt sich daran kaum verdeutlichen. Luther wählte das Präsens, die Übersetzung von 1926 das Präteritum, aber davon abgesehen unterscheidet sich Luthers Übersetzung nur in der orthografischen Darstellung. Im Gegenteil — das Beispiel zeigt, wie langsam sich Grammatik und Wortschatz einer Sprache verändern: wenn wir in Luthers Zeit zurückreisen würden, könnten wir uns dort ohne größere Probleme verständlich machen.
Dass das Abrogans-Glossar von etwa “20 verschiedenen Händen” verfasst wurde, spricht 1. für mein Gefühl den Händen unverdient Autorenschaft zu. 2. kann man bei einer Abschrift sowieso nicht vom Verfassen sprechen, oder?
Ich frage mich, was an diesen zehn Geheimnissen so geheim sein soll?
Fast keiner Ami weißt in der Tat, was Schweinehund ist.
Frank Rawel (#1), soweit ich weiß, spricht man bei der Untersuchung alter Manuskripte von „Händen“ wenn man Schreiber (bzw. ihre Handschrifen) meint. Im Kontext der Bildzeitung klingt das tatsächlich wunderlich. Es ist wohl auch eine sehr großzügige, nicht von allen Forschern geteilte Schätzung der Anzahl beteiligter Schreiber (siehe hier).
Das Grimm’sche wäre so eins gewesen, aber es ist natürlich so 200 Jahre lang nicht
updatedauf neuesten Stand gebracht worden, anders als das OED, das je nach Band nur bis zu 50 Jahre hinterherhinkt…@ Liam R : Sie wissen sicher nicht was es ist, die Assoziation mit WK 2 und deutschen Soldaten ist aber durchaus gegeben.
@ Rawel (#1) & Stefanowitsch (#4)
> spricht man bei der Untersuchung alter Manuskripte von „Händen“ wenn man Schreiber (bzw. ihre Handschrifen) meint
Ähnlich angeblich (N. Stephenson, “Cryptonomicon”) auch in der Kryptologie des 2. WK, wo man die Echtheit einer gemorsten Nachricht auch anhand der bekannten “Faust”/“fist” des Senders einzuschätzen versuchte.
@2/Julius: Da muss man im Bild-Wörterbuch nachschlagen:
http://www.bildblog.de/woerterbuch.php#G
Meine Favoriten: 1),2),3) oder 9)
Deutsch besteht aus rund 300 000 Wörtern? Ob die denn eigentlich auch jeder sprechen kann, wieviel Wörter hat den so der “Otto Normal” Deutsche im Gebrauch, echt interessant.….
401.000 Google-Treffer für “swinehund”. Nochmal so viele Treffer für “schwinehund”. Eine ganze Menge dafür, dass kein Amerikaner den “Schweinehund” kennen soll. Und gerade mal ein Viertel der Treffer stehen in einem Kontext rund um GERMANY, GERMAN, NAZI oder WW2.
@Danny (#10): Klar, ist ja allgemein bekannt, dass nur Amerikaner das Internet benutzen.