Lexikografie kann man gut machen, oder man kann sie so machen, wie Langenscheidt das alljährlich mit dem Wörterbuch „Hä? Jugendsprache Unplugged“ macht.
Wenn man sie gut macht, ist Lexikografie spannend, eine Art sprachliche Detektivarbeit. Zunächst muss man systematisch die Wörter identifizieren, die in das Wörterbuch aufgenommen werden sollen. Das geschieht traditionellerweise durch belesene Menschen, die Wörter sammeln, von denen sie denken, dass sie noch nicht im Wörterbuch stehen. Bei modernen Wörterbüchern werden riesige Datenbanken elektronischer Texte halbautomatisiert durchforstet. Dann muss man für jedes dieser Wörter möglichst viele authentische Belege finden, die einem Informationen über die Bedeutung der Wörter, deren grammatischen Zusammenhänge und deren sprachliche Ebene (umgangssprachlich, fachsprachlich, usw.). Traditionellerweise wurden diese Belege in riesigen Zettelkästen gesammelt und sortiert, heutzutage helfen auch hier elektronische Datenbänke. Wer sich für die traditionelle Kunst der Wörterbuchmacher interessiert, dem sei Simon Winchesters imperial-überhebliches, langatmiges und arg in die eigene Schreibfertigkeit und humanistische Bildung verliebtes aber trotzdem irgendwie informatives Buch The Meaning of Everything empfohlen. Es erzählt die Geschichte des Oxford English Dictionary, dem beeindruckendsten Wörterbuch der Welt.
Wenn man sie schlecht macht, ist Lexikografie eine trübsinnige Sache — so, wie der von Langenscheidt in Zusammenarbeit mit der Jugendzeitschrift „SPIESSER“ veranstalteten Wahl zum „Jugendwort des Jahres 2008“.
Hip und frech und mit bunten Klecksen werden die Jugendlichen auf der Webseite dieser Aktion begrüßt:
Jetzt bekommt ihr, was euch zusteht: ein ganz eigenes Wort! Und wer entscheidet über das Jugendwort des Jahres? Natürlich ihr!
Hm. Es geht doch um Jugendsprache? Würde die nicht sowieso den Jugendlichen gehören? Aber sie dürfen selbst entscheiden, obwohl sie doch noch gar nicht volljährig sind.
Folgt man dem Link „zum VOTING“, kommt man auf eine Seite, auf der den Jugendlichen dreißig Wörter präsentiert werden, unter denen sie ihr Wort des Jahres auswählen dürfen. Allerdings schöpft der kritische Beobachter gleich wieder Verdacht: den Wörtern sind Übersetzungen zur Seite gestellt. Aber es geht doch um Jugendsprache? Müssten die Jugendlichen dann die Bedeutung dieser Wörter nicht ohnehin kennen? Gut, vielleicht werden die Definitionen nur für uns Nichtjugendliche (im „Jugendslang“, wie wir weiter unten erfahren werden, als „Gammelfleisch“ bezeichnet) mitgeliefert.
Wenn man sich diese Liste dann durchliest, möchte man die Langenscheidt-Wörterbücher, von denen man als Sprachwissenschaftler ja nun einmal reichlich im Regal stehen hat, am liebsten sofort verstecken oder wenigstens grün-blau umlackieren. Denn die Liste steht für alles, was man in der Lexikografie falsch machen kann: sie enthält weder Wörter, die vorrangig (oder überhaupt) von Jugendlichen verwendet werden, noch stimmen dort, wo die Wörter überhaupt existieren, die Definitionen. Und das dürfte daran liegen, dass die Wörter ganz offensichtlich nicht von Kennern jugendlichen Sprachgebrauchs ausgewählt wurden und dass sich niemand die Mühe gemacht hat, ihren Verwendungsbereich oder ihre Bedeutung auch nur oberflächlich anhand von authentischen Belegen zu erkunden.
Gehen wir die Liste doch Wort für Wort durch, auch, wenn das schmerzhaft ist.
1. Bildschirmbräune „blasse Haut eines Computerfreaks“
Dieses Wort gibt es tatsächlich, aber es wird nicht von Jugendlichen verwendet, sondern hauptsächlich von den „Computerfreaks“ (sagt das heute noch jemand?) selbst — wenn man mit „Computerfreaks“ Gamer meint: Glaubt man Google, dann stammt fast jede dritte Verwendung des Begriffs aus „World-of-Warcraft“-Foren.
2. Datenzäpfchen „USB-Stick“
Dieses Wort liefert genau einen einzigen Treffer (mit „Treffer“ meine ich hier nur Vorkommen, in denen das Wort tatsächlich verwendet wird, ich habe deshalb alle „Slangwörterbücher“ und alle Berichte über das „Jugendwort des Jahres“ aus der Suche ausgeschlossen):
…gibt es eine Möglichkeit die aktuelle Version auf ein “Datenzäpfchen” zu bekommen und bootbar zu machen… (Link)
Über den Verfasser dieses Satzes weiß man nur, dass er sich R2D2 nennt — mit „Star Wars“ dürfte sich aber wohl eher meine Generation identifizieren. Mit anderen Worten: wieder nicht gerade typische Jugendsprache.
3. die Socken scharf machen „aufbrechen“
Naja. Das kenne ich schon aus meiner Jugend, und schon damals war es nur ein Beispiel für Jugendsprache, das kaum jemand wirklich verwendet hat. Es findet sich als solches z.B. in diesem Buch aus dem Jahre 1984. Jugendwort des Jahres 2008? Ein Vierteljahrhundert zu spät.
4. Eierkocher „Whirlpool“
Vielleicht habe ich sie unter den tausenden von Treffern für tatsächliche Eierkocher übersehen, aber soweit ich das sehen kann, wird das überhaupt nicht verwendet. Es klingt für mich auch mehr nach Atze Schröder als nach Jugendlichen (die vermutlich nicht sehr oft über Whirlpools reden).
5. Emotuch „Palästinenserschal“
Diesen Begriff habe ich noch nie gehört — er stammt möglicherweise aus einer Reportage des Fernsehsenders RTL, in der es im folgenden Satz auftaucht: „Er trägt das typische Emo-Tuch, Pali genannt.“ Wenn es Pali genannt wird, sollte das dann nicht eigentlich auf der Kandidatenliste für das Jugendwort stehen? Ohnehin ist mir noch nie aufgefallen, dass Emos Palestinensertücher tragen.
6. Gammelfleischparty „Ü‑30-Party“
Oh, nein. Das Wort Ü‑30-Party ist schlimm genug. Ach was, schon die Tatsache, dass es solche Partys gibt, ist kaum zu ertragen. Aber Jugendlichen zu unterstellen, sie interessierten sich für solche Parties ausreichend, um ein Wort dafür zu erfinden zeigt, wieviel die Macher der Liste von Unter-Dreißigjährigen verstehen. Der einzige echte Treffer, den ich finden konnte, ist ein Zitat aus einer Büttenrede — dass die ein Jugendlicher gehalten hat, darf bezweifelt werden.
7. Geld-zurück-Gesicht „Pickelgesicht“
Kein einziger Treffer.
8. Glutamat-Palast „Schnellimbiss“
Es finden sich satte 7 Treffer, keineswegs nur von Jugendlichen produziert. Mit der Bedeutung liegt Langenscheidt dafür klar daneben: Das Wort bezeichnet in allen Fällen China-Imbisse.
9. Hardwareproblem „Potenzstörung“
Bei den vielen echten Hardwareproblemen habe ich vielleicht etwas übersehen, aber selbst bei Hardwareproblem +Sex habe ich keine Treffer gefunden.
10. Heuchlerbesen „Blumenstrauß“
Hier finden sich ganze 10 Treffer, die alle sehr angestrengt klingen (meistens wird das Wort Blumenstrauß erklärend mitgeliefert), und die keineswegs alle von Jugendlichen stammen. Für mich klingt das wieder ganz klar nach Atze Schröder.
11. Hobbyangler „Playboy, Frauenheld“
Es gibt zuviele echte Hobbyangler, ich kann also nicht ausschließen, dass ich da etwas übersehen habe.
12. isoliiert „wegen einer Beziehung von den Freunden isoliert“
Außer ein paar Tippfehlern kein einziger Treffer. Ist auch ein selten bescheuertes Wortspiel.
13. Kalbfleisch-Knoppers „Döner“
Kein. Einziger. Treffer.
14. Käsien „Niederlande“
Die meisten Treffer beziehen sich auf ein fiktives Königreich Käsien aus dem Musical „Max und die Käsebande“ von 1960.
Ein paar Treffer, bei denen sich das Wort auf die Niederlande bezieht, finden sich zwar, aber die sind uralt und stammen nicht von Jugendlichen.
15. knuseln „miteinander schlafen“
Es finden sich Treffer mit den Bedeutungen basteln, knuspern, knuddeln, kuschelig faulenzen, und möglicherweise auch Sex haben (der Urheber dieses Beispiels ist laut seiner Profilseite allerdings schon 42 Jahre alt).
16. krönungsbedürftig „toll, super“
Das ist nur dann Jugendsprache, wenn dieser Weinhandel von Jugendlichen betrieben wird.
17. Mietmaul „Rechtsanwalt“
Hm. Jugendsprache ist das nicht und die Bedeutung stimmt auch nicht. Das Wort ist eine abfällige Bezeichnung für Menschen, die ihre Autorität verkaufen, wie dieses typische Beispiel aus einem Ärzteblatt von 2003 zeigt:
Dass angesehene Ärzte auf PR-Veranstaltungen gegen Honorar das „Mietmaul“ geben und Werbung für Arzneimittel machen.
Die Verknüpfung zum Anwaltsberuf könnte durch den Titel des Buches „Läufer, Mietmaul, König. Anwälte an der Schnittstelle von Recht und Macht“ von 2005 stammen. Aber der Titel sagt nur, dass Anwälte als Mietmäuler tätig sein können, nicht, dass die Wörter dasselbe bedeuten. Und warum die Experten von Langenscheidt annehmen, das Buch sei von Jugendlichen geschrieben, bleibt wohl ihr Geheimnis.
18. Naturwollsocken „starke Beinbehaarung“
Das Wort kenne ich schon aus dem dem PONS-Wörterbuch der Jugendsprache 2007. Echte Treffer finden sich kaum.
19. Perlhuhn „eitles Mädchen in teuren Klamotten“
Ich habe viele leckere Rezepte für Perlhuhn gefunden, mehr aber nicht.
20. Pflasterporsche „Rollator“
Uralt. Und kein einziger authentischer Treffer.
21. Pisseria „Toilette“
Ja, ein paar Treffer finden sich, aber die stammen nicht von Jugendlichen.
22. Rentnerbravo „Apothekenumschau; Todesanzeigen“
Nicht. Von. Jugendlichen.
23. riestern „sich (beim Kartenspiel) absichern“
Ich hatte keine Lust, danach zu suchen. Aber: Jugendliche wissen, was Riestern ist? Das wäre doch höchst erfreulich.
24. schmusig „gut“
Ich finde nur Treffer, wo schmusig „schmusig“ bedeutet.
25. Sechserpasch „Zeugnis“
Keine Treffer.
26. Stockente „Nordic-Walker“
Och, nö.
27. Streberburg „Bibliothek“
Kein einziger Treffer.
28. süffisant „amüsant durch viel Alkohol“
Schwer, danach zu suchen.
29. unterhopft sein „Lust auf Bier haben; noch nicht betrunken genug sein“
Ja, zur Abwechslung ist das mal wieder ein echtes Wort. Verwendet wird es überdurchschnittlich häufig von Menschen, die in Sportvereinen organisiert sind, egal ob jung oder alt.
30. Zornröschen „zickiges, beleidigtes Mädchen“
Der häufigste Treffer ist eine gleichnamige Kontaktstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs. Aber es wird auch in Büttenreden verwendet. Und auf emo-mäßigen T‑Shirts.
Zusammenfassend können wir festhalten: Nichts auf dieser lächerlichen Liste erinnert auch nur im entferntesten an Jugendsprache. Es macht zwar Spaß, sich darüber lustig zu machen, aber es macht mich auch ein wenig wütend — aus mindestens zwei Gründen: Erstens trivialisieren sie die Lebenswelt von Jugendlichen, die denjenigen, die ihr entwachsen sind, ohnehin nur als Ansammlung von Klischees präsentiert wird. Jede Generation von Jugendlichen schafft sich eigene Kommunikationsformen und dazu gehören (eher am Rande) auch Redewendungen und Wörter. Es wäre nicht schwer, diese sauber zu untersuchen (Peter Schlobinski von der Universität Hannover tut das zum Beispiel).
Zweitens trivialisieren solche Listen die Tätigkeit von Lexikografen im Allgemeinen und denen, die bei Langenscheidt beschäftigt sind im Besonderen. Wenn ich Lexikograf bei Langenscheidt wäre und dort an einem ernsthaften Wörterbuch arbeitete, wäre ich über diese Liste höchst erbost, denn sie könnte den Eindruck erwecken, dass Lexikografen sich Wörterbucheinträge nach belieben ausdenken. Das tun sie aber nicht, auch nicht, wenn es um scheinbar marginale Bereiche der Sprache geht. Als Beispiel möge man sich das Oxford Dictionary of Modern Slang ansehen, in dem für jedes „Slang“-Wort der schriftliche Erstbeleg, eine differenzierte Aufzählung der Bedeutungen und häufig Hinweise zur Herkunft zu finden sind, z.B. in folgendem Beispieleintrag zu McCoy:
McCoy noun In the phr. the real McCoy (or Mackay, McKie): the ‘genuine article’; the real thing. 1883–. GUARDIAN Sadler’s Wells is playing host to the regal offspring Royal Ballet, and not, please note, a second eleven but the real Macoy [sic] (1972). [Origin uncertain; amongst the suggested derivations are that in its original form, the real Mackay, it refers to the true chieftain of the clan Mackay, a much disputed position, and that the variant the real McCoy (first recorded in 1922) refers to Kid McCoy, the professional name of US boxer Norman Selby (1873–1940), who was nicknamed ‘the real McCoy’ to distinguish him from other boxers who tried to use his name.]
Langenscheidt! Bitte! Das könnt ihr auch, ihr müsst es nur wirklich, wirklich wollen.
Ich bin in den 80er Jahren geboren, also noch nicht soo alt und nehme für mich — auch durch die Arbeit mit Jugendlichen — in Anspruch, noch nicht völlig “out of touch” zu sein. Schaue ich aber in diese “Wörterbücher” hinein, graust es: Der PONS kommt nicht nur veraltet und albern daher, sondern auch noch angestrengt — wenn z.B. das Verb “ponsen” ernsthaft als Jugendsprache suggeriert wird (analog zu “googeln/googlen”). Traurig, sowas; viel trauriger allerdings ist, dass sich Leute sowas kaufen — und womöglich auch noch für voll nehmen.
Meiner Erfahrung nach werden solche trash-Erzeugnisse allerdings in den meisten Fällen als “witzig” gemeintes Geschenk verteilt…na, vielen Dank!
Etwas Grammatik am Rande: Das eingangs empfohlene Buch […] erzählt die Geschichte des Oxford English Dictionary, dem beeindruckendsten Wörterbuch der Welt. Ich hätte die Apposition im Genitiv erwartet, da sie strukturell zu der von Geschichte regierten Nominalphrase gehört. Oder steht da irgendwo ein wiederum von erzählen bestimmtes von, dass hier den Dativ fordert?
Achim (#3), das ist interessant Im Genitiv klingt die Apposition für mich grammatisch, aber der Dativ gefällt mir auch nach mehrmaliger Befragung meiner muttersprachlichen Intuition besser. Ich habe gerade keine Möglichkeit, in meinen Eisenberg zu gucken und weiß nicht, wie „normal“ ich damit bin. Ich würde vermuten, dass der Genitiv der NP (oder DP) des Oxford English Dictionary hier irgendwie semantisch den Dativ der Apposition lizenziert (vielleicht leitet sich der Genitivdeterminer in meiner mentalen Grammatik aufgrund seiner marginalen Stellung vom normaleren von dem ab (so in der Art von + dem -> des). Oder der Dativ ist eben einfach nur dem Genitiv sein Tod.
Anatol (#4), ich finde das Thema auch sehr interessant. Ich habe den Eindruck, dass meine Intuition hier nicht “mehrheitsfähig” ist. Wie ist denn Ihre Intuition bei Ich empfehle in solchen Fällen den Petit Robert, den beeindruckendsten Thesaurus der Welt?. (Beispiel geändert, um die Nom/Akk-Differenzierung des Maskulinums abzudecken.)
Wenn wir schon dabei sind Grammatik zu bemängeln, fand ich die “Datenbänke” interessant, da für mich introspektiv “Datenbanken” der Plural zu “Datenbank” wäre…
a) Bank ==> Bänke (Sitzgelegenheit)
b) Bank ==> Banken (Geldverwahrungsinstitute)
Eine Datenbank verwahrt ja eher Daten und wird damit wohl eher analog zu b) gebildet. Das soll jetzt keine Sprachnörgelei sein, ich fands nur interessant.
Aber der Artikel selbst ist wieder sehr amüsant geschrieben, vor allem, weil sich jemand die Mühe macht, die Lemmata einzeln nachzuprüfen. Sie wirken wirklich sehr gekünstelt — und ich gehöre mit 22 bestimmt noch nicht zum “Gammelfleisch”, das sowas nicht mehr versteht.
Ich hoffe nur, Langenscheidt nimmt den Appell ernst, denn ansonsten sind ihre Wörterbücher wirklich annehmbar.
Über Pons und Langenscheidt angebliche Dokumentationen der Jugendsprache kann man eigentlich nur noch lachen. Ich frage mich gelegentlich, ob die Verfasser selbst glauben, dass “die Jugend” diese Wörter benutzen würden, oder ob sie sich sagen: “Egal, Irgendwer wirds uns schon abkaufen.”. Dabei ist glaube ich so ein Projekt fast schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt, da vermutlich in keinem anderen Bereich die Sprache so als Mittel der Abgrenzung benutzt werden. Soll heißen, die Jugendsprache ist von Bundesland zu Bundesland, von Stadt zu Stadt, von Schule zu Schule, ja selbst von Clique zu Clique verschieden. So kann zum Beispiel keiner außerhalb meines Freundkreises etwas mit “tschüssen” (meint: saufen) oder mit “stalken” (meint: sich sehr stark für etwas interessieren und sich über etwas kundig machen) anfangen. Diese Worte sind aus Situationen heraus entstanden, die man gemeinsam erlebt hat, und so wird die Sprache zur Identifikation der Gruppe, da nur die Leute sie verstehen, die auch dabei waren.
Die Kurzlebigkeit und der schnelle Bedeutungswandel von Begriffen erschwert zusätzlich eine Auflistung der Jugendsprache. (Obwohl es nicht “die” Jugendsprache gibt). Das Wort “Schicken” zum Beispiel meinte anfangs (zumindest im Raum Karlsruhe) jemanden reinlegen. “Er hat ihn übelst geschickt” -> “Er hat ihn reingelegt”. Jetzt hat es eher die Bedeutung von, sich wunder, erstaunt sein über. “Das hat mich voll geschickt”-> “Das hat mich doch sehr verwundert.” Die frühere Bedeutung wird heute fast gar nicht mehr verwendet. Der Bedeutungswandel vollzog sich vieleicht über 2–3 Jahr. Das gilt wiederum nur für dem Raum Karlsruhe. In anderen Städten kennt man das Wort vielleicht gar nicht ob verwendet es nochmals in einer anderen Bedeutung.
Man kann die Verbreitung der Jugendsprache im Prinzip mit einem einzigen groß angelegten Flüsterpostspiel vergleichen. Jeder schnappt hier und da was auf und verwendet es wie er lustig ist. Es gibt Ähnlichkeiten, Überschneidungen, Verwandtschaften, aber von “der” Jugendsprache zu reden ist reiner Humbug.
Allerdings glaube ich, dass man eine Dokumentation von allgemeiner Jugendsprache durchaus gut hinkriegen kann, zumindest weitaus besser als es PONS und Langenscheidt machen. Irgendwas machen die grundsätzlich falsch. Woran das liegt hat mir eine Freundin erzählt, deren Klasse quasi interview wurde. Die große Recherchemethode bestand also darin in die Klassenzimmer zu gehen und die Schüler zu fragen was für typische Ausdrücke sie verwendeten. Als sie mir dann sagte, dass die meistens Schüler wahllos irgendwelche Wörter erfunden und sie hinterher plattgelacht haben, ist mir vieles klarer gewordern.
“Emotuch” habe ich letztlich im Bus von einem Mädchen um die 15 (?) zufällig mitgehört. Keine Ahnung, ob das “Pali-Tuch” damit gemeint war, aber immerhin gab es das Wort in freier Wildbahn _und_ aus dem Munde einer jugendlichen Sprecherin (übrigens irgendwo zwischen Bochum und Dortmund).
Ein kurzer Test bei Myspace förderte das hier zu Tage:
http://viewmorepics.myspace.com/index.cfm?fuseaction=user.viewPicture&friendID=167880004&albumId=1501381
Ich gehe mal davon aus, dass das Internet (die Welt in Form einer Google) eben nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit darstellt. @Anatol, sind die Treffer für deine Probe, ob diese Wörter tatsächlich von Jugendlichen geäußert wurden, auch unter Einbeziehung von Myspace und Co. entstanden, oder nur dem Google-Gedächtnis entnommen?
Als nicht besonders lange der Jugendsprache entwachsener (und die Internet-Sprache immer noch pflegender, was ja wieder in Teilen etwas anderes ist…) Mensch, finde ich das auch eher lächerlich. So redet kein Jugendlicher.
Daß Emos allerdings häufiger mal Palis tragen, stimmt soweit ich weiß schon. Ob es deswegen “Emotuch” heißt?
Dabei wär’s wahrscheinlich nicht einmal so schwer, wenigstens wirklich gebrauchte Begriffe zu finden, Internet sei dank.
“Das geht ja mal gar nicht.” (ist das schon Jugendsprache?)
Achim (# 4), so, jetzt habe ich Eisenbergs Grundriss der deutschen Grammatik da. Es ist Verlass auf ihn: Er behandelt Fälle von Dativappositionen zu Genitiv-NPs in Aufgabe 87b (S. 443 in der dritten Auflage) — z.B. Dies lässt sich am besten am Beispiel Brasiliens, dem größten Land des Subkontinents zeigen. Er weist darauf hin, dass diese Fälle natürlich die Kongruenzregel für Appositive verletzen (Apposition und Bezugs-NP müssen den selben Kasus haben). In seinen Lösungshinweisen (S. 491) schlägt er vor, dass die potenzielle Alternative von Argentinien hier einen „latenten Bezugsdativ“ darstellt. Das scheint mir plausibel (ich habe es ja im Prinzip ebenso erklärt). Ein interessanter Fall von semantischer Kongruenz. Bei dem von Ihnen genannten Beispiel im Akkusativ gibt es keinen latenten Bezugsdativ (Petit Robert ist ein typisches Objekt, sowohl semantisch als auch syntaktisch), was erklärt, warum Ich empfehle in solchen Fällen den Petit Robert, dem beeindruckendsten Thesaurus der Welt eindeutig falsch klingt.
Christine (# 5), ja, das stimmt. Anders als bei der Dativapposition stelle ich hier bei konzentrierter Befragung meiner Intuition fest, dass Datenbänke völlig inakzeptabel klingt, es muss also ein Versprecher von mir gewesen sein. Google bestätigt die Marginalität meiner Pluralbildung: Datenbanken ist hundertmal so häufig wie Datenbänke.
Paul Wix (# 6), das ist eine interessante kleine Entwicklungsgeschichte einer Redewendung, danke! Wenn Langenscheidt solche Phänomene einfangen würde, wäre ihnen meine Zuneigung sicher (ach, was sage ich, ich mag Langenscheidt auch so, ich hasse nur Clownereien wie Jugendsprachewörterbücher, Deutsch/Frau-Frau/Deutsch usw.).
Das mit dem Flüsterpostspiel könnte man übrigens auch über sprachliche Innovation an sich sagen.
Stephan (# 7), MySpace-Seiten werden ja, wenn sie zugänglich sind, von Google indiziert und gefunden. Eine Suche auf MySpace findet übrigens genau vier Treffer des Wortes, davon ist einer die Liste der „Jugendwörter“ und einer ein Verweis auf die oben erwähnte RTL-Sendung. Bleiben zwei Treffer, nicht gerade überwältigende Evidenz für die Authentizität des Wortes. Zum Vergleich: Für Mafiatorte, einen anderen Jugendsprache-Mythos, den ich seit meiner Kindheit kenne, gibt es immerhin sechs Treffer auf MySpace.
Die Idee, MySpace als Datenquelle für jugendlichen Sprachgebrauch zu verwenden, finde ich aber toll. Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin, zeigt, dass ich alt werde…
Selbst wenn Emotuch gelegentlich vorkommt ist es dadurch noch lange nicht lexikonwürdig. Dazu muss es schon eine gewisse Verbreitung besitzen.
So tollen Wörtern wie ‘Pflasterporsche” oder “Rentnerbravo” sieht man ja bereits ohne jede weitere Nachforschung überdeutlich an dass es in der Liste mehr um billige Witzchen geht als dass irgendjemand dort tatsächlich irgendein Interesse an der Jugendsprache hätte. Wobei das nun auch keuin grosses Geheimnis ist dass solche Werke eher als Klamauk angelegt sind.
BTW, das Wort “noob” auf der Langenscheidt-Webseite zum Buch ist dort idiotischerweise mit “Nichtskönner, Versager” übersetzt.
Das PONS-Wörterbuch der Jugendsprache entsteht meines Wissens folgendermaßen:
PONS schickt eine Werbe-Broschüre an die Schulen bzw. Lehrer mit dem Hinweis, dass wieder das neue Jugendsprache-Wörterbuch 200irgendwas erstellt werde. Dazu gibt es ein Gewinnspiel: Die Schüler sollen fünf ’neue’ Jugendspracheausdrücke definieren und an PONS schicken. Dann kann man irgendwelche Wörterbücher gewinnen und bekommt hinterher einen Klassensatz Jugensdprache-Wörterbuch 200irgendwas zugeschickt.
Dazu kommt noch, dass die angeblichen Jugendsprache-Wörter auch eine englische und französische Übersetzung verpasst bekommen, die dann meist noch weniger Jugendsprech ist.
Doch, doch, stimmt schon, das gute alte Pali-Tuch heißt heute (auch) Emo-Tuch und tritt auch in anderen Farben als nur Schwarz-Weiß auf. Aber die Emos von heute sind ja auch nicht mehr die Emos von früher — und was Palis sind, wissen die meisten wohl aufgrund mangelnder politischer Bewegung ohnehin nicht mehr. Und eigentlich ist das auch alles egal. ;o)
Anatol (#9): Ich glaube myspace wird nicht ordentlich indiziert, Google wird dies allein aus Gründen der Treffsicherheit und Verläßlichkeit der Treffer womöglich ausblenden. Ich habe noch nie einen Treffer von Myspace über die Google-Suche gefunden.
P. Frasa (#8), Anatol (#9) und Daniel (#10):
Ich verstehe, dass es extrem schwierig ist, den Gegenbeweis zu führen, dass einige, wenn nicht gar alle der oben genannten jugendsprachlichen Ausdrücke höchstens Hirngespinste oder Lückenfüller eines (späten, aber periodisch auftretenden) Sommerlochs sind. Ein einfaches “Hab ich noch nie gehört” oder “Google hat nur drei Treffer, also ist das Wort nicht in Gebrauch” greift meiner Ansicht nach zu kurz. Mit dem Ansatz klassicher Korpuslinguistik wird man hier wohl kaum wirklich befriedigende Ergebnisse erzielen können. Ist denn sichergestellt, dass Jugendliche ihren Code sprechen und analog auch im Internet verschriftlicht hinterlassen?
Vor dem Hintergrund, dass es sich hier um Umgangssprache handelt und Jugendliche immer weniger schriftsprachlich miteinander umzugehen scheinen (ja, dies ist nur meine subjektive Wahrnehmung. Ob dem tatsächlich so ist, mag ich nur zu schätzen) wäre heir eher Empirie angebracht. Doch auch hier gilt, was in Bochum zu beobachten ist, kann in Hamburg ganz anders sein oder ich hab vielleicht nur “Glück” mit den Probanden gehabt?
Daniel (#10):
Noob mit Nichtskönner oder Versager zu übersetzen passt meiner Meinung nach viel besser, als das objektivere “Anfänger” zu nutzen, da hier die eindeutig pejorative Verwendung nicht zum Ausdruck kommt.
Was mich an meiner Soziolinguistik- bzw. sozialwissenschaftlichen Vorlesungen immer etwas nervig fand, war das Argument des eignen Erfahrungshorizonts, welches ich hier gerne etwas hinterfragen möchte.
Nachtrag: Auffällig ist für mich in meiner täglichen Arbeit mit Jugendlichen vor allem, dass sie (gerade auch untereinander) auffällig wenig typisch Jugendsprachliches verwenden. Vielleicht bin ich ja auch noch zu jung, aber ich kann jeder Unterhaltung, soweit sie an mein Ohr dringt, problemlos folgen. Jugendsprache, so scheint es mir manchmal, ist mehr eine Erfindung verschiedener Medien, die alles zusammenklauben, was zwischen Flensburg und Bozen so an jugendspezifischem Code kursiert, und sich dann daraus eine vermeintliche Jugendsprache basteln.
Stephan (13):
Klar kommt bei “Versager” die abwertende “Nebenbedeutung” (wie auch immer da der linguistisch korrekte Terminus für wäre) besser raus aber dabei geht doch die Hauptbedeutung total verloren. In einem atz wie “ich bin bei cs noch total der noob” passt Versager absolut nicht als uebersetzung rein IMHO.
Und auch Anfänger lässt sich ja durchaus abwertend verwenden.
@ Stephan (#13) Bedingt hast du mit dem Argument der Korpuslinguistik recht. Aber Google ist im GGS zu z.B: COSMAS II ja kein lektoriertes Korpus.
Und im Internet gibt es viele Menschen, die so schreiben, wie sie sprechen. Ich moderiere in einem Forum mit, das zu 80% von Menschen zwischen 11 und 17 Jahren besucht wird. Dort begegnen mir häufig Beiträge, deren Stilgehalt eher an gesprochene Sprache, denn an geschriebene Sprache angepasst ist.
Aber diese Worte habe ich dann doch noch nie gesehen.
Ich will damit sagen: ganz so abwegig ist die Korpuslinguistik auch in diesem Fall nicht, da im Netz freier und ungezwungener geschrieben wird. Wenn, würde eher der Kritikpunkt greifen, dass Google nicht überall durchkommt, weil die Seiten nur angemeldeten Usern zur Verfügung stehen.
Dennoch, wären diese Beispiele geläufige Wörter der “Jugendsprache”, müssten sich bestimmt mindestens 1–10 Treffer finden, die dies auch verifizieren.
Ohne auch nur im entferntesten diese unterirdischen Machwerke von Pons und Langenscheidt in Schutz nehmen zu wollen, würde ich mich der Meinung anschließen wollen, daß Google-Recherchen keinen ausreichenden Korpus für Jugendsprache zutage fördern können. Allerdings denke ich, daß der gleiche Einwand auch MySpace betrifft.
Meine Einschätzung ist, daß „Jugendsprache“ sich nahezu ausschließlich aus mündlichem Sprachverhalten rekrutiert, nicht schriftlichem; ich würde sogar bezweifeln, daß große Teile dieser „Jugendsprache“ Jugendlichen in einer typischen Schreibsituation überhaupt aktiv (im Sinne von „aktiver Sprachschatz“) zur Verfügung stehen. Und selbst dort, wo sie zur Verfügung stehen, dürften erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich ihrer nirgendwo systematisierten oder formalisierten Schreibung bestehen, was den Gebrauch selbst in moderat formalem Umfeld minimieren dürfte. Und selbst wenn sie zur Verfügung stehen und das Umfeld informell ist, liegt die häufige Verwendung im Internet (Blogs, Foren etc.) wiederum nicht nahe, da die meisten sich ja gerade größere Bekanntenkreise erschließen wollen (Stichwort: Soziale Netzwerke), was einem Gebrauch extremer Lokalismen (sehr schön geschildert von Paul in #6) wiederum automatisch zuwiderläuft.
Aber wie kann für „Jugendsprache“-Wörterbücher ein Korpus aus dem mündlichen Sprachgebrauch erstellt werden, dem Signifikantes zu entnehmen wäre, wenn das mühsame Sammeln dieser Informationen vermutlich länger dauert, als die betreffenden Ausdrücke überhaupt Gültigkeit haben, und teurer wäre, als sich mit einer Jahresauflage hereinholen ließe? Die Antwort lautet „nicht“, vermute ich, und von da aus würde ich zusätzlich vermuten, daß das auch den Redaktionen klar ist, und daß das periodische Erscheinen von „Jugendsprache“-Wörterbüchern von vorneherein nicht die Absicht lexikalischen Wissenszuwaches verfolgt, sondern lediglich ein paar Schüppen Kohle einfahren soll. (Die Preisausschreiben-Methode, von der Paul berichtet, finde ich ebenso bizarr wie aufschlußreich.)
Allerdings könnte ich mir vorstellen, daß SMS‑, Chat- und vielleicht auch E‑Mail-Kommunikation, die nicht nur informelle, sondern zum Teil sogar „mündliche“ Charakteristika aufweist und überdies überwiegend an den „lokalen“ Freundeskreis gerichtet ist, sich als Korpus zum Auffinden von „Jugendsprache“ als verwertbar erweisen könnte.
^_^J.
Ich denke auch dass es erhebliche Unterschiede ziwschen geschriebener und gesprochener Sprache und somit auch gesprochener Jugendsprache gibt, das ist wohl auch eine ziemliche Binsenweisheit. Ich halte es aber für relativ abweigi dass es regelmässig verbal benutzte Begriffe gibt die wirklich absolut niemals niedergeschrieben werden so dass Google nichtmal 10 Treferchen aus den nahezu unendlichen Weiten des Internet fischen kann.
Selbst wenn Jugendliche aus irgendwelchen abstrusen Gründen bestimmte Wörter zu 99.9% nur in privaten Chats und Emails und verbal statt in Blogs, Foren, Youtube-Kommentaren etc pp. benutzen würden müssten die 0.1 % an “Abweichlern” immer noch Hunderte von Hits erzeugen.
Im Gegensatz zu dem was weiter oben irgendwo behauptet wurde kommuniziert man heutzutage doch nicht weniger schriftlich als früher sondern sehr viel mehr, das gilt auch für Jugendliche.
ich weiß nicht, ob ich mit 22 noch zu der zielgruppe gehöre, aber ich benutze das wort eierkocher^^ und kenne viele, die das auch tun. (wort #4)
man kann doch nich einfach was pauschalisieren, nur weil man selbst es nicht kennt (#5 zB)
ansonsten stimmt das schon, langenscheidt macht einfach irgendwelchen scheiß, weil sie sonst nix zu tun haben. und ein paar leute, die genauso ahnungslos wie die herausgeber sind, kaufen den kram dann
Danke für die mühevoll zusammengestellte Recherche. Schon bei der letzten Ausgabe des Jugendwörterbuchs hatte ich ähnliche Kritik im Kopf.
Echte Lexikographie kommt einfach nicht ohne Korpora aus. Doch woher nimmt man ein Korpus der (aktuellen) Jugendsprache? Das kann man sich machen lassen, wird aber aufwändig und ziemlich teuer. Und wenn es die Mehrzahl der Leser sowieso nicht juckt, so what?
Hey, hey! Da kann man ja auch noch was vorschlagen. Ich hätte da ein supercooles Jugendwort, voll der krasse Insider-Tip: “affentittengeil”. Da seid ihr baff, was? Ich hab urst die Jugendsprache gecheckt.
Also eine Art “Jugendbegriff” für Ü‑30-Partys gab es in meiner Jugend wirklich und da schwang auch ein gewisses *hüstel* Interesse mit. Früher hieß die mit dem Besuch einer solchen Party verbundene Abendplanung nämlich, pardon, “Reste ficken”.
(Wobei der tatsächliche Begriff dann wohl eher “Resterampe” war, aber der wiederum lässt das durchaus vorhandene Interesse nicht so recht durchkommen.)
“Resteficken” als Begriff für Ü‑30-Partys kenne ich auch, allerdings nicht aus der Jugendsprache sondern eher als desillusionierte Umschreibung dieser Veranstaltungen durch Leute die Ü‑30 sind.
Hier gibt es eine umfangreiche Belegsammlung von Theodor Ickler zum Thema ›Der Dativ als allgemeiner Appositionskasus‹. An Icklers Beispielen sieht man, daß das Bezugsnominal zu einer Dativapposition auch im Nominativ oder Akkusativ stehen kann, ohne daß es einen ›latenten Bezugsdativ‹ gäbe.
Herr Konietzko, danke für den Hinweis. Wissen Sie zufällig, ob diese Beispiele repräsentativ für Icklers Sammlung sind?
Wenn ja, fällt zunächst auf, dass deutlich mehr als die Hälfte (14 von 23) der Dativappositionen sich auf einen Genitiv beziehen (wenn wir die Beispiele mit als mal weglassen). Die zahlenmäßige Überlegenheit dieser Kombination ist aus der Literatur bekannt und dies sind genau die Fälle, in denen ein „latenter Bezugsdativ“ vorhanden wäre. Dies sind für mich außerdem Beispiele, die mir auch bei sorgfältigem Lesen nicht merkwürdig vorkommen und bei denen eine Genitivapposition manchmal sorgar schlechter klingt. (1a) klingt beinahe schon falsch, während das tatsächliche, kongruenzverletzende Beispiel nicht weiter auffält:
(1a) Zu gleicher Zeit arbeitete Bach an der Vollendung eines anderen Werks, der 15 zwei- und dreistimmigen Inventionen und Sinfonien.
(1b) Zu gleicher Zeit arbeitete Bach an der Vollendung eines anderen Werks, den 15 zwei- und dreistimmigen Inventionen und Sinfonien. (Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J. S. Bach. Kassel 1965:15)
In anderen Fällen klingen beide Varianten gleich gut:
(2a) Sarrasine stirbt durch die verlängerte Hand eines Kardinals, des Gönners des Sängers.
(2b) Sarrasine stirbt durch die verlängerte Hand eines Kardinals, dem Gönner des Sängers. (Zeit 2.8.85:34)
Die nächsthäufige Gruppe sind Beispiele, wo die Dativapposition sich auf eine Akkusativ-NP bezieht. Diese Beispiele klingen für mich alle falsch, hier nur ein Beispiel für diejenigen, die sich nicht die ganze Liste durchlesen wollen:
(3) Durch die Arbeit, einem unmittelbaren Bestandteil der Lebensweise, nehmen Menschen Einfluß (…) (Aus Politik und Zeitgeschichte 21.4.84:22)
Dies könnten schlicht Fehler sein (wer unter Zeitdruck Texte schreibt, weiß, wie schnell man so etwas nach ein paar Umstellungen übersieht). In einem Fall ist aber nach Eisenberg möglicherweise doch ein latenter Bezugsdativ vorhanden:
(4) Und er konnte sich eine abfällige Bemerkung über Stephan Hermlin nicht verkneifen, dem Initiator der “Berliner Begegnung”, einem Treffen von Schriftstellern aus Ost und West in Sachen Frieden. (Zeit 23.9.83:20)
Die Präposition über lässt, je nach Bedeutungszusammenhang, sowohl den Dativ (Die Geier kreisten über dem Aas) als auch den Akkusativ (Sie flogen über das Aas hinweg) zu. Der Eintrag von über im mentalen Lexikon muss also beide Kasus enthalten). Dies könnte von Sprechern unter Zeitdruck auf alle räumlichen Präpositionen verallgemeinert werden und dann auch Beispiele wie (3) erklären.
Die kleinste Gruppe ist die der Bezugs-NPs im Nominativ (3 von 23). Hier fällt bei zwei Beispiele auf, dass das Bezugsnominal relativ weit von der Dativapposition entfernt steht. In (5a) steht dazwischen noch eine Genitiv-NP (die der Sprecher fälschlicherweise für eine relevante Quelle eines latenten Dativs halten könnte), in (5b) steht eine PP dazwischen:
(5a) So liegen die Kosten des medizinischen Bedarfs — den wichtigsten im Sachkostenbereich — in Herdecke um rd. 18 DM unter den Kosten vergleichbarer Krankenhäuser. (Parlament 14.3.87:5)
(5b) Das Pokerspiel um die Löhne für 3,6 Millionen Metallarbeiter, dem wichtigsten Tarifabschluß in der deutschen Wirtschaft (…) Zeit 3.3.78:15)
Das letzte Beispiel ist völlig unerklärlich:
(5c) In kohärenten Texten kreuzen sich hier zwei Verständnisebenen: der von Sprecher-Hörer und der von Textemittent und ‑rezipient. (Hans-Werner Eroms: Funktionale Satzperspektive. Tübingen 1986:65)
Dies könnte ein Redigierfehler sein, oder ein Zeichen für eine allgemeine Tendenz zur Dativapposition, wie manche Sprachwissenschaftler sie postuliert haben. Ich würde im Moment auf ersteres tippen.
Zu den Einwänden weiter oben:
Klar kann man nicht einfach behaupten, nur weil man ein bestimmtes Wort nicht gehört hat, komme es nicht vor. (Auch wenn ich behaupte, daß sich viele “regionale” Slangs immer mehr durch das Internet über den gesamten Sprachraum verbreiten — das führt dann wohl zu einem gewissen Internetslang, der in verschiedensten Foren, Blogs, Portalen, usw. gesprochen wird — davon wird übrigens wirklich längst nicht alles von google indiziert.)
Allerdings — und ich weiß, daß das ein emotionales Urteil ist — war für mich der Einwand grundlegender. Ich finde, der ganze Langenscheidt’sche Beschrieb der einzelnen Vokabeln klingt wie Humor von über 50jährigen, bzw. wie sich über 50jährige den Humor von Jugendlichen vorstellen. Jugendsprache, so wie ich sie kenne, ist einfach irgendwie witziger, spontaner, meist auch nicht so auf den ersten Blick auffällig (will heißen: viele Wörter klingen erst mal nach gar nichts besonderem, siehe das Beispiel “schicken”), usw.
Außerdem ist Jugendsprache ja auch ein bißchen mehr als nur das Austauschen von Begriffen der Standardsprache. Es sind bestimmte kulturelle Kodizes damit verbunden, die m.E. etwas tiefer greifen als nur “Wort X bedeutet Y”.
Peinlich. Zutiefst peinlich.
Und das plattdeutsche Substratum kann es nicht sein? Für mich klingt es nicht nur falsch, ich bin dieser Konstruktion noch nie begegnet (außer eindeutigen Verwirrungen in sehr langen Sätzen).
Das wird ja finnisch! Ein Äquativ! Was es nicht alles gibt.
Wissen Sie was? Wir sollten die deutsche Schriftsprache einfach auflösen. Sie führt nur zu grundlegenden Missverständnissen. Die Tschechen, Slowaken und Polen behaupten ja auch nicht, dieselbe Sprache zu sprechen, obwohl sie sich miteinander wesentlich leichter tun als ein Bayer auf Rügen.
Nr. 25:
Das weiß ich nicht, aber wenn ich mir die Diskussion ansehe, in deren Verlauf Theodor Ickler seine Belegsammlung veröffentlicht hat, dann finde ich keinen Grund, warum er die Belege nach einem bestimmten Gesichtspunkt und nicht einfach zufällig hätte auswählen sollen.
Also ganz ehrlich, ich hab keines der Wörter je gehört noch selber verwendet, wenn ich auf mein Alter schaue, dürfte es noch nicht so lange her sein…
Entweder ich kenne die falschen Leute oder die haben kreative Arbeiter…
Aber was Krönungswürdig ist, sollte jeder wissen? Bedeutet das nicht eher “Eine Person die einen Preis verdient”? Jedenfalls würde ich es eher so definieren.
Gestern Abend kam in SWR1 ein überraschend differenzierter Beitrag zu diesem Thema. Sie interviewten erst eine der Redakteurinnen des PONS Wörterbuchs, ließen dann aber einen Hannoveraner Linguisten namens Peter Schlobinski zu Wort kommen, der vieles davon auch relativierte.
Hier
http://www.swr.de/swr1/rp/programm/-/id=446640/nid=446640/did=4148888/g5yw5n/index.html gibt es den Podcast, wen es interessiert…
Weiß übrigens irgendjemand, ob Schlobinski zu diesem Thema bereits etwas veröffentlichte, laut dem Beitrag scheint dies nämlich eines seiner Forschungsgebiete zu sein.
@ christine:
> Weiß übrigens irgendjemand, ob Schlobinski zu diesem Thema bereits etwas veröffentlichte, laut dem Beitrag scheint dies nämlich eines seiner Forschungsgebiete zu sein.
1. google
2. erster treffer
3. bibliographie
@ guckstuda:
Ist mir schon klar, dass ich in Google alle Werke von Linguisten angezeigt kriege, sofern sie eine Homepage mit Bibliographie haben.
Mir ging es eher darum, ob einer seiner Aufsätze zu diesem Thema besonders bekannt/ lesenswert ist. Hab ich mich vielleicht ungeschickt ausgedrückt. 😉 Anyway danke…
Und es geht weiter…:
http://www.mdr.de/brisant/6579917.html
Und die Idioten glauben das auch noch. <headdesk>
Übrigens dürfte ich voriges Jahr Kommentar 21 und 25 übersehen haben:
Was? Das wienerische ur, das 2000 in Graz schon wieder veraltet war, wird irgendwo gesteigert? Wo?
Das liegt an “arbeitete […] an” und dem Beistrich, sowie dem Werk im Singular, das sich als 15 Werke entpuppt. Weil das alles zusammenkommt, klingt 1b marginal besser.
Für mich absolut nicht. 2b muss ich zweimal lesen, um es zu verstehen. Da stolpere ich richtig drüber.
Also ich finde sowohl (1a) als auch (2a) sehr viel schlechter als (1b) bzw. (2b). Was sagt uns das über die Aussagekraft von Grammatikalitätsurteilen?
Dass wir es mit einer plurizentrischen und ziemlich künstlichen Schriftsprache zu tun haben.
@David Marjanović: “urst” war in den 70er und 80er Jahren in der DDR-Jugend sehr gebräuchlich. Einfach nur “geil” ging damals für uns nicht, es musste schon “urst geil” sein.
Das ist ja interessant. “Ur geil” ist heutzutage in Wien extrem häufig zu hören.
Wollte nur mal sagen, dass es in der Liste ein Wort gibt, welches meine Freunde und ich (um die 20) allen Ernstes verwenden: “Perlhuhn” oder “Pearlchicken”.
Das sind für gewöhnlich die (jurastudierenden) Mädels mit meist blonden, ordentlichen Pferdeschwänzen, kaschmirartigen Pullovern in hellblau/rosa/weiß mit V‑Ausschnitt aus denen der (hochgeschlagene) weiße Polohemdkragen rausschaut. Ganz wichtig: die weißen Perlenohrringe, nach Wahl kombiniert mit einer passenden Perlenkette.
Wobei ich aber nochmal anmerken möchte, dass auch Forenbeiträge von möglichen Jugendlichen nicht einer mündlichen Sprechsituation gleichkommen.