Verbrechen und Mundart

Von Anatol Stefanowitsch

Dialek­te haben ein schw­eres Imageprob­lem — und das, soweit wir wis­sen, immer und über­all. Sprech­er völ­lig unter­schiedlich­er Sprachge­mein­schaften sind sich (grob gesagt) einig, dass Dialek­t­sprech­er zwar net­ter, authen­this­ch­er und zuver­läs­siger sind, als Sprech­er der jew­eili­gen „Hochsprache“, aber eben­so einig sind sie sich, dass Dialek­t­sprech­er unge­bildet, ein biss­chen blöd im Kopf und zum gesellschaftlichen Mis­ser­folg ver­dammt sind.

Die Wiener Tageszeitung „Die Presse“ berichtet in ihrer Onlin­eaus­gabe von der Forschungsar­beit ein­er jun­gen Wiener Sprach­wis­senschaft­lerin, Bar­bara Soukup, die anhand ein­er Analyse öster­re­ichis­ch­er Fernsehsendun­gen her­aus­ge­fun­den hat, dass rhetorisch einge­set­zte Wech­sel von der „Hochsprache“ in den Dialekt auss­chließlich ver­wen­det wer­den, um den Inhalt des Gesagten zu diskred­i­tieren und sich davon zu distanzieren.

Woher das schlechte Image kommt, ist schw­er zu sagen. Aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht gibt es keinen Unter­schied zwis­chen den Vari­etäten ein­er Sprache, die als „Dialekt“ und der (oder denen), die als „Hoch-“ oder „Stan­dard­sprache“ beze­ich­net wer­den. Die neg­a­tive Wahrnehmung von Dialek­ten ist eher ein soziales Konstrukt.

Intere­san­nter­weise wird das Wort Dialekt in den Nachricht­en zum Beispiel häu­fig in Täterbeschrei­bun­gen ver­wen­det. Kost­proben aus den let­zten 12 Stun­den auf Google News: Ein­er der Täter sprach Zürcher Dialekt (Link), 170 cm groß, schlank, sprach hiesi­gen Dialekt (Link), Der Bursch, er dürfte etwa 17 Jahre alt sein, ist an die 1,80 Meter groß und sprach einen boden­ständi­gen Dialekt (Link), 180 cm groß, schlank, schwarze Sturmhaube, dun­kler Kapuzen­pul­li, pol­nis­ch­er Dialekt (Link), Angaben zum Dialekt kon­nte das Oper nicht machen, da es sofort das Bewusst­sein ver­lor. (Link).

Nun kön­nte man noch argu­men­tieren, dass der Dialekt eines Täters nun ein­mal ein gutes Iden­ti­fika­tion­s­merk­mal sei. Tat­säch­lich wird das Wort Hochdeutsch in Gegen­den mit einem hohen Anteil an Dialek­t­sprech­ern manch­mal eben­so ver­wen­det: Der Übeltäter wird als 50 bis 60 Jahre alt und etwa 1,60 Meter groß beschrieben. Er hat­te eine schlanke Fig­ur, humpelte leicht mit einem Bein und sprach Hochdeutsch (Link), Der hochdeutsch sprechende Mann führte eine Pis­tole bei sich (Link), Zeu­gen kon­nten sich an einen etwa 30 bis 35 Jahre alten und hochdeutsch sprechen­den Kun­den erin­nern (Link) (und tat­säch­lich ist die Hochsprache in solchen Gegen­den auch häu­fig unbeliebt).

Aber für die Kat­e­gorisierung, die der schweiz­er Tage­sanzeiger in sein­er Kom­men­tar­poli­tik vorn­immt, gibt es keine Entschuldigung:

Die Redak­tion behält sich vor, Kom­mentare nicht zu pub­lizieren. Dies gilt ins­beson­dere für ehrver­let­zende, ras­sis­tis­che, unsach­liche, the­men­fremde Kom­mentare oder solche in Mundart oder Fremd­sprachen. [Tagesanzeiger.ch]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

29 Gedanken zu „Verbrechen und Mundart

  1. Thomas Müller

    Na, wenn die Zeitung davon aus­ge­hen muss, dass ein Gut­teil ihrer Leser­schaft die Mundart nicht ver­ste­ht, dann ist es schon recht, den fraglichen Leser­brief nicht zu drucken.

    Gibt es Stu­di­en darüber, ob Dialekt und niedrigere Bil­dung kor­re­lieren? Mir kommt es so vor, aber ich kön­nte nicht sagen, ob ich da nicht selb­st dem besagten Vorurteil aufsitze.

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  2. bov

    Die Kom­mentare sollen ja geprüft wer­den — auf rechtliche Unbe­den­klichkeit, the­ma­tis­che Zuge­hörigkeit usw. Es gibt wahrschein­lich keinen Prüfer, der aller Dialek­te mächtig ist — und oben­drein jede indi­vidu­elle, willkür­liche Ver­schriftlichung entz­if­fern kann oder will. Die “Mundart” ste­ht hier also eher im Kon­text “Fremd­sprachen” als im Kon­text “ehrver­let­zend, unsach­lich” usw., ver­mute ich.

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  3. Hein Mück

    Ver­mut­lich ist in dem zitierten News­beitrag mit dem “pol­nis­chen Dialekt” ein pol­nis­ch­er Akzent gemeint oder kan­nte sich der Ver­fass­er so gut mit den regionalen Beson­der­heit­en inner­halb der pol­nis­chen Sprache aus?

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  4. Hedemann

    Ich finde das weniger drama­tisch. “Mundartlich” wird ja nicht mit “ras­sis­tisch” oder “ehrver­let­zend” gle­ichge­set­zt, son­dern offenkundig aus­geschlossen, damit auch Nicht-Mundart­sprech­er die Kom­mentare ver­ste­hen kön­nen. Halte ich für legit­im. Mundart wird ja ins­beson­dere in Foren gern ver­wen­det, um Nicht-Mundart­sprech­er zu diskred­i­tieren oder zu beleidigen.

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  5. Matthias

    Lieber Herr Stefanowitsch,

    haben Sie bei der Redak­tion des Schweiz­er Tage­sanzeigers denn mal nach der Begrün­dung für diese Ein­schränkung und nach deren Def­i­n­i­tion von Mundart gefragt? „Brauche ich nicht“, sagen Sie jet­zt vielle­icht und „egal, wie die Begrün­dung lautet, sie ist inakzept­abel“. So zumin­d­est ver­ste­he ich Ihr „gibt es nicht“.

    Schade. Mich, der ich mir Aufk­lärung darüber erhofft hat­te, was in der schweiz­erischen Schrift­sprache als „Mundart“ gilt und durch welch­es Maß an Abwe­ichung von den auch in der Schweiz akzep­tierten Rechtschreib- und Gram­matik­stan­dards des Deutschen diese Vari­etät zu erken­nen wäre, bringt das nicht weiter.

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  6. Anatol Stefanowitsch

    Matthias (#5), Sie ver­wech­seln mein Blog offen­sichtlich mit einem Auskun­fts­di­enst. Wenn Sie wis­sen möcht­en, was die Redak­tion des Tage­sanzeigers sich bei irgen­det­was denkt, fra­gen Sie ein­fach selb­st nach.

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  7. Simone

    Als Schweiz­erin kann ich dem Gesagten nicht ganz zus­tim­men. In der Schweiz herrscht weit­ge­hend eine Sit­u­a­tion der Diglossie, d.h. wir ver­wen­den für mündliche Kom­mu­nika­tion (unter Schweiz­ern) auss­chliesslich die Mundart, während die Hochsprache der schriftlichen oder formellen Kom­mu­nika­tion vor­be­hal­ten ist. In neuster Zeit stimmt diese Aus­sage allerd­ings nur noch bed­ingt, weil — vor allem in den neuen Medi­en Inter­net und SMS — immer öfter auch schriftlich in Mundart kom­mu­niziert wird unter jun­gen Leuten.

    Wenn der Tage­sanzeiger sich weigert, Leser­briefe in Mundart ent­ge­gen zu nehmen, so hat das mit der schriftlichen Form der Zeitung, aber auch mit dem Fehlen ein­er schweiz­erdeutschen Orthografie zu tun.

    Wenn gesagt wird “Ein­er der Täter sprach Zürcher Dialekt”, so ist das eine “polit­i­cal­ly cor­rect” Ueber­set­zung von “es war kein Aus­län­der”. Ausser­dem schränkt es den Täter­bere­ich ein, weil wir sehr klar zwis­chen den einzel­nen Dialek­ten unter­schei­den können.

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  8. Tina Seidenberger

    Dialekt und niedriger­er Bil­dungs­stand? Da glaube ich doch eher an den Neid auf den wirtschaftlichen Erfolg der Dialek­t­sprech­er im Süden.

    Ich finde allerd­ings, dass Mundart deshalb so heißt, weil sie gesprochen wird und dabei sollte es auch bleiben. Einen Leser­brief in Mundart zu ver­fassen macht auch nicht wirk­lich Sinn, da der Inhalt ja für alle leser­lich sein soll. Aber man weiß nie, was bei dieser Zeitung schon so einge­gan­gen ist.

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  9. micha42

    Es gibt dafür sog­ar eine sehr gute Entschuldigung: In der Schweiz wird — nur leicht über­spitzt — de fac­to schon ein Dorf weit­er hin­ter dem näch­st­gele­ge­nen Berg schoon mal ein völ­lig ander­er Dialekt gesprochen als an dem Ort, an dem man sich ger­ade befind­et. Die daraus resul­tierende Ver­ständ­niss­chwierigkeit­en sind im Mündlichen kaum zu ver­mei­den. Im Schriftverkehr schon. Die Ver­wen­dung des “Schrift­deutsch” kommt nicht von ungefähr. 

    Wie soll man eigentlic einen Text auf rechtliche Unbe­den­klichkeit über­prüfen, wenn man den fremd­sprach­lich anmu­ten­den Dialekt des Kom­men­ta­tors nicht versteht?

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  10. Nörgler

    In der Tat, wenn man unhöflich wird, ver­fällt man gern ins Mundartliche:

    Sie ver­wech­seln mein Blog offen­sichtlich mit einem Auskunftsdienst.”

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  11. Klaus Jarchow

    Ich denke, es hat wohl mit ‘Anstand’, ‘Bürg­er­lichkeit’ und ‘Sat­is­fak­tions­fähigkeit’ zu tun, es sind gewis­ser­maßen ‘his­torische Vorurteile’, ent­standen und gewach­sen im ‘Prozess der Zivil­i­sa­tion’ (N. Elias). Wer mundartlich spricht, ist weniger ‘zivil­isiert’:

    Mein Recht­san­walt wird sich in den näch­sten Tagen bei Ihnen melden!”

    vs.

    Woart, ik slei di glix wat vors Muul, du Poggensnuut!”

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  12. Nörgler

    Ich ziehe meinen let­zten Beitrag insoweit zurück, als ich darin davon aus­ge­gan­gen war, daß es “der Blog” heiße. Offen­bar sagen aber auch viele “das Blog”.

    Im übri­gen teile ich über­haupt nicht die Annahme, daß Mundart grund­sät­zlich neg­a­tiv wahrgenom­men werde. Für Hochsprache und Mundart gilt eben auch: Ein jedes zu sein­er Zeit. Eine Köl­ner Karnevalssitzung in reinem Hochdeutsch oder die Tagess­chau auf Kölsch wären eben deplaziert.

    Wer allerd­ings Hochdeutsch nicht einiger­maßen beherrscht oder kein Gefühl für die jew­eils angemessene Sprechebene besitzt, set­zt sich nicht zu unrecht dem Ver­dacht man­gel­nder Bil­dung aus.

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  13. P.Frasa

    Herr Nör­gler, aus­nahm­sweise stimme ich Ihnen zu: Es gehört zu der Bil­dung eines Men­schen zu wis­sen, in welchen Sit­u­a­tio­nen man wie spricht.

    Inter­es­san­ter­weise sind die Dinge, die im Artikel erwäh­nt wer­den, typ­isch (nord?)deutsche Wahrnehmungen. In der Schweiz ist der Dialekt seit langem mehr als nur salon­fähig und z.B. Inter­views mit Poli­tik­ern wer­den, sofern diese den Dialekt beherrschen, auch oft auf Schweiz­erdeutsch geführt (die Tagess­chau beste­ht daher aus diesem sehr merk­würdi­gen Gemisch zwis­chen Ansagen/Berichten auf Stan­dard­deutsch und gewis­sen Beiträ­gen auf Schweizerdeutsch). 

    Die teil­weise her­beigere­de­ten Ver­ständ­niss­chwierigkeit­en sind dabei allerd­ings min­im, heutzu­tage ver­ste­ht man als Deutschschweiz­er fast jeden Schweiz­er Dialekt prob­lem­los; und das obwohl es immer noch deut­liche Unter­schiede gibt.

    Demzu­folge muß man auch den Kom­men­tar des Tage­sanzeigers anders ver­ste­hen: Es geht hier rein um die schriftliche Ebene, und daß in ein­er Zeitung, die ja einen gewis­sen Anspruch ver­tritt, der Dialekt als Schrift­sprache nicht erwün­scht ist, kann ich gut ver­ste­hen. Das ist was ganz anderes in SMS, (informellen) E‑Mails, usw., aber de fac­to hat das schriftliche Schweiz­erdeutsch ein­fach noch einen ganz anderen Akzep­tanzs­ta­tus als das mündliche, und dem will eine ser­iöse Zeitung eben Rech­nung tra­gen. Sollte sich dere­inst mal das Schweiz­erdeutsche auch als formelle Schrift­sprache durch­set­zen, würde die Zeitung schon irgend­wann nachziehen. Mit einem vor­eili­gen Schritt würde sie sich hinge­gen eher in die Gesellschaft von gewis­sen Gratiszeitun­gen begeben, was ihrem Image dur­chaus schaden könnte.

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  14. Patrick Schulz

    Also ich glaube nicht, dass Bil­dungs­stand und Mundart kor­re­lieren. Peter Sodann, Mar­cel Reich-Ran­ic­ki, Edmund Stoiber, um nur einige zu nen­nen, sprechen alles andere als akzent­freies Stan­dard­deutsch, keinen von denen würde ich aber ern­sthaft als “unge­bildet” bezeichnen.

    OffT­poic: Allen an the­o­retis­ch­er Mor­pholo­gie und Algis­chen Sprachen Inter­essierten sei dies hier sich anzuschauen empfohlen.

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  15. mus

    Ger­ade eine Radio-Wer­bung von Hari­bo gehört. “Plot” ist das Ein­drin­gen von Thomas Gottschalk in eine Geld­fälscher­w­erk­statt, wo er aber beruhigt fest­stellt, dass der pöse Ver­prech­er nur Geld und keine Gummi^H Gold­bärchen fälscht. Dieser antwortet in Berlin­er Mundart: “Dit jeht doch jaar nich.”

    Absichtlich­er Ein­satz von Mundart um einen “ein­fachen Men­schen” darzustellen, oder das Ver­brecher­tum deut­lich­er hervorzuheben?

    Was mir dabei noch ein­fällt ist das Anbiedern von US-Poli­tik­ern gegenüber poten­tiellen Wäh­lern (ins­beson­dere im Bible-Belt und Mid­west) über einen fake-accent (G.W. Bush beispiel­sweise ist _kein_ Texas Farmer, spricht aber bei so ähnlich).

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  16. Christine Huber

    Auch ich (auch Schweiz­erin) kann die Ein­schränkung des Tage­sanzeigers nachvoll­ste­hen. Beim Sprechen ver­ste­he ich die anderen Schweiz­er Dialek­te meist prob­lem­los, anders sieht es aus, wenn ich einen Text vor mir habe, der nicht in meinem (Basler) Dialekt geschrieben ist. Da kann es dur­chaus vorkom­men, dass ich ihn mir selb­st vor­lese, um ihn dann über die gesproch­ene Sprache ver­ste­hen zu kön­nen. Komme mir dann jew­eils vor wie beim Lesen ler­nen in der Pri­marschule (Grund­schule in Deutsch­land), fehlt nur noch, dass ich mit dem Fin­ger den Zeilen ent­lang­fahre… Geht das anderen Schweiz­ern eigentlich auch so?

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  17. Klaus Jarchow

    Es geht auch anders herum — so im Spot ein­er ‘Flens­burg­er-Wer­bung’, die vor einiger Zeit im Kino lief: Ein protziger Amerikan­er gerät in eine Dor­fkneipe und erzählt vier Lan­deiern in Fis­cher­hem­den von der Größe sein­er Farm — und er endet mit dem Satz: ‘Ik brauk’ zwee Tage for een­mol um my Farm herum zu dri­ven”. Antwortet ein­er der Dör­fler: “Yo — so’n Auto hatt’ ich ook moal!”. 

    Wer also regionale Pro­duk­te ver­mark­ten will, kann also sehr wohl auch mit Regi­olek­ten arbeiten …

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  18. ajku

    Was vielle­icht ein biss­chen unterge­gan­gen ist: Ste­fanow­itschs Wort­spiel im Titel, basierend auf der (neueren) Dos­to­jew­skij-Über­set­zung von Swet­lana Geier … 🙂

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  19. Stephan

    Wäm­mer emaal gseet, wie de Zürcher Dialäkt cha gschribe wèèrde (e äihäitliche Ortografii gits ja nööd), dänn ver­schtönd Si vilicht bess­er, werum de Tagi käi det­ti­gi Kom­men­täär wott abtrucke: Das ver­schtaat näm­li usser­halb vo de Kan­toon­s­gränze chu­um öpper. Und sogaar en iigfläis­chte Zürcher mues sich schau­rig Müe gää, das er s cha läse. Wi scho wiiter obe gschribe woorde isch, richt­ed sich die „Kom­men­tar­poli­tik“ nöd gäge de Dialäkt, son­dern uf d Ver­schtändlichkäit. Ich find si drum au als öpper wo Züritüütsch REDT absolu­ut entschuldbar.

    Wenn man ein­mal sieht, wie der Zürcher Dialekt geschrieben wer­den kann (eine ein­heitliche Orthografie gibt es ja nicht), dann ver­ste­hen Sie vielle­icht bess­er, warum der Tages-Anzeiger keine solchen Kom­mentare abdruck­en will: Das ver­ste­ht näm­lich außer­halb der Kan­ton­s­gren­zen kaum jemand. Und sog­ar ein einge­fleis­chter Zürcher muss sich große Mühe geben, damit er es lesen kann. Wie schon weit­er oben geschrieben wurde, richtet sich diese „Kom­men­tar­poli­tik“ nicht gegen den Dialekt, son­dern auf die Ver­ständlichkeit. Ich finde sie deshalb auch als jemand, der Zürichdeutsch SPRICHT, abso­lut entschuldbar.

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  20. christov

    Vielle­icht darf ich die Sit­u­a­tion in der Schweiz etwas aus­führlich­er beschreiben?

    Die franzö­sis­chsprachige Westschweiz, das ital­ienis­che Tessin und die rätoro­man­is­chen Fleck­en im Südosten ein­mal ausgenom­men, also auss­chliesslich von der soge­nan­nten Deutschschweiz redend, kann man sagen, dass der landläu­fige Schweiz­er und die durch­schnit­tliche Schweiz­erin pri­ma Schweiz­erdeutsch (als Mut­ter­sprache) und ordentlich Hochdeutsch (als, hüs­tel, Fremd­sprache) beherrschen.

    Hochdeutsch als Sprache der Kor­re­spon­denz, der Lit­er­atur, der Schrift über­haupt, als Sprache des Par­la­ments und (zumin­d­est früher) von Funk und Fernse­hen lernt man vom ersten Jahr an in der Schule, wobei es sich dabei nicht um das ‚deutsche’ Deutsch han­delt, son­dern um das von Hel­vetis­men geprägte Schweiz­er Hochdeutsch (mit rol­len­dem R und deut­lich bre­it­er, vielle­icht auch etwas schw­er­fäl­liger klin­gend). Es ist also eine mehr oder min­der erlernte Sprache, die aber auf­grund der Omnipräsenz deutsch­er Medi­en und der Tat­sache, dass beina­he alle hiesi­gen Schrifterzeug­nisse in hochdeutsch ver­fasst sind, meist prob­lem­los gemeis­tert wird. — Mit Schweiz­erdeutsch als (gesproch­en­er) Sprache des gesamten übri­gen Lebens wächst man indessen auf.

    Man kann get­rost, wenn auch etwas ver­all­ge­mein­ernd sagen: In der Schweiz wird schweiz­erdeutsch gesprochen und hochdeutsch geschrieben. Umgekehrt wird sel­ten schweiz­erdeutsch geschrieben und (in aller Regel) ungern hochdeutsch gesprochen. 

    Let­zteres hat damit zu tun, dass man sich im Gespräch mit Deutschen oft­mals etwas gehemmt fühlt (es ist halt tat­säch­lich mehr oder min­der eine Fremd­sprache für uns alte Ale­man­nen…). Um das mit der Schrift zu erk­lären, muss ein­er­seits auf die (erfrischen­der- und anstren­gen­der­weise) fehlende verbindliche Orthogra­phie hingewiesen wer­den, vor allem aber auf die Tat­sache, dass es kein über­re­gionales oder gar nationales Schweiz­erdeutsch gibt.

    Denn ‚Schweiz­erdeutsch’ ist eine Ansamm­lung von ale­man­nis­chen Dialek­ten, die grössten­teils den gle­ichen Wortschatz teilen (wenn es nicht ger­ade um land­wirtschaftliche Geräte aus Gross­vaters Zeit oder uralte Wörter für das Liebeswer­ben u.Ä. geht), aber völ­lig unter­schiedlich klin­gen. Und obwohl in heutiger Zeit, durch Mobil­ität und Angle­ichung, nicht mehr in jedem Ort ein ein­deutig zuzuord­nen­der Dialekt gesprochen wird, so kann man doch, grob gesagt und über den Dau­men gepeilt, von vielle­icht 18 deut­lich ver­schiede­nen Dialek­ten des Schweiz­erdeutschen aus­ge­hen, die sich, wie typ­isch für dieses kleine Land!, tat­säch­lich mehr oder min­der an den Kan­ton­s­gren­zen ablösen. 

    Das Wort „Mundart“ schliesslich bedeutet für einen Schweiz­er ein­er­seits die Gesamtheit dieser Dialek­te, mehr aber noch und in erster Lin­ie im abgren­zen­den Sinn „nicht hochdeutsch“ oder „nicht schriftdeutsch“.

    Die Unter­schiede der Dialek­te — vor allem im Bere­ich der Vokalisierung und in der Stimm­farbe — geben dur­chaus gele­gentlich Anlass zu liebevollem Spott, manch­mal auch zu unschö­nen Vorurteilen, bergen aber kaum je Ver­ständ­niss­chwierigkeit­en. (Man ist ja in einem Land aufgewach­sen, wo aus jedem Kan­ton ein Sportre­porter in seinem Dialekt am Fernse­hen zu hören ist, da gewöh­nt man sich dran.) Aber wie will man die Vielfalt der Vokale und Diph­tonge mit den weni­gen Buch­staben des Alpha­bets fes­thal­ten? Es ist in der Tat ein Prob­lem der Ver­schriftlichung: Das Auge tut sich ungle­ich schw­er­er als das Ohr. Nur schon für z.B. ‚Milch’ kön­nte man mit Fug und Recht als Melch (Aar­gau), Möuch (Luzern), Milch (Zürich), Miuch (Bern), Mölch (erfun­den) schreiben und hätte den tat­säch­lichen Klang doch nur unge­fähr getrof­fen und erst die Hälfte der Vari­anten fest­ge­hal­ten. Als Leser muss man also zuerst den Dialekt erken­nen (was über das Gehör in einein­halb Sekun­den gelänge) und anschliessend die Wörter entz­if­fern, was man nie “gel­ernt” hat und kaum je tun muss. Dieses Entz­if­fern (das Bern­er “miuch” wäre als “mééuch” z.B. näher am Klang, aber so was schreibt ja kein­er) macht es in erster Lin­ie zu ein­er zeitrauben­den Angele­gen­heit, Mundart­texte zu lesen. Und ver­mut­lich hat der Tage­sanzeiger, übri­gens die zweit­grösste Zeitung hierzu­lande und ein dur­chaus respek­ta­bles Blatt (vielle­icht mit der Süd­deutschen ver­gle­ich­bar) allein diesen prag­ma­tis­chen Grund, sich Kom­mentare auf Mundart zu ver­bit­ten. Das hat mit Sicher­heit nichts mit Dünkel und Elitärem zu tun — in der Schweiz gibt es schlicht kein (reales oder emp­fun­denes) Gefälle zwis­chen ein­er noblen Hochsprache und einem groben Dialekt, son­dern, wie nun lan­gat­mig beschrieben, zig mündliche Sprachen und eine über­ge­ord­nete Sprache der Schrift.

    (Ich ver­mute übri­gens dur­chaus, das Herr Ste­fanow­itsch den let­zten Satz mit einem Augen­zwinkern geschrieben hat.)

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  21. Nörgler

    @Patrick Schulz:

    Man kön­nte noch Kon­rad Ade­nauer, Theodor Heuss, ja vielle­icht sog­ar Hel­mut Kohl nen­nen, die alle mit ein­er erkennbaren mundartlichen Fär­bung sprachen/sprechen.

    Das ist aber nicht Dialekt. Sie sprechen ja ganz richtig von “Akzent”.

    In den ver­schiede­nen Beiträ­gen wird das meist nicht auseinandergehalten.

    Wer als Rhein­län­der “Kirsche” an Stelle von “Kirche” sagt, gilt deshalb nicht gle­ich als “unge­bildet”; jemand, der mir und mich nicht unter­schei­den kann, aber schon (auch wenn es “aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht” vielle­icht keinen Unter­schied macht).

    Ich ver­mute sehr, daß in den zitierten Polizeibericht­en eben auch Akzent und nicht eigentlich Dialekt gemeint ist. Es erscheint ja eher unwahrschein­lich, daß jemand auf den Gedanken käme, eine Bank auf plattdeutsch zu über­fall­en. Auch dürfte ein­er der genan­nten Täter wohl nicht pol­nisch, son­dern deutsch mit einem pol­nis­chen (oder osteu­ropäis­chen?) Akzent gesprochen haben.

    Aus diesen Bericht­en irgendwelche Rückschlüsse auf neg­a­tive Ein­stel­lun­gen zum Dialekt oder umgekehrt (und wider­sprüch­lich) auf Unbe­liebtheit des Hochdeutschen zu ziehen, erscheint mir daher äußerst gewagt. Es wäre mir auch ganz neu, daß das Hochdeutsche in Siegen so unbe­liebt sein sollte (vielle­icht zählt aber das Siegerland aus Bre­mer Sicht schon zu Bayern).

    Der gesunde Men­schen­ver­stand sagt einem doch, daß die Sprache in der Tat ein sehr viel besseres Iden­ti­fika­tion­s­merk­mal ist als etwa die (Ver-)Kleidung.

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  22. David Marjanović

    Wie ich auf der Presse-Seite ger­ade kom­men­tiert habe, scheint die Studie nicht berück­sichtigt zu haben, was für ver­schiedene Ein­stel­lun­gen zu Dialekt es sog­ar inner­halb Öster­re­ichs gibt. Im Großteil des Lan­des herrscht Diglossie (wie oben für die Schweiz beschrieben*), während in Wien (mit wenig Erfolg) die dort vorhan­dene Ober­schicht nachgeahmt wird.

    * Allerd­ings wer­den die ö. Dialek­te prak­tisch nie geschrieben. Das Vokalsys­tem ist so ver­schieden von dem der Schrift­sprache, dass sich zuerst jemand hin­set­zen und (min­destens) eine Orthogra­phie von Null auf erfind­en müsste.

    Dieser antwortet in Berlin­er Mundart: “Dit jeht doch jaar nich.”

    Absichtlich­er Ein­satz von Mundart um einen “ein­fachen Men­schen” darzustellen, oder das Ver­brecher­tum deut­lich­er hervorzuheben?

    Eher, um den gesun­den Men­schen­ver­stand zu verdeut­lichen, glaube ich.

    Es geht auch anders herum — so im Spot ein­er ‘Flens­burg­er-Wer­bung’, die vor einiger Zeit im Kino lief: Ein protziger Amerikan­er gerät in eine Dor­fkneipe und

    spielt damit, dass nicht nur das Englis­che, son­dern auch das Plattdeutsche die hochdeutsche Lautver­schiebung nicht mit­gemacht hat. Beein­druck­end. Sehr gelungen.

    Das ver­schtaat näm­li usser­halb vo de Kan­toon­s­gränze chu­um öpper.

    An Schas. Das ist ja direkt leicht — öpper habe ich nicht gekan­nt, aber aus dem Kon­text errat­en, der Rest ist ziem­lich offen­sichtlich. Na gut, ich kenne Vorarl­berg­er, die eben­falls wo als (das einzige) Rel­a­tivpronomen ver­wen­den, aber auch das wäre leicht zu errat­en gewesen.

    Es erscheint ja eher unwahrschein­lich, daß jemand auf den Gedanken käme, eine Bank auf plattdeutsch zu überfallen.

    Inter­es­sant. Sog­ar in Flens­burg? Ich lache ger­ade über die Vorstel­lung, eine Bank in Öster­re­ich nach der Schrift zu überfallen. 😀

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  23. Gregor

    Mal eine Frage: ich höre immer wieder, und es wird auch hier erwäh­nt, daß von Öster­re­ich­ern, Schweiz­ern, aber auch von deutsche Dialek­t­sprech­ern das Hochdeutsche als “arro­gant”, “polternd”, “schei­dend” etc emp­fun­den wird. Selb­st mir geht es als in Bay­ern leben­dem Nicht-Bay­ern so, daß ich prononciertes Hochdeutsch leicht als blasiert empfinde. Sind das Min­der­w­er­tigkeit­skom­plexe? oder Rol­len­zuschrei­bun­gen (wer so spricht, ist einge­bildet)? Dieses Phänomen inter­essiert mich. Hat jemand dazu etwas Erhel­len­des zu sagen?

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  24. amfenster

    @Gregor:

    Das mit dem als blasiert emp­fun­de­nen Hochdeutsch geht mir als in Bay­ern leben­dem Bay­ern auch so. Warum das so ist, weiß ich lei­der auch nicht, schließe mich aber gerne der Frage an. 😉

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  25. Nicolai Ehemann

    Ich finde das eigentlich ziem­lich ein­leuch­t­end — näm­lich daß es nichts mit Min­der­w­er­tigkeit­skom­plex­en zu tun hat, son­dern mit der alltäglichen Spracher­fahrung. In Gegen­den, wo der Dialekt so weit ver­bre­it­et ist, daß eigentlich nie­mand sich im nor­malen Sprachge­brauch bemüht, Hochdeutsch zu sprechen, ist es ja eine deut­liche Abgren­zung, wenn jemand dies doch tut. Und da das Hochdeutsche (so objek­tiv betra­chtet wie es in dem Zusam­men­hang über­haupt möglich ist) die ‘richtige’ Aussprache ist, ‘erhebt’ sich jemand, der Hochdeutsch spricht damit sozusagen über die Masse, die im Dialekt spricht. Dadurch sind diese Empfind­un­gen ganz gut erk­lärt, finde ich.

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  26. Achim

    Im US-Wahlkampf ist offen­bar Sarah Palins Art, Englisch zu sprechen, ein The­ma. Der Lan­guage Log beschäftigt sich damit unter dem Titel Dissin’ Sarah. Das geht offen­bar so weit, dass manche Aussprache-Region­al­is­men von Frau Palin in Tran­skripten von Fernse­hin­ter­views akribisch doku­men­tiert wer­den, während das anson­sten dort nicht üblich ist.

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  27. Michael Bauer

    Als Dialekt-Schreiber und Leser kann ich es nachvol­lziehen, dass eine Zeitung Dialekt-Kom­mentare nicht druckt. Dialekt ist aus bere­its beschriebe­nen Grün­den schlecht les­bar, kaum nachvol­lziehbar, wenn er denn nicht “ange­hochdeutscht” ist. (Es gibt da ganz ver­schiedene Stufen Dialekt zu sprechen und zu schreiben.) Ger­ade aber die Pub­lika­tion im Netz (respek­tive Blog) bietet dann aber die Möglichkeit das ganze vorzulesen. 

    Der “Stel­len­wert” des Dialek­ts ist aber tat­säch­lich region­al sehr unter­schiedlich. Auch gen­er­a­tions­ab­hängig. Es entste­hen im Augen­blick völ­lig neue “Muliti-Kulti”-Dialekte, scheren sich nicht um lin­guis­tis­che Mod­elle und altherge­bracht­en Lautver­schiebun­gen. Die Dis­tanz, die dann durch das “Hochdeutsche” erzielt wird ist dann grup­pen­spez­i­fisch, Abgren­zung etc.

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  28. Anton

    Dialek­te sind etwas her­rlich­es. Ich mag meinen (bayrisch) genau­so wie andere.

    Lei­der sehe für sie ich keine Zukun­ft, es gibt immer weniger Dialek­t­sprech­er und die Dialek­te wer­den immer mehr “hochgedeutscht”.

    Der Dialekt der Zukun­ft wird wohl “denglisch” sein. Leider.

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