Vor ein paar Wochen habe ich im Fernsehen beim Sendersurfen den folgenden Satz gehört (ich weiß leider nicht mehr in welcher Sendung, ich glaube, es war eine Krimiserie mit Laiendarstellern):
(1) Ich weiß gar nicht, wer mehr nervös war — er oder ich.
Der Satz kam mir komisch vor. Mehr nervös klingt wie eine umständliche und unkonventionelle Umschreibung für nervöser.
Wäre ich ein Sprachnörgler, es wäre klar, was ich zu tun hätte: ich müsste mich über die „immer häufiger zu beobachtenden“ und „falschen“ Vergleichsformen von Adjektiven im Besonderen und über junge Menschen und das Privatfernsehen im Allgemeinen echauffieren und die Schuld für den Verfall der deutschen Sprache beim Englischen suchen, wo man ja schließlich auch more nervous sage.
Als Sprachwissenschaftler stelle ich zunächst nur fest, dass der Satz ungewöhnlich klingt und nicht zu dem passt, was ich als deutscher Muttersprachler über die Bildung von Vergleichsformen im Deutschen weiß. Damit ist dann natürlich meine Neugier geweckt: woher kommt diese ungewöhnliche Form? War es ein vereinzelter Fehler oder steckt dahinter System?
Das Internet bietet, neben Kreditkartenbetrug, Pornografie und Killerspielen, ja auch die größte Sammlung von umgangssprachlichem Deutsch, die der Sprachwissenschaft je zur Verfügung stand, und so habe ich mich entschlossen, eine kleine Studie durchzuführen. Ich verfolge dabei zwei Hypothesen.
Erstens kommt mir die Vergleichsform mit mehr (die „analytische“ Vergleichsform, wie sie sich im Englischen, aber auch in den romanischen Sprachen findet), besser vor, wenn sie auf sogenannte „deverbalen“ (von Verben abgeleitete) Adjektive angewendet wird — (2a) klingt für mich besser als (2b), auch wenn bei beiden Sätzen die synthetische Vergleichsform natürlich noch besser klingt (siehe (2c)):
(2a) Ich weiß nicht, wer mehr erschöpft war …
(2b) Ich weiß nicht, wer mehr kaputt war …
(2c) Ich weiß nicht, wer erschöpfter/kaputter war …
Zweitens kommt es mir so vor, dass — wie im Englischen — lange Adjektive eher die analytische Vergleichsform bevorzugen als kurze — (3a) klingt für mich besser als (3b):
(3a) Ich weiß nicht, wer mehr durcheinander war … (4 Silben)
(3b) Ich weiß nicht, wer mehr verwirrt war … (2 Silben)
Um eine für die Sprache im Internet repräsentative Auswahl von Adjektiven zu erhalten, die sich steigern lassen, habe ich zunächst nach dem Muster “ich war total *” gesucht, und habe alle Adjektive weiterverwendet, die in tausend Treffern für dieses Muster mehr als zweimal vorkommen.
Diese insgesamt 54 Adjektive habe ich dann jeweils in den Mustern (4a) und (4b) gesucht:
(4a) PRONOMEN ADJEKTIVer war
(4b) PRONOMEN mehr ADJEKTIV war
Die Einschränkung auf diese Muster hat zwei Gründe: Erstens kommen sie dem Kontext nahe, in dem ich die ungewöhnliche Vergleichsform ursprünglich gehört habe, und zweitens erzeugen sie weniger Fehltreffer als z.B. mehr ADJEKTIV, bei dem man tausende von Treffern wie Ich bin jetzt nicht mehr nervös erhält.
Siebzehn der 54 Adjektive kamen in keinem der beiden Muster vor. Für die übrigen 37 Adjektive habe ich jeweils ausgezählt, ob sie — in dem Muster in (4a/b) — häufiger in der synthetischen oder häufiger in der analytischen Vergleichsform auftreten. Auf diese Weise habe ich für jedes Adjektiv seine bevorzugte Vergleichsform erhalten (die Methode ist zugegebenerweise sehr simpel, aber zu mehr reicht meine Zeit nicht). Außerdem habe ich für jedes Adjektiv festgehalten, ob es deverbal ist (z.B. erschöpft von erschöpfen) oder nicht (z.B. kaputt), und wieviele Silben es hat.
Sehen wir uns zunächst den Einfluss der Adjektivklasse (einfach vs. deverbal) auf die bevorzugte Vergleichsform an. Die beiden Klassen unterscheiden sich tatsächlich (vier Adjektive, bei denen beide Formen gleich häufig waren, habe ich hier und im Folgenden weggelassen):
Bei den einfachen (echten) Adjektiven bevorzugt die klare Mehrzahl die synthetische Vergleichsform, nur drei der vierzehn Adjektive kamen häufiger mit der analytischen Vergleichsform vor. Bei den deverbalen Adjektiven ist das Verhältnis fast ausgeglichen, die analytische Komparation wird von beinahe ebensovielen Adjektiven bevorzugt, wie die synthetische.
Obwohl der quantitative Unterschied nicht statistisch signifikant ist (Fisher-Yates, p=0,19), ist das Ergebnis doch vielversprechend. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich bei einer größeren Stichprobe (oder einer differenzierteren Kategorisierung der Adjektive bezüglich ihrer bevorzugten Vergleichsform) ein signifikantes Ergebnis erzielen lässt.
Wenn es sich bestätigt, könnte dieser Effekt darauf zurückzuführen sein, dass Sprecher Sätze wie (2a) analog zu Sätzen verwenden, in denen statt des deverbalen Adjektivs tatsächlich ein Verb steht, also z.B. (5a):
(5a) Ich weiß nicht, wen die Diskussion mehr erschöpft hat…
Bei einfachen Adjektiven, wie in (2b), gibt es keinen entsprechenden Satz, der zur Interpretation herangezogen werden könnte.
Bei der Länge gibt es einen deutlicheren Effekt. Die meisten Adjektive in der Stichprobe haben zwei oder drei Silben, nur vier Adjektive haben eine Silbe und nur zwei haben vier Silben. Für die Analyse habe ich mich auf die zwei- und dreisilbigen Adjektive beschränkt. Das Ergebnis ist eindeutig und verfehlt nur knapp die Schwelle zur statistischen Signifikanz (Fisher-Yates, p = 0,056):
Die Mehrzahl der zweisilbigen Adjektive wird in dem Muster in (4a/b) synthetisch verglichen, die Mehrzahl der dreisilbigen Adjektive dagegen analytisch.
Es gibt in der Stichprobe allerdings eine Komplikation: die meisten echten Adjektive sind zweisilbig, während die deverbalen Adjektive je etwa zur Hälfte zwei- und dreisilbig sind. Es wäre deshalb möglich, dass der Faktor Adjektivklasse den Faktor Silbenlänge verzerrt. Ich habe deshalb die gleiche Analyse noch einmal ausschließlich für die deverbalen Adjektive durchgeführt. Statistische Signifikanz lässt sich aufgrund der kleinen Datenmenge nicht mehr erzielen (Fisher-Yates, p=0,17), aber die Ergebnisse zeigen das gleiche Muster:
Es gibt beim Zusammenhang zwischen Wortlänge und Vergleichsform also tatsächlich eine interessante Parallele zum Englischen. Man könnte jetzt natürlich „Denglisch“ schreien und über den zerstörerischen Einfluss der englischen Sprache auf die Grammatik des Deutschen klagen. Aber ich glaube nicht, dass es sich hier um einen Einfluss aus dem Englischen handelt: Um ein graduelles Muster bevorzugter Vergleichsformen unbewusst aus dem Englischen ins Deutsche zu übergtragen, müsste man es zunächst im Englischen völlig verinnerlicht haben. Ich bezweifle aber, dass die Englischkenntnisse deutscher Muttersprachler insgesamt detailliert genug sind, damit eine ausreichend große Zahl von Sprechern diese Übertragung vornehmen könnte. Stattdessen vermute ich, dass im Deutschen und in Englischen dieselbe universelle Strategie hinter der Verwendung der analytischen Vergleichsform steckt, nämlich, Komplexität zu reduzieren indem man es, wenn möglich, vermeidet, übermößig lange Wörter durch Affixe noch länger zu machen.
Ich hoffe, ich habe gezeigt, dass ein Satz, der einem merkwürdig aufstößt, kein Anstoß zur Sprachnörgelei sein muss. Er kann auch Anlass für eine Expedition in die Funktionsweisen grammatischer Systeme sein.
PS. Falls unter den Leser/innen jemand ist, der/die mehr über dieses Phänomen weiß (vielleicht sogar Literatur dazu kennt) und der/die Lust, Zeit und die nötige Fachkompetenz hat, daran zu arbeiten — ich wäre an einer Zusammenarbeit interessiert und würde mich über eine Email freuen.
PPS. Die Bewerbungsfrist für den Bremisch-Oldenburgischen Masterstudiengang Language Sciences ist bis zum 15. September verlängert worden. Wer einen BA in Sprachwissenschaften, einer Philologie (Germanistik, Anglistik, Slawistik, Romanistik, etc.) oder einer anderen relevanten Bezugswissenschaft hat und sich intensiver mit Sprache beschäftigen möchte, findet hier Kontaktadressen und relevante Links.
Interessant, ich habe früher mal kontrastive Linguistik (Deutsch-Englisch) betrieben, aber dass das Deutsche diese Art eines Komparativs hat, ist mir nie aufgefallen. Eine andere Frage: Wie kann man in R (das ist doch R?) die Werte über die Säulen schreiben?
Also, ich muss sagen, ich finde, (2a) und (2b) klingen besser als (2c). Ich würde niemals sagen „Ich bin mehr groß als du.“, mit „erschöpft“ könnte ich mir das schon vorstellen. Außerdem ist „erschöpft“ einfach kein Wort, das man normalerweise steigert: „Hey, ich bin erschöpfter als du.“ – sowas sagt man nicht. Entweder ist man erschöpft oder oder man ist es nicht. So richtig kann man da keine Nuancen bilden.
Vielleicht ist das „mehr erschöpft“ so etwas wie das „allergrößte“? „Du sagst zwar, du seist der Größte, aber ich bin der Allergrößte.“ – „Wir sind zwar beide erschöpft, aber du bist bestimmt mehr erschöpft als ich (weil du nicht so gut trainiert bist).“ – und während ich diese Zeilen schreibe, bin ich schon wieder am Zweifeln: „erschöpfter“ würde ich in diesem Satz auch sagen (aber beides ungefähr gleichberechtigt, ebenso bei „kaputt).
Und sollte es etwas regionales sein: Ich komme aus Westsachsen.
Jens
Jetzt bin ich noch durcheinanderer …
Aufgefallen ist mir bisher nur das tut mehr weh, und hier gibt es keine Alternative.
Analytische Komparative mit ärger oder noch ärger verwende ich allerdings gelegentlich.
“Mehr kaputt” ist für mich schlicht und ergreifend falsch. “Mehr faszinierend” übrigens auch.
“Durcheinanderer” aber ebenfalls… könnte am -erer liegen…
Herr Marjanović schreibt in Nr. 4:
Für andere Sprecher gibt es die Alternative das tut weher. Hier einige Belege von 1697 bis 2006 (aus den IDS- und DWDS-Corpora und dem DWb.):
1. damit der herzog von Savoien ein spiegelfechten mit dem marechal de Catinat in Piemont anstellen, selbigem aber nicht viel weher thun solte, als wenn die Lucas- und Marcusbrüder mit ihrer federfechterei sich die köpfe ein wenig blutig schlagen (Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausen: des träumenden Pasquini kluger staatsphantasien über den jetzigen verwirrten zustand der Welt erste – dritte erscheinung. Freiburg 1697. S. 323; zitiert nach: DWb., Bd. 10.1, Sp. 2.246)
2. [U]m desto weher tat es mir, wenn mich gar oft das Personal an Ausführung großer Sachen hinderte. (Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. [Erstveröffentlichung 1795–1796.] In: Goethes Werke, Bd. 7. München 1982. S. 24)
3. [J]e mehr sich aber mein Entzücken steigerte, desto weher tat es mir, sie nicht unmittelbar besuchen, sie nicht wieder sehen und sprechen zu können: […]. (Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit [I–III]. [Geschrieben 1809–1813.] In: Goethes Werke, Bd. 9. München 1982. S. 171)
4. je weiter aufwärts er [der Sprachforscher] klimmen kann, desto schöner und vollkommner dünkt ihn die leibliche gestalt der sprache, je näher ihrer jetzigen fassung er tritt, desto weher thut ihm jene macht und gewandtheit der form in abnahme und verfall zu finden. (Jacob Grimm: [Vorrede zum ersten Band des Deutschen Wörterbuches]. 1854)
5. es müszte mir erst noch weher thun, der physische und der seelenhunger noch schärfer an mir nagen. (Paul Heyse: Kinder der Welt. Roman in sechs Büchern. Berlin 1873; zietiert nach: DWb., Bd. 10.1, Sp. 17)
6. Das war ein harter Schlag, und ich war Ihnen zuerst beinah böse, denn nichts tut weher, als liebe Götzen zu verlieren. (Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten. Berlin: Paetel 1903 [1902]. S. 32.321 [?])
7. Aber ist es nicht doch schon zugleich der Anfang einer traurigen Gefühllosigkeit, beinahe Roheit, oder wie ist es möglich, daß es mir weher tut, meine eigene Vereinsamung zu tragen, als der Anblick des Leids so vieler anderer? (Brief von Franz Blumenfeld vom 14.10.1914. In: Philipp Witkop [Hrsg.]: Kriegsbriefe gefallener Studenten. Leipzig: Teubner 1918. S. 23)
8. Noch weher aber tat es, den Sohn in schmerzlichen Kämpfen zu wissen … (Ida Boy-Ed: Vor der Ehe. Berlin: Ullstein 1915. S. 8.336 [?])
9. In seinen jungen Jahren meinte er, ein Komponist zu sein, und weil man ihn nur ›halb mit Erbarmen lobte‹, was viel weher tut als ein gesunder Tadel, zog er sich verletzt zurück. (Alois Wohlmuth: Ein Schauspielerleben. Ungeschminkte Selbstschilderungen von Alois Wohlmuth. München: Parcus 1928. S. 75.610 [?])
10. Es hätte dem Toten nicht weher tun können als mir. (Anna Seghers: Transit. Konstanz: Weller 1943. S. 143)
11. »Das tut mir weh«, sagte Lysiane. Je weher, desto besser. (Ernst Kreuder: Die Gesellschaft vom Dachboden. Stuttgart: Rowohlt 1946. S. 96)
12. Opfere dich, schöne Hure, das Sterben tut dir nicht weher als uns! (Wolf von Niebelschütz: Der blaue Kammerherr. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1949. S. 197)
13. Hin und wieder müssen wir es mit der Peitsche tractieren, das tut uns weher als ihm, und jetzt wird gepeitscht. (Wolf von Niebelschütz: Der blaue Kammerherr. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1949. S. 674)
14. Ein Zusammenstoß infolge schlechter Sicht tut aber noch viel weher! (Alexander Spoerl: Mit dem Auto auf Du. München: Piper 1953. S. 184)
15. Am späten Nachmittag, als Wolf das Kreuz noch weher tat als die Füße, kamen sie durch einen niederen Durchlaß auf einen winzigen alten Platz. (Martin Walser: Dorle und Wolf. Frankfurt a.M. 1987. S. 87)
16. Ein Tiroler Förster: »Solchene Kratzer und Abschürfungen, wia si der Herr Zeige ghabt hat, sein schon meglich, bei mein Huat. Des Hüatl ischt so um die dreißig Johr olt, des innere Lederbond isch scho hort wia a Eisnring, und außerdem isch der Huat von obn bis unt, rundumamdum und überoll, mit gußeiserne Abzeichen bedeckt. Mir ischt der Huat amol auf die nackerte Zechn gfolln, ui, des hat wehtan. Nachher kamma scho glaubn, daß no vül weher tuat, wann an des Hüatl von der Höh trifft.« (Kopfstücke. In: Neue Kronen-Zeitung, 18.2.1995. S. 16)
17. Ich mußte Thea, so gut es ging, meiden, um sie nicht zu Lügen zu zwingen, die ihr weher taten als mir. (Martin Walser: Finks Krieg. Frankfurt a.M. 1996. S. 38)
18. Das tut weher als der Finger des übereifrigen Apothekers, der in einer Mausefalle hängen bleibt. (›Gaunerkomödie‹ wurde Trauerspiel. In: Rhein-Zeitung, 15.5.1996)
19. Das wiederholte Nicht-Siegen im Schnee tut umso weher, als wir den Balsam des Erfolges dringend gebraucht hätten, um die heurige Autorennsaison zu überstehen. (Ein hartes Jahr. In: Oberösterreichische Nachrichten, 18.2.1997. Ressort: Leben)
20. Mr. Dennis schwant da bereits, daß den Deutschen nichts weher tut als Unselbständigkeit und Unterschätzung. (Ein Ami auf Deutschlandtour in Thomas Frickels Dokumentarfilmsatire ›Deckname Dennis‹. In: Frankfurter Rundschau, 12.5.1997. S. 7. Ressort: Feuilleton)
21. Erst am nächsten Tag fühlte er das Messer im Herzen, und je mehr Zeit verging, desto weher tat es! (Szene aus der Hölle. In: Mannheimer Morgen, 20.3.1999. Ressort: Unterhaltung)
22. Frank Jung, Fußballtrainer bei TuS Koblenz: »Ich habe ihnen gesagt, lasst euch nicht hochheben, denn wenn wir fallen, tut es umso weher.« (»Der Erfolg stellt sich schon ein«. Rudi Krug, Trainer des A‑Ligisten SG Eitelborn / Neuhäusel. In: Rhein-Zeitung, 8.9.2000)
23. Das tat den abstiegsgefährdeten Stuttgartern weh. Weher als jede Blutgrätsche des blonden Währungsexperten aus Polen. (Christian Ewers: Währungsexperte. In: Berliner Zeitung, 11.12.2000. S. 40)
24. Umso weher tat deswegen die schallende Ohrfeige, die sich der Tabellenletzte aus der Kreisstadt einfing. (TVB-Katastrophe in Saarburg. In: Rhein-Zeitung, 21.1.2002)
25. Der Kopf tat ihr weh und immer weher, doch sie verbarg ihre Schwäche, ihre Sehnsucht, ihre Beklommenheit, und nicht einmal Daniel merkte ihr etwas an. (Nürnberger Zeitung, 1.7.2004 [Fortsetzungsroman])
26. Ich weiß nicht, was mir weher tut, der Schmerz im Auge oder die Scham und Wut, die ich unterdrücken muss. (Rhein-Zeitung, 21.8.2006 [Roman])
27. Weher tut zum Abschluss des geilen Sommermärchens der Zypern-Unfall. (Matt, schlaff, ausgelaugt. WM-Helden sind am Limit. In: Hamburger Morgenpost, 17.11.2006. S. 34)
Das mit “das tut mir mehr weh” könnte vielleicht auch daran liegen, dass die Sprecher “wehtun” als Verb betrachten, womit es sich so verhält wie das im Beitrag angesprochene erschöpft/erschöpfen-Beispiel… nur so ne Idee. (“Der Tod des Hamsters tut mir mehr leid als der meiner Schwiegermutter” vs. “Der Tod des Hamsters tut mir leider als der meiner Schwiegermutter”)
Mir scheint, dass es einen weiteren Grund für die Benutzung des Wortes “mehr” gibt: Auf diese Weise hat man ein Wort, das man mit Hilfe der Satzmelodie betonen kann, um die Bedeutung des Komparativs hervorzuheben, ohne die Bedeutung des Adjektivs in den Vordergrund zu stellen. Leider geht dieser Aspekt in der geschriebenen Form unter.
Ein ähnliches Problem besteht beim Lernen der deutschen Sprache für Franzosen: Sie können die Satzmelodie nicht zur Hervorhebung variieren und stellen den Satz im französischen zur Hervorhebung um: “J’étais au restaurant” -> “C’est moi, qui était au restaurant”
Was es natürlich gibt, ist die Verwendung von “mehr” statt “eher”, was manchmal vom Komparativ schwer zu unterscheiden ist.
Überrascht mich. Naja, danke…
Was ist mit noch?
Zu Herrn Marjanović’ Frage »Was ist mit noch?« (in Kommentar Nr. 8): A ist noch x‑er als B präsupponiert, daß B x ist. Bei A ist mehr x als B ist das (ebenso wie bei A ist x‑er als B) meines Erachtens nicht der Fall.
Ich hätte jetzt den Unterschied eher darin gesucht, daß “mehr”-Phrasen die ganze Prädikation modifizieren, nicht nur das Adjektiv. Also würde sich im ersten Satz das mehr auf “war nervös” beziehen, nicht nur auf “nervös”. Das kommt natürlich letzten Endes fast aufs Selbe raus, ist aber eine andere Konzeptualisierung.
Vielleicht ein bißchen wie der Unterschied “blauer sein” und “mehr blau” sein — das erste klingt für mich, als hätte etwas einen satteren Farbton — das Adjektiv wird also wirklich gesteigert -, das zweite kann aber mindestens noch die zweite Lesart haben, daß es an mehr Stellen blau ist — hier wird also der Bezug zwischen Subjekt und Prädikation gesteigert.
So etwas würde ich, jetzt spontan, auch bei Fällen wie “ich bin mehr durcheinander” vermuten — es erscheint uns komisch, daß der Zustand des Durcheinanderseins eine Abstufung kennt. Hingegen erscheint es nicht so seltsam, daß man an dem Zustand mehr oder weniger teilhaben kann.
Das hat wahrscheinlich auch diachrone Ursachen — es klingt wohl noch die alte PP mit (“durch einander”), die man ja nicht steigern kann (“Er lag mehr neben als auf der Matratze” — ja, aber “er lag nebener als auf der Matratze”?). Und das könnte auch der Grund sein, wieso das deverbale Adjektive ebenso die “mehr”-Form bevorzugen, da man im Deutschen ja Verben nicht morphologisch intensivieren kann.
Und dann gibt es noch die klassische Erklärung — “mehr nervös” ist schlicht auffälliger als “nervöser” und betont die Steigerung damit natürlich.
Vielen Dank für diesen interessanten und informativen Beitrag.
Ich lese dieses Blog schon länger still, bewundere aber immer wieder die intelligenten und zum Nachdenken anregenden Artikel und vor allem, dass auch in den Kommentaren richtig diskutiert wird.
Ich studiere selbst mit sprachwissenschaftlichen Schwerpunkt Deutsch, Englisch und nordeuropäische Sprachen und kann daher diese ganze Anglizismen-Panikmache ebenfalls nicht mehr hören.
Dieser Beitrag hat wirklich, wenn auch nur skizziert, angedeutet wie interessant solche Neuerungen sein können und welche feinen Abstufungen möglich sind, wenn man nicht gleich in “Sprachnörglerei” verfällt.
Bei dem hier angesprochenen Phänomen wäre ein komparatistischer Ansatz bestimmt auch sehr lohnenswert. Wenn man der Frage nachginge, wie die anderen germanischen Sprachen Adjektive steigern und welche Wandelprozesse dort gerade ablaufen.
Das Isländische z.B. steigert bei längeren Adjektiven auch mit “mehr”, ähnlich dem Englischen. Trotzdem würde kein Mensch auf die Idee kommen, von Islandismen zu sprechen.
Durcheinander würde ich mit ärger steigern, nie mit mehr. Das ist aber sicher was Regionales.
Danke, jetzt weiß ich endlich, wie ich *hust* “scheiße” *hust* steigern kann. Ob “mehr scheiße” im Endeffekt aber eine gute Lösung ist, mag ich zu bezweifeln! :p
Was ich aber eigentlich damit sagen wollte: Die Komparativbildung durch “mehr” scheint eine solch neue Entwicklung zu sein, dass sie bei mir, der da 20 Jahre alt ist, noch nicht angekommen ist. Interessant.