Dialekte haben ein schweres Imageproblem — und das, soweit wir wissen, immer und überall. Sprecher völlig unterschiedlicher Sprachgemeinschaften sind sich (grob gesagt) einig, dass Dialektsprecher zwar netter, authenthischer und zuverlässiger sind, als Sprecher der jeweiligen „Hochsprache“, aber ebenso einig sind sie sich, dass Dialektsprecher ungebildet, ein bisschen blöd im Kopf und zum gesellschaftlichen Misserfolg verdammt sind.
Die Wiener Tageszeitung „Die Presse“ berichtet in ihrer Onlineausgabe von der Forschungsarbeit einer jungen Wiener Sprachwissenschaftlerin, Barbara Soukup, die anhand einer Analyse österreichischer Fernsehsendungen herausgefunden hat, dass rhetorisch eingesetzte Wechsel von der „Hochsprache“ in den Dialekt ausschließlich verwendet werden, um den Inhalt des Gesagten zu diskreditieren und sich davon zu distanzieren.
Woher das schlechte Image kommt, ist schwer zu sagen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen den Varietäten einer Sprache, die als „Dialekt“ und der (oder denen), die als „Hoch-“ oder „Standardsprache“ bezeichnet werden. Die negative Wahrnehmung von Dialekten ist eher ein soziales Konstrukt.
Interesannterweise wird das Wort Dialekt in den Nachrichten zum Beispiel häufig in Täterbeschreibungen verwendet. Kostproben aus den letzten 12 Stunden auf Google News: Einer der Täter sprach Zürcher Dialekt (Link), 170 cm groß, schlank, sprach hiesigen Dialekt (Link), Der Bursch, er dürfte etwa 17 Jahre alt sein, ist an die 1,80 Meter groß und sprach einen bodenständigen Dialekt (Link), 180 cm groß, schlank, schwarze Sturmhaube, dunkler Kapuzenpulli, polnischer Dialekt (Link), Angaben zum Dialekt konnte das Oper nicht machen, da es sofort das Bewusstsein verlor. (Link).
Nun könnte man noch argumentieren, dass der Dialekt eines Täters nun einmal ein gutes Identifikationsmerkmal sei. Tatsächlich wird das Wort Hochdeutsch in Gegenden mit einem hohen Anteil an Dialektsprechern manchmal ebenso verwendet: Der Übeltäter wird als 50 bis 60 Jahre alt und etwa 1,60 Meter groß beschrieben. Er hatte eine schlanke Figur, humpelte leicht mit einem Bein und sprach Hochdeutsch (Link), Der hochdeutsch sprechende Mann führte eine Pistole bei sich (Link), Zeugen konnten sich an einen etwa 30 bis 35 Jahre alten und hochdeutsch sprechenden Kunden erinnern (Link) (und tatsächlich ist die Hochsprache in solchen Gegenden auch häufig unbeliebt).
Aber für die Kategorisierung, die der schweizer Tagesanzeiger in seiner Kommentarpolitik vornimmt, gibt es keine Entschuldigung:
Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. [Tagesanzeiger.ch]
Na, wenn die Zeitung davon ausgehen muss, dass ein Gutteil ihrer Leserschaft die Mundart nicht versteht, dann ist es schon recht, den fraglichen Leserbrief nicht zu drucken.
Gibt es Studien darüber, ob Dialekt und niedrigere Bildung korrelieren? Mir kommt es so vor, aber ich könnte nicht sagen, ob ich da nicht selbst dem besagten Vorurteil aufsitze.
Die Kommentare sollen ja geprüft werden — auf rechtliche Unbedenklichkeit, thematische Zugehörigkeit usw. Es gibt wahrscheinlich keinen Prüfer, der aller Dialekte mächtig ist — und obendrein jede individuelle, willkürliche Verschriftlichung entziffern kann oder will. Die “Mundart” steht hier also eher im Kontext “Fremdsprachen” als im Kontext “ehrverletzend, unsachlich” usw., vermute ich.
Vermutlich ist in dem zitierten Newsbeitrag mit dem “polnischen Dialekt” ein polnischer Akzent gemeint oder kannte sich der Verfasser so gut mit den regionalen Besonderheiten innerhalb der polnischen Sprache aus?
Ich finde das weniger dramatisch. “Mundartlich” wird ja nicht mit “rassistisch” oder “ehrverletzend” gleichgesetzt, sondern offenkundig ausgeschlossen, damit auch Nicht-Mundartsprecher die Kommentare verstehen können. Halte ich für legitim. Mundart wird ja insbesondere in Foren gern verwendet, um Nicht-Mundartsprecher zu diskreditieren oder zu beleidigen.
Lieber Herr Stefanowitsch,
haben Sie bei der Redaktion des Schweizer Tagesanzeigers denn mal nach der Begründung für diese Einschränkung und nach deren Definition von Mundart gefragt? „Brauche ich nicht“, sagen Sie jetzt vielleicht und „egal, wie die Begründung lautet, sie ist inakzeptabel“. So zumindest verstehe ich Ihr „gibt es nicht“.
Schade. Mich, der ich mir Aufklärung darüber erhofft hatte, was in der schweizerischen Schriftsprache als „Mundart“ gilt und durch welches Maß an Abweichung von den auch in der Schweiz akzeptierten Rechtschreib- und Grammatikstandards des Deutschen diese Varietät zu erkennen wäre, bringt das nicht weiter.
Matthias (#5), Sie verwechseln mein Blog offensichtlich mit einem Auskunftsdienst. Wenn Sie wissen möchten, was die Redaktion des Tagesanzeigers sich bei irgendetwas denkt, fragen Sie einfach selbst nach.
Als Schweizerin kann ich dem Gesagten nicht ganz zustimmen. In der Schweiz herrscht weitgehend eine Situation der Diglossie, d.h. wir verwenden für mündliche Kommunikation (unter Schweizern) ausschliesslich die Mundart, während die Hochsprache der schriftlichen oder formellen Kommunikation vorbehalten ist. In neuster Zeit stimmt diese Aussage allerdings nur noch bedingt, weil — vor allem in den neuen Medien Internet und SMS — immer öfter auch schriftlich in Mundart kommuniziert wird unter jungen Leuten.
Wenn der Tagesanzeiger sich weigert, Leserbriefe in Mundart entgegen zu nehmen, so hat das mit der schriftlichen Form der Zeitung, aber auch mit dem Fehlen einer schweizerdeutschen Orthografie zu tun.
Wenn gesagt wird “Einer der Täter sprach Zürcher Dialekt”, so ist das eine “politically correct” Uebersetzung von “es war kein Ausländer”. Ausserdem schränkt es den Täterbereich ein, weil wir sehr klar zwischen den einzelnen Dialekten unterscheiden können.
Dialekt und niedrigerer Bildungsstand? Da glaube ich doch eher an den Neid auf den wirtschaftlichen Erfolg der Dialektsprecher im Süden.
Ich finde allerdings, dass Mundart deshalb so heißt, weil sie gesprochen wird und dabei sollte es auch bleiben. Einen Leserbrief in Mundart zu verfassen macht auch nicht wirklich Sinn, da der Inhalt ja für alle leserlich sein soll. Aber man weiß nie, was bei dieser Zeitung schon so eingegangen ist.
Es gibt dafür sogar eine sehr gute Entschuldigung: In der Schweiz wird — nur leicht überspitzt — de facto schon ein Dorf weiter hinter dem nächstgelegenen Berg schoon mal ein völlig anderer Dialekt gesprochen als an dem Ort, an dem man sich gerade befindet. Die daraus resultierende Verständnisschwierigkeiten sind im Mündlichen kaum zu vermeiden. Im Schriftverkehr schon. Die Verwendung des “Schriftdeutsch” kommt nicht von ungefähr.
Wie soll man eigentlic einen Text auf rechtliche Unbedenklichkeit überprüfen, wenn man den fremdsprachlich anmutenden Dialekt des Kommentators nicht versteht?
In der Tat, wenn man unhöflich wird, verfällt man gern ins Mundartliche:
“Sie verwechseln mein Blog offensichtlich mit einem Auskunftsdienst.”
@Nörgler: Wo enthält dieser Satz Mundart?
Hier, ein Fisch für den Sprachblogtroll:
<°(((»<
Ich denke, es hat wohl mit ‘Anstand’, ‘Bürgerlichkeit’ und ‘Satisfaktionsfähigkeit’ zu tun, es sind gewissermaßen ‘historische Vorurteile’, entstanden und gewachsen im ‘Prozess der Zivilisation’ (N. Elias). Wer mundartlich spricht, ist weniger ‘zivilisiert’:
“Mein Rechtsanwalt wird sich in den nächsten Tagen bei Ihnen melden!”
vs.
“Woart, ik slei di glix wat vors Muul, du Poggensnuut!”
Ich ziehe meinen letzten Beitrag insoweit zurück, als ich darin davon ausgegangen war, daß es “der Blog” heiße. Offenbar sagen aber auch viele “das Blog”.
Im übrigen teile ich überhaupt nicht die Annahme, daß Mundart grundsätzlich negativ wahrgenommen werde. Für Hochsprache und Mundart gilt eben auch: Ein jedes zu seiner Zeit. Eine Kölner Karnevalssitzung in reinem Hochdeutsch oder die Tagesschau auf Kölsch wären eben deplaziert.
Wer allerdings Hochdeutsch nicht einigermaßen beherrscht oder kein Gefühl für die jeweils angemessene Sprechebene besitzt, setzt sich nicht zu unrecht dem Verdacht mangelnder Bildung aus.
Herr Nörgler, ausnahmsweise stimme ich Ihnen zu: Es gehört zu der Bildung eines Menschen zu wissen, in welchen Situationen man wie spricht.
Interessanterweise sind die Dinge, die im Artikel erwähnt werden, typisch (nord?)deutsche Wahrnehmungen. In der Schweiz ist der Dialekt seit langem mehr als nur salonfähig und z.B. Interviews mit Politikern werden, sofern diese den Dialekt beherrschen, auch oft auf Schweizerdeutsch geführt (die Tagesschau besteht daher aus diesem sehr merkwürdigen Gemisch zwischen Ansagen/Berichten auf Standarddeutsch und gewissen Beiträgen auf Schweizerdeutsch).
Die teilweise herbeigeredeten Verständnisschwierigkeiten sind dabei allerdings minim, heutzutage versteht man als Deutschschweizer fast jeden Schweizer Dialekt problemlos; und das obwohl es immer noch deutliche Unterschiede gibt.
Demzufolge muß man auch den Kommentar des Tagesanzeigers anders verstehen: Es geht hier rein um die schriftliche Ebene, und daß in einer Zeitung, die ja einen gewissen Anspruch vertritt, der Dialekt als Schriftsprache nicht erwünscht ist, kann ich gut verstehen. Das ist was ganz anderes in SMS, (informellen) E‑Mails, usw., aber de facto hat das schriftliche Schweizerdeutsch einfach noch einen ganz anderen Akzeptanzstatus als das mündliche, und dem will eine seriöse Zeitung eben Rechnung tragen. Sollte sich dereinst mal das Schweizerdeutsche auch als formelle Schriftsprache durchsetzen, würde die Zeitung schon irgendwann nachziehen. Mit einem voreiligen Schritt würde sie sich hingegen eher in die Gesellschaft von gewissen Gratiszeitungen begeben, was ihrem Image durchaus schaden könnte.
Also ich glaube nicht, dass Bildungsstand und Mundart korrelieren. Peter Sodann, Marcel Reich-Ranicki, Edmund Stoiber, um nur einige zu nennen, sprechen alles andere als akzentfreies Standarddeutsch, keinen von denen würde ich aber ernsthaft als “ungebildet” bezeichnen.
OffTpoic: Allen an theoretischer Morphologie und Algischen Sprachen Interessierten sei dies hier sich anzuschauen empfohlen.
Gerade eine Radio-Werbung von Haribo gehört. “Plot” ist das Eindringen von Thomas Gottschalk in eine Geldfälscherwerkstatt, wo er aber beruhigt feststellt, dass der pöse Verprecher nur Geld und keine Gummi^H Goldbärchen fälscht. Dieser antwortet in Berliner Mundart: “Dit jeht doch jaar nich.”
Absichtlicher Einsatz von Mundart um einen “einfachen Menschen” darzustellen, oder das Verbrechertum deutlicher hervorzuheben?
Was mir dabei noch einfällt ist das Anbiedern von US-Politikern gegenüber potentiellen Wählern (insbesondere im Bible-Belt und Midwest) über einen fake-accent (G.W. Bush beispielsweise ist _kein_ Texas Farmer, spricht aber bei so ähnlich).
Auch ich (auch Schweizerin) kann die Einschränkung des Tagesanzeigers nachvollstehen. Beim Sprechen verstehe ich die anderen Schweizer Dialekte meist problemlos, anders sieht es aus, wenn ich einen Text vor mir habe, der nicht in meinem (Basler) Dialekt geschrieben ist. Da kann es durchaus vorkommen, dass ich ihn mir selbst vorlese, um ihn dann über die gesprochene Sprache verstehen zu können. Komme mir dann jeweils vor wie beim Lesen lernen in der Primarschule (Grundschule in Deutschland), fehlt nur noch, dass ich mit dem Finger den Zeilen entlangfahre… Geht das anderen Schweizern eigentlich auch so?
Es geht auch anders herum — so im Spot einer ‘Flensburger-Werbung’, die vor einiger Zeit im Kino lief: Ein protziger Amerikaner gerät in eine Dorfkneipe und erzählt vier Landeiern in Fischerhemden von der Größe seiner Farm — und er endet mit dem Satz: ‘Ik brauk’ zwee Tage for eenmol um my Farm herum zu driven”. Antwortet einer der Dörfler: “Yo — so’n Auto hatt’ ich ook moal!”.
Wer also regionale Produkte vermarkten will, kann also sehr wohl auch mit Regiolekten arbeiten …
Was vielleicht ein bisschen untergegangen ist: Stefanowitschs Wortspiel im Titel, basierend auf der (neueren) Dostojewskij-Übersetzung von Swetlana Geier … 🙂
Wämmer emaal gseet, wie de Zürcher Dialäkt cha gschribe wèèrde (e äihäitliche Ortografii gits ja nööd), dänn verschtönd Si vilicht besser, werum de Tagi käi dettigi Kommentäär wott abtrucke: Das verschtaat nämli usserhalb vo de Kantoonsgränze chuum öpper. Und sogaar en iigfläischte Zürcher mues sich schaurig Müe gää, das er s cha läse. Wi scho wiiter obe gschribe woorde isch, richted sich die „Kommentarpolitik“ nöd gäge de Dialäkt, sondern uf d Verschtändlichkäit. Ich find si drum au als öpper wo Züritüütsch REDT absoluut entschuldbar.
Wenn man einmal sieht, wie der Zürcher Dialekt geschrieben werden kann (eine einheitliche Orthografie gibt es ja nicht), dann verstehen Sie vielleicht besser, warum der Tages-Anzeiger keine solchen Kommentare abdrucken will: Das versteht nämlich außerhalb der Kantonsgrenzen kaum jemand. Und sogar ein eingefleischter Zürcher muss sich große Mühe geben, damit er es lesen kann. Wie schon weiter oben geschrieben wurde, richtet sich diese „Kommentarpolitik“ nicht gegen den Dialekt, sondern auf die Verständlichkeit. Ich finde sie deshalb auch als jemand, der Zürichdeutsch SPRICHT, absolut entschuldbar.
Vielleicht darf ich die Situation in der Schweiz etwas ausführlicher beschreiben?
Die französischsprachige Westschweiz, das italienische Tessin und die rätoromanischen Flecken im Südosten einmal ausgenommen, also ausschliesslich von der sogenannten Deutschschweiz redend, kann man sagen, dass der landläufige Schweizer und die durchschnittliche Schweizerin prima Schweizerdeutsch (als Muttersprache) und ordentlich Hochdeutsch (als, hüstel, Fremdsprache) beherrschen.
Hochdeutsch als Sprache der Korrespondenz, der Literatur, der Schrift überhaupt, als Sprache des Parlaments und (zumindest früher) von Funk und Fernsehen lernt man vom ersten Jahr an in der Schule, wobei es sich dabei nicht um das ‚deutsche’ Deutsch handelt, sondern um das von Helvetismen geprägte Schweizer Hochdeutsch (mit rollendem R und deutlich breiter, vielleicht auch etwas schwerfälliger klingend). Es ist also eine mehr oder minder erlernte Sprache, die aber aufgrund der Omnipräsenz deutscher Medien und der Tatsache, dass beinahe alle hiesigen Schrifterzeugnisse in hochdeutsch verfasst sind, meist problemlos gemeistert wird. — Mit Schweizerdeutsch als (gesprochener) Sprache des gesamten übrigen Lebens wächst man indessen auf.
Man kann getrost, wenn auch etwas verallgemeinernd sagen: In der Schweiz wird schweizerdeutsch gesprochen und hochdeutsch geschrieben. Umgekehrt wird selten schweizerdeutsch geschrieben und (in aller Regel) ungern hochdeutsch gesprochen.
Letzteres hat damit zu tun, dass man sich im Gespräch mit Deutschen oftmals etwas gehemmt fühlt (es ist halt tatsächlich mehr oder minder eine Fremdsprache für uns alte Alemannen…). Um das mit der Schrift zu erklären, muss einerseits auf die (erfrischender- und anstrengenderweise) fehlende verbindliche Orthographie hingewiesen werden, vor allem aber auf die Tatsache, dass es kein überregionales oder gar nationales Schweizerdeutsch gibt.
Denn ‚Schweizerdeutsch’ ist eine Ansammlung von alemannischen Dialekten, die grösstenteils den gleichen Wortschatz teilen (wenn es nicht gerade um landwirtschaftliche Geräte aus Grossvaters Zeit oder uralte Wörter für das Liebeswerben u.Ä. geht), aber völlig unterschiedlich klingen. Und obwohl in heutiger Zeit, durch Mobilität und Angleichung, nicht mehr in jedem Ort ein eindeutig zuzuordnender Dialekt gesprochen wird, so kann man doch, grob gesagt und über den Daumen gepeilt, von vielleicht 18 deutlich verschiedenen Dialekten des Schweizerdeutschen ausgehen, die sich, wie typisch für dieses kleine Land!, tatsächlich mehr oder minder an den Kantonsgrenzen ablösen.
Das Wort „Mundart“ schliesslich bedeutet für einen Schweizer einerseits die Gesamtheit dieser Dialekte, mehr aber noch und in erster Linie im abgrenzenden Sinn „nicht hochdeutsch“ oder „nicht schriftdeutsch“.
Die Unterschiede der Dialekte — vor allem im Bereich der Vokalisierung und in der Stimmfarbe — geben durchaus gelegentlich Anlass zu liebevollem Spott, manchmal auch zu unschönen Vorurteilen, bergen aber kaum je Verständnisschwierigkeiten. (Man ist ja in einem Land aufgewachsen, wo aus jedem Kanton ein Sportreporter in seinem Dialekt am Fernsehen zu hören ist, da gewöhnt man sich dran.) Aber wie will man die Vielfalt der Vokale und Diphtonge mit den wenigen Buchstaben des Alphabets festhalten? Es ist in der Tat ein Problem der Verschriftlichung: Das Auge tut sich ungleich schwerer als das Ohr. Nur schon für z.B. ‚Milch’ könnte man mit Fug und Recht als Melch (Aargau), Möuch (Luzern), Milch (Zürich), Miuch (Bern), Mölch (erfunden) schreiben und hätte den tatsächlichen Klang doch nur ungefähr getroffen und erst die Hälfte der Varianten festgehalten. Als Leser muss man also zuerst den Dialekt erkennen (was über das Gehör in eineinhalb Sekunden gelänge) und anschliessend die Wörter entziffern, was man nie “gelernt” hat und kaum je tun muss. Dieses Entziffern (das Berner “miuch” wäre als “mééuch” z.B. näher am Klang, aber so was schreibt ja keiner) macht es in erster Linie zu einer zeitraubenden Angelegenheit, Mundarttexte zu lesen. Und vermutlich hat der Tagesanzeiger, übrigens die zweitgrösste Zeitung hierzulande und ein durchaus respektables Blatt (vielleicht mit der Süddeutschen vergleichbar) allein diesen pragmatischen Grund, sich Kommentare auf Mundart zu verbitten. Das hat mit Sicherheit nichts mit Dünkel und Elitärem zu tun — in der Schweiz gibt es schlicht kein (reales oder empfundenes) Gefälle zwischen einer noblen Hochsprache und einem groben Dialekt, sondern, wie nun langatmig beschrieben, zig mündliche Sprachen und eine übergeordnete Sprache der Schrift.
(Ich vermute übrigens durchaus, das Herr Stefanowitsch den letzten Satz mit einem Augenzwinkern geschrieben hat.)
@Patrick Schulz:
Man könnte noch Konrad Adenauer, Theodor Heuss, ja vielleicht sogar Helmut Kohl nennen, die alle mit einer erkennbaren mundartlichen Färbung sprachen/sprechen.
Das ist aber nicht Dialekt. Sie sprechen ja ganz richtig von “Akzent”.
In den verschiedenen Beiträgen wird das meist nicht auseinandergehalten.
Wer als Rheinländer “Kirsche” an Stelle von “Kirche” sagt, gilt deshalb nicht gleich als “ungebildet”; jemand, der mir und mich nicht unterscheiden kann, aber schon (auch wenn es “aus sprachwissenschaftlicher Sicht” vielleicht keinen Unterschied macht).
Ich vermute sehr, daß in den zitierten Polizeiberichten eben auch Akzent und nicht eigentlich Dialekt gemeint ist. Es erscheint ja eher unwahrscheinlich, daß jemand auf den Gedanken käme, eine Bank auf plattdeutsch zu überfallen. Auch dürfte einer der genannten Täter wohl nicht polnisch, sondern deutsch mit einem polnischen (oder osteuropäischen?) Akzent gesprochen haben.
Aus diesen Berichten irgendwelche Rückschlüsse auf negative Einstellungen zum Dialekt oder umgekehrt (und widersprüchlich) auf Unbeliebtheit des Hochdeutschen zu ziehen, erscheint mir daher äußerst gewagt. Es wäre mir auch ganz neu, daß das Hochdeutsche in Siegen so unbeliebt sein sollte (vielleicht zählt aber das Siegerland aus Bremer Sicht schon zu Bayern).
Der gesunde Menschenverstand sagt einem doch, daß die Sprache in der Tat ein sehr viel besseres Identifikationsmerkmal ist als etwa die (Ver-)Kleidung.
Wie ich auf der Presse-Seite gerade kommentiert habe, scheint die Studie nicht berücksichtigt zu haben, was für verschiedene Einstellungen zu Dialekt es sogar innerhalb Österreichs gibt. Im Großteil des Landes herrscht Diglossie (wie oben für die Schweiz beschrieben*), während in Wien (mit wenig Erfolg) die dort vorhandene Oberschicht nachgeahmt wird.
* Allerdings werden die ö. Dialekte praktisch nie geschrieben. Das Vokalsystem ist so verschieden von dem der Schriftsprache, dass sich zuerst jemand hinsetzen und (mindestens) eine Orthographie von Null auf erfinden müsste.
Eher, um den gesunden Menschenverstand zu verdeutlichen, glaube ich.
spielt damit, dass nicht nur das Englische, sondern auch das Plattdeutsche die hochdeutsche Lautverschiebung nicht mitgemacht hat. Beeindruckend. Sehr gelungen.
An Schas. Das ist ja direkt leicht — öpper habe ich nicht gekannt, aber aus dem Kontext erraten, der Rest ist ziemlich offensichtlich. Na gut, ich kenne Vorarlberger, die ebenfalls wo als (das einzige) Relativpronomen verwenden, aber auch das wäre leicht zu erraten gewesen.
Interessant. Sogar in Flensburg? Ich lache gerade über die Vorstellung, eine Bank in Österreich nach der Schrift zu überfallen. 😀
Mal eine Frage: ich höre immer wieder, und es wird auch hier erwähnt, daß von Österreichern, Schweizern, aber auch von deutsche Dialektsprechern das Hochdeutsche als “arrogant”, “polternd”, “scheidend” etc empfunden wird. Selbst mir geht es als in Bayern lebendem Nicht-Bayern so, daß ich prononciertes Hochdeutsch leicht als blasiert empfinde. Sind das Minderwertigkeitskomplexe? oder Rollenzuschreibungen (wer so spricht, ist eingebildet)? Dieses Phänomen interessiert mich. Hat jemand dazu etwas Erhellendes zu sagen?
@Gregor:
Das mit dem als blasiert empfundenen Hochdeutsch geht mir als in Bayern lebendem Bayern auch so. Warum das so ist, weiß ich leider auch nicht, schließe mich aber gerne der Frage an. 😉
Ich finde das eigentlich ziemlich einleuchtend — nämlich daß es nichts mit Minderwertigkeitskomplexen zu tun hat, sondern mit der alltäglichen Spracherfahrung. In Gegenden, wo der Dialekt so weit verbreitet ist, daß eigentlich niemand sich im normalen Sprachgebrauch bemüht, Hochdeutsch zu sprechen, ist es ja eine deutliche Abgrenzung, wenn jemand dies doch tut. Und da das Hochdeutsche (so objektiv betrachtet wie es in dem Zusammenhang überhaupt möglich ist) die ‘richtige’ Aussprache ist, ‘erhebt’ sich jemand, der Hochdeutsch spricht damit sozusagen über die Masse, die im Dialekt spricht. Dadurch sind diese Empfindungen ganz gut erklärt, finde ich.
Im US-Wahlkampf ist offenbar Sarah Palins Art, Englisch zu sprechen, ein Thema. Der Language Log beschäftigt sich damit unter dem Titel Dissin’ Sarah. Das geht offenbar so weit, dass manche Aussprache-Regionalismen von Frau Palin in Transkripten von Fernsehinterviews akribisch dokumentiert werden, während das ansonsten dort nicht üblich ist.
Als Dialekt-Schreiber und Leser kann ich es nachvollziehen, dass eine Zeitung Dialekt-Kommentare nicht druckt. Dialekt ist aus bereits beschriebenen Gründen schlecht lesbar, kaum nachvollziehbar, wenn er denn nicht “angehochdeutscht” ist. (Es gibt da ganz verschiedene Stufen Dialekt zu sprechen und zu schreiben.) Gerade aber die Publikation im Netz (respektive Blog) bietet dann aber die Möglichkeit das ganze vorzulesen.
Der “Stellenwert” des Dialekts ist aber tatsächlich regional sehr unterschiedlich. Auch generationsabhängig. Es entstehen im Augenblick völlig neue “Muliti-Kulti”-Dialekte, scheren sich nicht um linguistische Modelle und althergebrachten Lautverschiebungen. Die Distanz, die dann durch das “Hochdeutsche” erzielt wird ist dann gruppenspezifisch, Abgrenzung etc.
Dialekte sind etwas herrliches. Ich mag meinen (bayrisch) genauso wie andere.
Leider sehe für sie ich keine Zukunft, es gibt immer weniger Dialektsprecher und die Dialekte werden immer mehr “hochgedeutscht”.
Der Dialekt der Zukunft wird wohl “denglisch” sein. Leider.