Seit wann machen wir im Deutschen Sinn?

Von Anatol Stefanowitsch

Zu den meist­ge­le­se­nen Beiträge hier im Sprach­blog gehört die Serie über die Redewen­dung Sinn machen — vier der fünf Teile (siehe hier: I, II, III, IV, V) kom­men unter die ewigen Top Ten. Auch die Diskus­sion in den Kom­mentaren zu diesen Beiträ­gen flammt immer wieder ein­mal auf. Das freut mich natür­lich, und so möchte ich einige der dort disku­tierten Fra­gen ich in näch­ster Zeit in mehr oder weniger knap­pen Beiträ­gen aufgreifen.

Im ersten Teil der Serie habe ich unter anderem darauf hingewiesen, dass es sich bei der Redewen­dung Sinn machen nicht um ein neues Phänomen han­delt, anders als fol­gen­des Zitat des ober­sten Sin­n­machen­has­sers Bas­t­ian Sick ver­muten lässt:

Seit einiger Zeit hat sich im deutschen Sprachraum eine Phrase bre­it gemacht, die auf die alte Frage nach dem Sinn eine neue Antwort zu geben scheint. Mit ihr feiert die Min­der­heit­en­sprache Denglisch ungeah­nte Tri­umphe, gram­ma­tis­ch­er Unsinn „macht“ plöt­zlich Sinn.

Ich habe Fund­stellen aus den sechziger und siebziger Jahren des zwanzig­sten zitiert, und Sprach­blogleser „cri“ fand sog­ar Belege aus den sechziger Jahren des achtzehn­ten Jahrhunderts.

Das Sinn machen ist also über zwei­hun­dert Jahre alt. Nun ste­ht das nicht unbe­d­ingt im Wider­spruch zu Sicks Aus­sage, denn wie lang ist einige Zeit? Mein Sprachge­fühl sagt mir, dass „einige Zeit“ weniger als zwei Jahre sind, da man son­st „ein paar Jahre“ sagen würde, aber es gibt natür­lich Zusam­men­hänge, in denen auch län­gere Zeiträume als „einige Zeit“ beze­ich­net wer­den können.

Aber selb­st, wenn zwei­hun­dert Jahre außer­halb der Zeitspanne liegen, die plau­si­bler­weise mit „einige Zeit“ umschrieben wer­den kann, wäre Sicks Aus­sage nicht unbe­d­ingt fals, denn er sagt ja nicht, dass es die Redewen­dung erst seit einiger Zeit gibt, son­dern, dass sie sich erst seit einiger Zeit aus­ge­bre­it­et hat.

Diesen Punkt griff Sprach­blogleser „Nör­gler“ auf und brachte Zahlen aus einem Zeitschriftenko­r­pus (dem Mannheimer Mor­gen, nach Jahrgän­gen durch­such­bar beim Insti­tut für Deutsche Sprache), die nahele­gen, dass es einen drama­tis­chen Anstieg seit Ende der neun­ziger Jahre gegeben habe. Da die Zwiebelfisch-Kolumne zum The­ma vom 20.8.2003 stammt, kön­nte man in diesem Fall dann tat­säch­lich davon sprechen, dass die Phrase sich „seit einiger Zeit“ (näm­lich ca. drei Jahren) bre­it macht.

Die Zahlen, die „Nör­gler“ nen­nt, scheinen seine Aus­sage zunächst zu stützen, in Dia­gramm­form sehen sie so aus:

Häufigkeit des Ausdrucks <em>Sinn machen</em>

Häu­figkeit des Aus­drucks Sinn machen

Allerd­ings hat „Nör­gler“ erstens nur nach der genauen Form Sinn machen gesucht und hat so Vari­anten wie macht (keinen) Sinn, hat (keinen) Sinn gemacht, usw. nicht mit erfasst, zweit­ens hat er/sie überse­hen, dass die Gesamt­menge der Texte, die für die einzel­nen Jahrgänge zur Ver­fü­gung ste­ht, sehr unter­schiedlich ist. Um einen real­is­tis­chen Ein­druck von der Aus­bre­itung der Redewen­dung zu bekom­men, muss man die Vorkom­men von „Sinn machen“ in Bezug zur Gesamt­menge der Dat­en für jedes Jahr set­zen. In der fol­gen­den Grafik habe ich das getan, sie zeigt die Häu­figkeit der Redewen­dung pro Mil­lion Wörter, wobei ich alle gram­ma­tis­chen Vari­anten der Redewen­dung mit­gezählt habe:

Häufigkeit des Ausdrucks <em>Sinn machen</em> pro eine Million Wörter

Häu­figkeit des Aus­drucks Sinn machen pro eine Mil­lion Wörter

Hier zeigt sich ein deut­lich kom­plex­eres Bild: die Redewen­dung war schon Mitte der neun­ziger Jahre mit ca. 9 Vorkom­men pro Mil­lion Wörter rel­a­tiv häu­fig, es geht dann mal auf und mal ab mit ihr, wobei sie mit­tel­fristig häu­figer wird und sich in den 2000ern bei etwa 11 Tre­f­fern pro Mil­lion Wörter zu sta­bil­isieren scheint (zum Ver­gle­ich: make (no) sense ist im schriftlichen britis­chen und amerikanis­chen Englisch etwa dop­pelt so häufig).

Um die Ergeb­nisse kor­rekt zu inter­pretieren, muss man allerd­ings noch wis­sen, dass geschriebene Sprache in ihrer Entwick­lung der gesproch­enen Sprache hin­ter­her­hinkt. Wie weit, das ist lei­der sehr schw­er zu sagen — ich habe keine Quelle gefun­den, die sich hier fes­tle­gen wollte. Kol­le­gen aus der his­torischen Sprach­wis­senschaft, die ich gefragt habe, haben Antworten wie „Zwis­chen fün­fzig und drei­hun­dert Jahre“ gegeben und gebeten, nicht namentlich genan­nt zu wer­den. Wenn wir davon aus­ge­hen, dass sie unge­fähr richtig liegen, kön­nen wir Zeitungssprache sich­er am kurzen Ende dieser Zeitspanne ein­sortieren, da Zeitung­sprache rel­a­tiv informell und damit wahrschein­lich näher an der gesproch­enen Sprache ist als z.B. Geset­zes­texte oder wis­senschaftliche Arbeit­en. Um ganz sich­er zu gehen, kön­nen wir noch ein­mal 50% Tol­er­anz ein­rech­nen und kom­men so auf eine Zeitverzögerung von 25–50 Jahren.

So kön­nten wir vor­sichtig geschätzt davon aus­ge­hen, dass die Redewen­dung sich bere­its spätestens seit den siebziger Jahren aus­bre­it­et — was zu den weit­er oben erwäh­n­ten vere­inzel­ten frühen Bele­gen passen würde. Es kön­nte aber auch sein, dass sie im gesproch­enen Deutsch bere­its seit den fün­fziger Jahren Fuß fasst. Ob das noch als „einige Zeit“ beschrieben wer­den kann, ist im Prinzip egal. Auf jeden Fall machen die Dat­en aus dem Zeitschriftenko­r­pus deut­lich, dass im Deutschen jahrzehn­te­lang Sinn gemacht wurde, ohne dass irgend­je­mand sich daran gestoßen hätte.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

13 Gedanken zu „Seit wann machen wir im Deutschen Sinn?

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  2. Höder

    Ich kann mich erin­nern, dass schon in mein­er Schulzeit, die immer­hin mehr als 40 Jahre zurück­liegt, das “Sin­n­machen” als Anglizis­mus ver­dammt wurde.

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  3. Wolfgang Hömig-Groß

    Wer sich übri­gens weit­erge­hend für den Sachaspekt (richtig, falsch, deutsch, englisch, denglisch, geknetet, ungeknetet, geschüt­telt, gerührt) inter­essiert, dem lege ich Andre Mei­n­ungers Buch “Sick of Sick” ans Gehirn. Das räumt sehr gründlich und fundiert mit diesem und anderen Irrtümern Sicks auf. Nicht immer genussvoll zu lesen, aber dafür wie gesagt da genau, wo Sick bloß unbelegt schwallt.

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  4. Christoph Päper

    Müsste man nicht eigentlich (k)einen Sinn machen und Sinn machen unter­schei­den? Wenn ich mich recht entsinne, habe ich in ein­er Aus­gabe dieser Dauerdiskus­sion für ersteres sog­ar mal einen Textnach­weis bei Goethe gese­hen, während die artikel­lose Vari­ante erst später aufgekom­men sein soll.

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  5. Peer

    Bergmann schreibt in seinem Buch “Der die Was?”, dass “Sinn machen” aus der Fernsehserie “Dal­las” den Weg ins alltägöiche Sprachdeutsch gefun­den hätte. Das käme zeitlich dur­chaus hin (Die Serie lief Ende der 70er). Ander­er­seits gibt er keine Quelle für diese Behaup­tung an und er ist ja auch kein Sprachwissenschaftler…

    (Ist aber den­noch ein nettes Buch)

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  6. Wentus

    Es existiert eine Studie der Ver­bre­itung der spanis­chen Vari­ante dieser Redewen­dung. “Hac­er sen­ti­do” (“Sinn machen”) im Gegen­satz zu “ten­er sen­ti­do” kommt mit der geografis­chen und poli­tis­chen Nähe zu den USA häu­figer vor.

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  7. dirk

    Sollte man nicht die Schelte am “Sinn machen” aus der Zäh­lung raus­rechen? Wie oft wird es gebraucht, es zu tadeln? Nur 1%? Oder schon 50? (Wie Kom­men­ta­tor Höder kenne ich das aus mein­er Schulzeit. Der Lehrer meinte damals (70er), die Reden­sart sei mit den US-Trup­pen ins Land gekommen.) 

    Ich lebte sinn­los für mich hin

    da schuf der Herrsch­er einen Sinn

    auf dass ich für ihn ster­ben ging

    mein Sinn war, dass ich nicht mehr bin

    [Etwas Geblödel, sor­ry. Aber nicht ganz: ‘Sinn’ wird heute anders gebraucht als früher: “ich hatt im Sinn”, “mein hoher Sinn”, “mein Stand und Sinn”, “mein Lieb und Sinn”, “labt mir den Sinn”, “da war mein Sinn bestürzet” — als man Sinn eben nicht “suchte”, son­dern: war. Die Sinne, bündig gefasst als das Leib­liche: “Mein Seel und Sinn”. Den Sinn im heuti­gen Sinne des Sinnspruchs z.B. finde ich vor Gryphius und Sile­sius nicht.] 

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  8. Anatol Stefanowitsch

    Detlef Gürtler beschäftigt sich im Wortis­tik-Blog mit der Frage, ob Sin­n­machung im Ver­gle­ich zu Sin­n­machen nicht das bessere Sub­stan­tiv zum Machen von Sinn ist und führt ein inter­es­santes sinnmach(en|ungs)ablehnendes Zitat aus dem Spiegel an, das zehn Jahre vor Sicks Kolumne erschienen ist. Aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht habe ich keine Ein­wände, würde aber darauf hin­weisen, dass Sin­n­machen eher den Prozess des Sin­n­machens her­vorhebt, während Sin­n­machung auf das Ergeb­nis fokussiert. Er behauptet dann allerd­ings, dass es im Englis­chen kein sense­mak­ing gebe. Ich habe zwar inner­lich spon­tan genickt, dann aber doch lieber noch gegoogelt, und siehe da: es gibt kein möglich­es Wort, für dass Organ­i­sa­tion­spsy­cholo­gen nicht eine passende Ver­wen­dung find­en würden.

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  9. Gareth

    Die deutsche Sprache, ob man sie nun für „schön“ hält oder nicht, ist so flex­i­bel wie kaum eine andere.

    Solche Behaup­tun­gen, die jed­er Grund­la­gen ent­behren, finde ich inmit­ten solch­er Aus­las­sun­gen ja immer ganz beson­ders drollig.

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  10. Mocca

    Ich ver­ste­he nicht ganz, inwieweit es sin­nvoll ist, die Häu­figkeit der Nutzung dieser For­mulierung zu zählen. Tat­säch­lich inter­es­sant wäre ja zu zählen, wie oft “Sinn machen” statt “sin­nvoll sein” oder “Sinn ergeben” benutzt wird, das ja ange­blich die “kor­rek­te” Form ist.

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  11. Egbert Manns

    Sin­n­machen” und “Sin­n­machung”? Wenn das die Alter­na­tiv­en sind, verzichte ich. “Sin­nge­bung” reicht mir. Im übri­gen: “Sick of Sick” zer­legt Sick sicher­lich zu Recht. Aber André Mei­n­unger sug­geriert mehrfach, dass etwas schon dann akzept­abel ist, weil es vorkommt. Ich wider­spreche dem. Für Zeitungsüber­schriften nach dem Strick­muster “Eini­gung bei Löh­nen” lassen sich tausende Beispiele find­en, aber hält jemand sowas für akzept­abel? Die deutsche Sprache ist nur deshalb flex­i­bel, weil jed­er an ihr rumbiegt. Ihr ab und zu ein Korsett zu geben, das scheint mir nicht ganz falsch zu sein.

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