Zu den meistgelesenen Beiträge hier im Sprachblog gehört die Serie über die Redewendung Sinn machen — vier der fünf Teile (siehe hier: I, II, III, IV, V) kommen unter die ewigen Top Ten. Auch die Diskussion in den Kommentaren zu diesen Beiträgen flammt immer wieder einmal auf. Das freut mich natürlich, und so möchte ich einige der dort diskutierten Fragen ich in nächster Zeit in mehr oder weniger knappen Beiträgen aufgreifen.
Im ersten Teil der Serie habe ich unter anderem darauf hingewiesen, dass es sich bei der Redewendung Sinn machen nicht um ein neues Phänomen handelt, anders als folgendes Zitat des obersten Sinnmachenhassers Bastian Sick vermuten lässt:
Seit einiger Zeit hat sich im deutschen Sprachraum eine Phrase breit gemacht, die auf die alte Frage nach dem Sinn eine neue Antwort zu geben scheint. Mit ihr feiert die Minderheitensprache Denglisch ungeahnte Triumphe, grammatischer Unsinn „macht“ plötzlich Sinn.
Ich habe Fundstellen aus den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten zitiert, und Sprachblogleser „cri“ fand sogar Belege aus den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts.
Das Sinn machen ist also über zweihundert Jahre alt. Nun steht das nicht unbedingt im Widerspruch zu Sicks Aussage, denn wie lang ist einige Zeit? Mein Sprachgefühl sagt mir, dass „einige Zeit“ weniger als zwei Jahre sind, da man sonst „ein paar Jahre“ sagen würde, aber es gibt natürlich Zusammenhänge, in denen auch längere Zeiträume als „einige Zeit“ bezeichnet werden können.
Aber selbst, wenn zweihundert Jahre außerhalb der Zeitspanne liegen, die plausiblerweise mit „einige Zeit“ umschrieben werden kann, wäre Sicks Aussage nicht unbedingt fals, denn er sagt ja nicht, dass es die Redewendung erst seit einiger Zeit gibt, sondern, dass sie sich erst seit einiger Zeit ausgebreitet hat.
Diesen Punkt griff Sprachblogleser „Nörgler“ auf und brachte Zahlen aus einem Zeitschriftenkorpus (dem Mannheimer Morgen, nach Jahrgängen durchsuchbar beim Institut für Deutsche Sprache), die nahelegen, dass es einen dramatischen Anstieg seit Ende der neunziger Jahre gegeben habe. Da die Zwiebelfisch-Kolumne zum Thema vom 20.8.2003 stammt, könnte man in diesem Fall dann tatsächlich davon sprechen, dass die Phrase sich „seit einiger Zeit“ (nämlich ca. drei Jahren) breit macht.
Die Zahlen, die „Nörgler“ nennt, scheinen seine Aussage zunächst zu stützen, in Diagrammform sehen sie so aus:
Allerdings hat „Nörgler“ erstens nur nach der genauen Form Sinn machen gesucht und hat so Varianten wie macht (keinen) Sinn, hat (keinen) Sinn gemacht, usw. nicht mit erfasst, zweitens hat er/sie übersehen, dass die Gesamtmenge der Texte, die für die einzelnen Jahrgänge zur Verfügung steht, sehr unterschiedlich ist. Um einen realistischen Eindruck von der Ausbreitung der Redewendung zu bekommen, muss man die Vorkommen von „Sinn machen“ in Bezug zur Gesamtmenge der Daten für jedes Jahr setzen. In der folgenden Grafik habe ich das getan, sie zeigt die Häufigkeit der Redewendung pro Million Wörter, wobei ich alle grammatischen Varianten der Redewendung mitgezählt habe:
Hier zeigt sich ein deutlich komplexeres Bild: die Redewendung war schon Mitte der neunziger Jahre mit ca. 9 Vorkommen pro Million Wörter relativ häufig, es geht dann mal auf und mal ab mit ihr, wobei sie mittelfristig häufiger wird und sich in den 2000ern bei etwa 11 Treffern pro Million Wörter zu stabilisieren scheint (zum Vergleich: make (no) sense ist im schriftlichen britischen und amerikanischen Englisch etwa doppelt so häufig).
Um die Ergebnisse korrekt zu interpretieren, muss man allerdings noch wissen, dass geschriebene Sprache in ihrer Entwicklung der gesprochenen Sprache hinterherhinkt. Wie weit, das ist leider sehr schwer zu sagen — ich habe keine Quelle gefunden, die sich hier festlegen wollte. Kollegen aus der historischen Sprachwissenschaft, die ich gefragt habe, haben Antworten wie „Zwischen fünfzig und dreihundert Jahre“ gegeben und gebeten, nicht namentlich genannt zu werden. Wenn wir davon ausgehen, dass sie ungefähr richtig liegen, können wir Zeitungssprache sicher am kurzen Ende dieser Zeitspanne einsortieren, da Zeitungsprache relativ informell und damit wahrscheinlich näher an der gesprochenen Sprache ist als z.B. Gesetzestexte oder wissenschaftliche Arbeiten. Um ganz sicher zu gehen, können wir noch einmal 50% Toleranz einrechnen und kommen so auf eine Zeitverzögerung von 25–50 Jahren.
So könnten wir vorsichtig geschätzt davon ausgehen, dass die Redewendung sich bereits spätestens seit den siebziger Jahren ausbreitet — was zu den weiter oben erwähnten vereinzelten frühen Belegen passen würde. Es könnte aber auch sein, dass sie im gesprochenen Deutsch bereits seit den fünfziger Jahren Fuß fasst. Ob das noch als „einige Zeit“ beschrieben werden kann, ist im Prinzip egal. Auf jeden Fall machen die Daten aus dem Zeitschriftenkorpus deutlich, dass im Deutschen jahrzehntelang Sinn gemacht wurde, ohne dass irgendjemand sich daran gestoßen hätte.
Toller Nachtrag, sehr informativ.
Pingback: www.lieb-link.de
Ich kann mich erinnern, dass schon in meiner Schulzeit, die immerhin mehr als 40 Jahre zurückliegt, das “Sinnmachen” als Anglizismus verdammt wurde.
Wer sich übrigens weitergehend für den Sachaspekt (richtig, falsch, deutsch, englisch, denglisch, geknetet, ungeknetet, geschüttelt, gerührt) interessiert, dem lege ich Andre Meinungers Buch “Sick of Sick” ans Gehirn. Das räumt sehr gründlich und fundiert mit diesem und anderen Irrtümern Sicks auf. Nicht immer genussvoll zu lesen, aber dafür wie gesagt da genau, wo Sick bloß unbelegt schwallt.
Müsste man nicht eigentlich (k)einen Sinn machen und Sinn machen unterscheiden? Wenn ich mich recht entsinne, habe ich in einer Ausgabe dieser Dauerdiskussion für ersteres sogar mal einen Textnachweis bei Goethe gesehen, während die artikellose Variante erst später aufgekommen sein soll.
Bergmann schreibt in seinem Buch “Der die Was?”, dass “Sinn machen” aus der Fernsehserie “Dallas” den Weg ins alltägöiche Sprachdeutsch gefunden hätte. Das käme zeitlich durchaus hin (Die Serie lief Ende der 70er). Andererseits gibt er keine Quelle für diese Behauptung an und er ist ja auch kein Sprachwissenschaftler…
(Ist aber dennoch ein nettes Buch)
Es existiert eine Studie der Verbreitung der spanischen Variante dieser Redewendung. “Hacer sentido” (“Sinn machen”) im Gegensatz zu “tener sentido” kommt mit der geografischen und politischen Nähe zu den USA häufiger vor.
Sollte man nicht die Schelte am “Sinn machen” aus der Zählung rausrechen? Wie oft wird es gebraucht, es zu tadeln? Nur 1%? Oder schon 50? (Wie Kommentator Höder kenne ich das aus meiner Schulzeit. Der Lehrer meinte damals (70er), die Redensart sei mit den US-Truppen ins Land gekommen.)
Ich lebte sinnlos für mich hin
da schuf der Herrscher einen Sinn
auf dass ich für ihn sterben ging
mein Sinn war, dass ich nicht mehr bin
[Etwas Geblödel, sorry. Aber nicht ganz: ‘Sinn’ wird heute anders gebraucht als früher: “ich hatt im Sinn”, “mein hoher Sinn”, “mein Stand und Sinn”, “mein Lieb und Sinn”, “labt mir den Sinn”, “da war mein Sinn bestürzet” — als man Sinn eben nicht “suchte”, sondern: war. Die Sinne, bündig gefasst als das Leibliche: “Mein Seel und Sinn”. Den Sinn im heutigen Sinne des Sinnspruchs z.B. finde ich vor Gryphius und Silesius nicht.]
Detlef Gürtler beschäftigt sich im Wortistik-Blog mit der Frage, ob Sinnmachung im Vergleich zu Sinnmachen nicht das bessere Substantiv zum Machen von Sinn ist und führt ein interessantes sinnmach(en|ungs)ablehnendes Zitat aus dem Spiegel an, das zehn Jahre vor Sicks Kolumne erschienen ist. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht habe ich keine Einwände, würde aber darauf hinweisen, dass Sinnmachen eher den Prozess des Sinnmachens hervorhebt, während Sinnmachung auf das Ergebnis fokussiert. Er behauptet dann allerdings, dass es im Englischen kein sensemaking gebe. Ich habe zwar innerlich spontan genickt, dann aber doch lieber noch gegoogelt, und siehe da: es gibt kein mögliches Wort, für dass Organisationspsychologen nicht eine passende Verwendung finden würden.
Anm. des Administrators: Dieser Kommentar wurde wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Urheberrecht entfernt. Er bestand aus diesem Text.
Die deutsche Sprache, ob man sie nun für „schön“ hält oder nicht, ist so flexibel wie kaum eine andere.
Solche Behauptungen, die jeder Grundlagen entbehren, finde ich inmitten solcher Auslassungen ja immer ganz besonders drollig.
Ich verstehe nicht ganz, inwieweit es sinnvoll ist, die Häufigkeit der Nutzung dieser Formulierung zu zählen. Tatsächlich interessant wäre ja zu zählen, wie oft “Sinn machen” statt “sinnvoll sein” oder “Sinn ergeben” benutzt wird, das ja angeblich die “korrekte” Form ist.
“Sinnmachen” und “Sinnmachung”? Wenn das die Alternativen sind, verzichte ich. “Sinngebung” reicht mir. Im übrigen: “Sick of Sick” zerlegt Sick sicherlich zu Recht. Aber André Meinunger suggeriert mehrfach, dass etwas schon dann akzeptabel ist, weil es vorkommt. Ich widerspreche dem. Für Zeitungsüberschriften nach dem Strickmuster “Einigung bei Löhnen” lassen sich tausende Beispiele finden, aber hält jemand sowas für akzeptabel? Die deutsche Sprache ist nur deshalb flexibel, weil jeder an ihr rumbiegt. Ihr ab und zu ein Korsett zu geben, das scheint mir nicht ganz falsch zu sein.