Grammatik ist mehr faszinierend als alles andere

Von Anatol Stefanowitsch

Vor ein paar Wochen habe ich im Fernse­hen beim Sender­sur­fen den fol­gen­den Satz gehört (ich weiß lei­der nicht mehr in welch­er Sendung, ich glaube, es war eine Krim­is­erie mit Laiendarstellern):

(1) Ich weiß gar nicht, wer mehr nervös war — er oder ich.

Der Satz kam mir komisch vor. Mehr nervös klingt wie eine umständliche und unkon­ven­tionelle Umschrei­bung für nervös­er.

Wäre ich ein Sprach­nör­gler, es wäre klar, was ich zu tun hätte: ich müsste mich über die „immer häu­figer zu beobach­t­en­den“ und „falschen“ Ver­gle­ichs­for­men von Adjek­tiv­en im Beson­deren und über junge Men­schen und das Pri­vat­fernse­hen im All­ge­meinen echauffieren und die Schuld für den Ver­fall der deutschen Sprache beim Englis­chen suchen, wo man ja schließlich auch more ner­vous sage.

Als Sprach­wis­senschaftler stelle ich zunächst nur fest, dass der Satz ungewöhn­lich klingt und nicht zu dem passt, was ich als deutsch­er Mut­ter­sprach­ler über die Bil­dung von Ver­gle­ichs­for­men im Deutschen weiß. Damit ist dann natür­lich meine Neugi­er geweckt: woher kommt diese ungewöhn­liche Form? War es ein vere­inzel­ter Fehler oder steckt dahin­ter System?

Das Inter­net bietet, neben Kred­itkarten­be­trug, Pornografie und Killer­spie­len, ja auch die größte Samm­lung von umgangssprach­lichem Deutsch, die der Sprach­wis­senschaft je zur Ver­fü­gung stand, und so habe ich mich entschlossen, eine kleine Studie durchzuführen. Ich ver­folge dabei zwei Hypothesen.

Erstens kommt mir die Ver­gle­ichs­form mit mehr (die „ana­lytis­che“ Ver­gle­ichs­form, wie sie sich im Englis­chen, aber auch in den roman­is­chen Sprachen find­et), bess­er vor, wenn sie auf soge­nan­nte „dever­balen“ (von Ver­ben abgeleit­ete) Adjek­tive angewen­det wird — (2a) klingt für mich bess­er als (2b), auch wenn bei bei­den Sätzen die syn­thetis­che Ver­gle­ichs­form natür­lich noch bess­er klingt (siehe (2c)):

(2a) Ich weiß nicht, wer mehr erschöpft war …

(2b) Ich weiß nicht, wer mehr kaputt war …

(2c) Ich weiß nicht, wer erschöpfter/kaputter war …

Zweit­ens kommt es mir so vor, dass — wie im Englis­chen — lange Adjek­tive eher die ana­lytis­che Ver­gle­ichs­form bevorzu­gen als kurze — (3a) klingt für mich bess­er als (3b):

(3a) Ich weiß nicht, wer mehr durcheinan­der war … (4 Silben)

(3b) Ich weiß nicht, wer mehr ver­wirrt war … (2 Silben)

Um eine für die Sprache im Inter­net repräsen­ta­tive Auswahl von Adjek­tiv­en zu erhal­ten, die sich steigern lassen, habe ich zunächst nach dem Muster “ich war total *” gesucht, und habe alle Adjek­tive weit­er­ver­wen­det, die in tausend Tre­f­fern für dieses Muster mehr als zweimal vorkommen.

Diese ins­ge­samt 54 Adjek­tive habe ich dann jew­eils in den Mustern (4a) und (4b) gesucht:

(4a) PRONOMEN ADJEK­TIV­er war

(4b) PRONOMEN mehr ADJEKTIV war

Die Ein­schränkung auf diese Muster hat zwei Gründe: Erstens kom­men sie dem Kon­text nahe, in dem ich die ungewöhn­liche Ver­gle­ichs­form ursprünglich gehört habe, und zweit­ens erzeu­gen sie weniger Fehltr­e­f­fer als z.B. mehr ADJEKTIV, bei dem man tausende von Tre­f­fern wie Ich bin jet­zt nicht mehr nervös erhält.

Siebzehn der 54 Adjek­tive kamen in keinem der bei­den Muster vor. Für die übri­gen 37 Adjek­tive habe ich jew­eils aus­gezählt, ob sie — in dem Muster in (4a/b) — häu­figer in der syn­thetis­chen oder häu­figer in der ana­lytis­chen Ver­gle­ichs­form auftreten. Auf diese Weise habe ich für jedes Adjek­tiv seine bevorzugte Ver­gle­ichs­form erhal­ten (die Meth­ode ist zugegeben­er­weise sehr sim­pel, aber zu mehr reicht meine Zeit nicht). Außer­dem habe ich für jedes Adjek­tiv fest­ge­hal­ten, ob es dever­bal ist (z.B. erschöpft von erschöpfen) oder nicht (z.B. kaputt), und wieviele Sil­ben es hat.

Sehen wir uns zunächst den Ein­fluss der Adjek­tivk­lasse (ein­fach vs. dever­bal) auf die bevorzugte Ver­gle­ichs­form an. Die bei­den Klassen unter­schei­den sich tat­säch­lich (vier Adjek­tive, bei denen bei­de For­men gle­ich häu­fig waren, habe ich hier und im Fol­gen­den weggelassen):

Synthetische und analytische Vergleichsformen von einfachen und deverbalen Adjektiven

Syn­thetis­che und ana­lytis­che Ver­gle­ichs­for­men von ein­fachen und dever­balen Adjektiven

Bei den ein­fachen (echt­en) Adjek­tiv­en bevorzugt die klare Mehrzahl die syn­thetis­che Ver­gle­ichs­form, nur drei der vierzehn Adjek­tive kamen häu­figer mit der ana­lytis­chen Ver­gle­ichs­form vor. Bei den dever­balen Adjek­tiv­en ist das Ver­hält­nis fast aus­geglichen, die ana­lytis­che Kom­pa­ra­tion wird von beina­he ebenso­vie­len Adjek­tiv­en bevorzugt, wie die synthetische.

Obwohl der quan­ti­ta­tive Unter­schied nicht sta­tis­tisch sig­nifikant ist (Fish­er-Yates, p=0,19), ist das Ergeb­nis doch vielver­sprechend. Es ist nicht unwahrschein­lich, dass sich bei ein­er größeren Stich­probe (oder ein­er dif­feren­ziert­eren Kat­e­gorisierung der Adjek­tive bezüglich ihrer bevorzugten Ver­gle­ichs­form) ein sig­nifikantes Ergeb­nis erzie­len lässt.

Wenn es sich bestätigt, kön­nte dieser Effekt darauf zurück­zuführen sein, dass Sprech­er Sätze wie (2a) ana­log zu Sätzen ver­wen­den, in denen statt des dever­balen Adjek­tivs tat­säch­lich ein Verb ste­ht, also z.B. (5a):

(5a) Ich weiß nicht, wen die Diskus­sion mehr erschöpft hat…

Bei ein­fachen Adjek­tiv­en, wie in (2b), gibt es keinen entsprechen­den Satz, der zur Inter­pre­ta­tion herange­zo­gen wer­den könnte.

Bei der Länge gibt es einen deut­licheren Effekt. Die meis­ten Adjek­tive in der Stich­probe haben zwei oder drei Sil­ben, nur vier Adjek­tive haben eine Silbe und nur zwei haben vier Sil­ben. Für die Analyse habe ich mich auf die zwei- und dreisil­bi­gen Adjek­tive beschränkt. Das Ergeb­nis ist ein­deutig und ver­fehlt nur knapp die Schwelle zur sta­tis­tis­chen Sig­nifikanz (Fish­er-Yates, p = 0,056):

Synthetische und analytische Vergleichsformen von zwei- und dreisilbigen Adjektiven

Syn­thetis­che und ana­lytis­che Ver­gle­ichs­for­men von zwei- und dreisil­bi­gen Adjektiven

Die Mehrzahl der zweisil­bi­gen Adjek­tive wird in dem Muster in (4a/b) syn­thetisch ver­glichen, die Mehrzahl der dreisil­bi­gen Adjek­tive dage­gen analytisch.

Es gibt in der Stich­probe allerd­ings eine Kom­p­lika­tion: die meis­ten echt­en Adjek­tive sind zweisil­big, während die dever­balen Adjek­tive je etwa zur Hälfte zwei- und dreisil­big sind. Es wäre deshalb möglich, dass der Fak­tor Adjek­tivk­lasse den Fak­tor Sil­ben­länge verz­er­rt. Ich habe deshalb die gle­iche Analyse noch ein­mal auss­chließlich für die dever­balen Adjek­tive durchge­führt. Sta­tis­tis­che Sig­nifikanz lässt sich auf­grund der kleinen Daten­menge nicht mehr erzie­len (Fish­er-Yates, p=0,17), aber die Ergeb­nisse zeigen das gle­iche Muster:

Synthetische und analytische Vergleichsformen von zwei- und dreisilbigen deverbalen Adjektiven

Syn­thetis­che und ana­lytis­che Ver­gle­ichs­for­men von zwei- und dreisil­bi­gen dever­balen Adjektiven

Es gibt beim Zusam­men­hang zwis­chen Wortlänge und Ver­gle­ichs­form also tat­säch­lich eine inter­es­sante Par­al­lele zum Englis­chen. Man kön­nte jet­zt natür­lich „Denglisch“ schreien und über den zer­störerischen Ein­fluss der englis­chen Sprache auf die Gram­matik des Deutschen kla­gen. Aber ich glaube nicht, dass es sich hier um einen Ein­fluss aus dem Englis­chen han­delt: Um ein gradu­elles Muster bevorzugter Ver­gle­ichs­for­men unbe­wusst aus dem Englis­chen ins Deutsche zu übergtra­gen, müsste man es zunächst im Englis­chen völ­lig verin­ner­licht haben. Ich bezwei­fle aber, dass die Englis­chken­nt­nisse deutsch­er Mut­ter­sprach­ler ins­ge­samt detail­liert genug sind, damit eine aus­re­ichend große Zahl von Sprech­ern diese Über­tra­gung vornehmen kön­nte. Stattdessen ver­mute ich, dass im Deutschen und in Englis­chen dieselbe uni­verselle Strate­gie hin­ter der Ver­wen­dung der ana­lytis­chen Ver­gle­ichs­form steckt, näm­lich, Kom­plex­ität zu reduzieren indem man es, wenn möglich, ver­mei­det, über­mößig lange Wörter durch Affixe noch länger zu machen.

Ich hoffe, ich habe gezeigt, dass ein Satz, der einem merk­würdig auf­stößt, kein Anstoß zur Sprach­nörgelei sein muss. Er kann auch Anlass für eine Expe­di­tion in die Funk­tion­sweisen gram­ma­tis­ch­er Sys­teme sein.

PS. Falls unter den Leser/innen jemand ist, der/die mehr über dieses Phänomen weiß (vielle­icht sog­ar Lit­er­atur dazu ken­nt) und der/die Lust, Zeit und die nötige Fachkom­pe­tenz hat, daran zu arbeit­en — ich wäre an ein­er Zusam­me­nar­beit inter­essiert und würde mich über eine Email freuen.

PPS. Die Bewer­bungs­frist für den Bremisch-Old­en­bur­gis­chen Mas­ter­stu­di­en­gang Lan­guage Sci­ences ist bis zum 15. Sep­tem­ber ver­längert wor­den. Wer einen BA in Sprach­wis­senschaften, ein­er Philolo­gie (Ger­man­is­tik, Anglis­tik, Slaw­is­tik, Roman­is­tik, etc.) oder ein­er anderen rel­e­van­ten Bezugswis­senschaft hat und sich inten­siv­er mit Sprache beschäfti­gen möchte, find­et hier Kon­tak­tadressen und rel­e­vante Links.

Dieser Beitrag wurde unter Bremer Sprachblog abgelegt am von .

Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

13 Gedanken zu „Grammatik ist mehr faszinierend als alles andere

  1. Frank Oswalt

    Inter­es­sant, ich habe früher mal kon­trastive Lin­guis­tik (Deutsch-Englisch) betrieben, aber dass das Deutsche diese Art eines Kom­par­a­tivs hat, ist mir nie aufge­fall­en. Eine andere Frage: Wie kann man in R (das ist doch R?) die Werte über die Säulen schreiben?

    Antworten
  2. Jens

    Also, ich muss sagen, ich finde, (2a) und (2b) klin­gen bess­er als (2c). Ich würde niemals sagen „Ich bin mehr groß als du.“, mit „erschöpft“ kön­nte ich mir das schon vorstellen. Außer­dem ist „erschöpft“ ein­fach kein Wort, das man nor­maler­weise steigert: „Hey, ich bin erschöpfter als du.“ – sowas sagt man nicht. Entwed­er ist man erschöpft oder oder man ist es nicht. So richtig kann man da keine Nuan­cen bilden.

    Vielle­icht ist das „mehr erschöpft“ so etwas wie das „aller­größte“? „Du sagst zwar, du seist der Größte, aber ich bin der Aller­größte.“ – „Wir sind zwar bei­de erschöpft, aber du bist bes­timmt mehr erschöpft als ich (weil du nicht so gut trainiert bist).“ – und während ich diese Zeilen schreibe, bin ich schon wieder am Zweifeln: „erschöpfter“ würde ich in diesem Satz auch sagen (aber bei­des unge­fähr gle­ich­berechtigt, eben­so bei „kaputt).

    Und sollte es etwas regionales sein: Ich komme aus Westsachsen.

    Jens

    Antworten
  3. David Marjanović

    Aufge­fall­en ist mir bish­er nur das tut mehr weh, und hier gibt es keine Alternative.

    Ana­lytis­che Kom­par­a­tive mit ärg­er oder noch ärg­er ver­wende ich allerd­ings gelegentlich.

    Mehr kaputt” ist für mich schlicht und ergreifend falsch. “Mehr faszinierend” übri­gens auch.

    Durcheinan­der­er” aber eben­falls… kön­nte am -erer liegen…

    Antworten
  4. David Konietzko

    Herr Mar­janović schreibt in Nr. 4:

    Aufge­fall­en ist mir bish­er nur das tut mehr weh, und hier gibt es keine Alternative.

    Für andere Sprech­er gibt es die Alter­na­tive das tut weher. Hier einige Belege von 1697 bis 2006 (aus den IDS- und DWDS-Cor­po­ra und dem DWb.):

    1. damit der her­zog von Savoien ein spiegelfecht­en mit dem marechal de Cati­nat in Piemont anstellen, sel­bigem aber nicht viel weher thun solte, als wenn die Lucas- und Mar­cus­brüder mit ihrer fed­er­fechterei sich die köpfe ein wenig blutig schla­gen (Hein­rich Anselm von Ziegler und Kliphausen: des träu­menden Pasqui­ni kluger staat­sphan­tasien über den jet­zi­gen ver­wirrten zus­tand der Welt erste – dritte erschei­n­ung. Freiburg 1697. S. 323; zitiert nach: DWb., Bd. 10.1, Sp. 2.246)

    2. [U]m desto weher tat es mir, wenn mich gar oft das Per­son­al an Aus­führung großer Sachen hin­derte. (Goethe: Wil­helm Meis­ters Lehr­jahre. [Erstveröf­fentlichung 1795–1796.] In: Goethes Werke, Bd. 7. München 1982. S. 24)

    3. [J]e mehr sich aber mein Entzück­en steigerte, desto weher tat es mir, sie nicht unmit­tel­bar besuchen, sie nicht wieder sehen und sprechen zu kön­nen: […]. (Goethe: Aus meinem Leben. Dich­tung und Wahrheit [I–III]. [Geschrieben 1809–1813.] In: Goethes Werke, Bd. 9. München 1982. S. 171)

    4. je weit­er aufwärts er [der Sprach­forsch­er] klim­men kann, desto schön­er und vol­lkomm­n­er dünkt ihn die leib­liche gestalt der sprache, je näher ihrer jet­zi­gen fas­sung er tritt, desto weher thut ihm jene macht und gewandtheit der form in abnahme und ver­fall zu find­en. (Jacob Grimm: [Vorrede zum ersten Band des Deutschen Wörter­buch­es]. 1854)

    5. es müszte mir erst noch weher thun, der physis­che und der see­len­hunger noch schär­fer an mir nagen. (Paul Heyse: Kinder der Welt. Roman in sechs Büch­ern. Berlin 1873; zietiert nach: DWb., Bd. 10.1, Sp. 17)

    6. Das war ein har­ter Schlag, und ich war Ihnen zuerst beinah böse, denn nichts tut weher, als liebe Götzen zu ver­lieren. (Elis­a­beth von Heyk­ing: Briefe, die ihn nicht erre­icht­en. Berlin: Pae­tel 1903 [1902]. S. 32.321 [?])

    7. Aber ist es nicht doch schon zugle­ich der Anfang ein­er trau­ri­gen Gefüh­llosigkeit, beina­he Roheit, oder wie ist es möglich, daß es mir weher tut, meine eigene Vere­in­samung zu tra­gen, als der Anblick des Lei­ds so viel­er ander­er? (Brief von Franz Blu­men­feld vom 14.10.1914. In: Philipp Witkop [Hrsg.]: Kriegs­briefe gefal­l­en­er Stu­den­ten. Leipzig: Teub­n­er 1918. S. 23)

    8. Noch weher aber tat es, den Sohn in schmer­zlichen Kämpfen zu wis­sen … (Ida Boy-Ed: Vor der Ehe. Berlin: Ull­stein 1915. S. 8.336 [?])

    9. In seinen jun­gen Jahren meinte er, ein Kom­pon­ist zu sein, und weil man ihn nur ›halb mit Erbar­men lobte‹, was viel weher tut als ein gesun­der Tadel, zog er sich ver­let­zt zurück. (Alois Wohlmuth: Ein Schaus­piel­er­leben. Ungeschmink­te Selb­stschilderun­gen von Alois Wohlmuth. München: Par­cus 1928. S. 75.610 [?])

    10. Es hätte dem Toten nicht weher tun kön­nen als mir. (Anna Seghers: Tran­sit. Kon­stanz: Weller 1943. S. 143)

    11. »Das tut mir weh«, sagte Lysiane. Je weher, desto bess­er. (Ernst Kreud­er: Die Gesellschaft vom Dachbo­den. Stuttgart: Rowohlt 1946. S. 96)

    12. Opfere dich, schöne Hure, das Ster­ben tut dir nicht weher als uns! (Wolf von Niebelschütz: Der blaue Kam­mer­herr. Frank­furt a.M.: Suhrkamp 1949. S. 197)

    13. Hin und wieder müssen wir es mit der Peitsche trac­tieren, das tut uns weher als ihm, und jet­zt wird gepeitscht. (Wolf von Niebelschütz: Der blaue Kam­mer­herr. Frank­furt a.M.: Suhrkamp 1949. S. 674)

    14. Ein Zusam­men­stoß infolge schlechter Sicht tut aber noch viel weher! (Alexan­der Spo­erl: Mit dem Auto auf Du. München: Piper 1953. S. 184)

    15. Am späten Nach­mit­tag, als Wolf das Kreuz noch weher tat als die Füße, kamen sie durch einen niederen Durch­laß auf einen winzi­gen alten Platz. (Mar­tin Walser: Dor­le und Wolf. Frank­furt a.M. 1987. S. 87)

    16. Ein Tirol­er Förster: »Solch­ene Kratzer und Abschür­fun­gen, wia si der Herr Zeige ghabt hat, sein schon meglich, bei mein Huat. Des Hüatl ischt so um die dreißig Johr olt, des innere Leder­bond isch scho hort wia a Eis­nring, und außer­dem isch der Huat von obn bis unt, run­du­mam­dum und überoll, mit gußeis­erne Abze­ichen bedeckt. Mir ischt der Huat amol auf die nack­erte Zechn gfolln, ui, des hat wehtan. Nach­her kam­ma scho glaubn, daß no vül weher tuat, wann an des Hüatl von der Höh trifft.« (Kopf­stücke. In: Neue Kro­nen-Zeitung, 18.2.1995. S. 16)

    17. Ich mußte Thea, so gut es ging, mei­den, um sie nicht zu Lügen zu zwin­gen, die ihr weher tat­en als mir. (Mar­tin Walser: Finks Krieg. Frank­furt a.M. 1996. S. 38)

    18. Das tut weher als der Fin­ger des übereifrigen Apothek­ers, der in ein­er Mause­falle hän­gen bleibt. (›Gaunerkomödie‹ wurde Trauer­spiel. In: Rhein-Zeitung, 15.5.1996)

    19. Das wieder­holte Nicht-Siegen im Schnee tut umso weher, als wir den Bal­sam des Erfolges drin­gend gebraucht hät­ten, um die heurige Autorenn­sai­son zu über­ste­hen. (Ein hartes Jahr. In: Oberöster­re­ichis­che Nachricht­en, 18.2.1997. Ressort: Leben)

    20. Mr. Den­nis schwant da bere­its, daß den Deutschen nichts weher tut als Unselb­ständigkeit und Unter­schätzung. (Ein Ami auf Deutsch­land­tour in Thomas Frick­els Doku­men­tarfilm­satire ›Deck­name Den­nis‹. In: Frank­furter Rund­schau, 12.5.1997. S. 7. Ressort: Feuilleton)

    21. Erst am näch­sten Tag fühlte er das Mess­er im Herzen, und je mehr Zeit verg­ing, desto weher tat es! (Szene aus der Hölle. In: Mannheimer Mor­gen, 20.3.1999. Ressort: Unterhaltung)

    22. Frank Jung, Fußball­train­er bei TuS Koblenz: »Ich habe ihnen gesagt, lasst euch nicht hochheben, denn wenn wir fall­en, tut es umso weher.« (»Der Erfolg stellt sich schon ein«. Rudi Krug, Train­er des A‑Ligisten SG Eit­el­born / Neuhäusel. In: Rhein-Zeitung, 8.9.2000)

    23. Das tat den abstiegs­ge­fährde­ten Stuttgartern weh. Weher als jede Blut­grätsche des blonden Währung­sex­perten aus Polen. (Chris­t­ian Ewers: Währung­sex­perte. In: Berlin­er Zeitung, 11.12.2000. S. 40)

    24. Umso weher tat deswe­gen die schal­lende Ohrfeige, die sich der Tabel­len­let­zte aus der Kreis­stadt ein­f­ing. (TVB-Katas­tro­phe in Saar­burg. In: Rhein-Zeitung, 21.1.2002)

    25. Der Kopf tat ihr weh und immer weher, doch sie ver­barg ihre Schwäche, ihre Sehn­sucht, ihre Bek­lom­men­heit, und nicht ein­mal Daniel merk­te ihr etwas an. (Nürn­berg­er Zeitung, 1.7.2004 [Fort­set­zungsro­man])

    26. Ich weiß nicht, was mir weher tut, der Schmerz im Auge oder die Scham und Wut, die ich unter­drück­en muss. (Rhein-Zeitung, 21.8.2006 [Roman])

    27. Weher tut zum Abschluss des geilen Som­mer­märchens der Zypern-Unfall. (Matt, schlaff, aus­ge­laugt. WM-Helden sind am Lim­it. In: Ham­burg­er Mor­gen­post, 17.11.2006. S. 34)

    Antworten
  5. Patrick Schulz

    Das mit “das tut mir mehr weh” kön­nte vielle­icht auch daran liegen, dass die Sprech­er “wehtun” als Verb betra­cht­en, wom­it es sich so ver­hält wie das im Beitrag ange­sproch­ene erschöpft/er­schöpfen-Beispiel… nur so ne Idee. (“Der Tod des Ham­sters tut mir mehr leid als der mein­er Schwiegermut­ter” vs. “Der Tod des Ham­sters tut mir lei­der als der mein­er Schwiegermutter”)

    Antworten
  6. Wentus

    Mir scheint, dass es einen weit­eren Grund für die Benutzung des Wortes “mehr” gibt: Auf diese Weise hat man ein Wort, das man mit Hil­fe der Satzmelodie beto­nen kann, um die Bedeu­tung des Kom­par­a­tivs her­vorzuheben, ohne die Bedeu­tung des Adjek­tivs in den Vorder­grund zu stellen. Lei­der geht dieser Aspekt in der geschriebe­nen Form unter.

    Ein ähn­lich­es Prob­lem beste­ht beim Ler­nen der deutschen Sprache für Fran­zosen: Sie kön­nen die Satzmelodie nicht zur Her­vorhe­bung vari­ieren und stellen den Satz im franzö­sis­chen zur Her­vorhe­bung um: “J’é­tais au restau­rant” -> “C’est moi, qui était au restaurant”

    Antworten
  7. David Marjanović

    Was es natür­lich gibt, ist die Ver­wen­dung von “mehr” statt “eher”, was manch­mal vom Kom­par­a­tiv schw­er zu unter­schei­den ist.

    Für andere Sprech­er gibt es die Alter­na­tive das tut weher.

    Über­rascht mich. Naja, danke…

    Mir scheint, dass es einen weit­eren Grund für die Benutzung des Wortes “mehr” gibt: Auf diese Weise hat man ein Wort, das man mit Hil­fe der Satzmelodie beto­nen kann, um die Bedeu­tung des Kom­par­a­tivs her­vorzuheben, ohne die Bedeu­tung des Adjek­tivs in den Vorder­grund zu stellen.

    Was ist mit noch?

    Antworten
  8. David Konietzko

    Zu Her­rn Mar­janović’ Frage »Was ist mit noch?« (in Kom­men­tar Nr. 8): A ist noch x‑er als B prä­sup­poniert, daß B x ist. Bei A ist mehr x als B ist das (eben­so wie bei A ist x‑er als B) meines Eracht­ens nicht der Fall.

    Antworten
  9. P. Frasa

    Ich hätte jet­zt den Unter­schied eher darin gesucht, daß “mehr”-Phrasen die ganze Prädika­tion mod­i­fizieren, nicht nur das Adjek­tiv. Also würde sich im ersten Satz das mehr auf “war nervös” beziehen, nicht nur auf “nervös”. Das kommt natür­lich let­zten Endes fast aufs Selbe raus, ist aber eine andere Konzeptualisierung.

    Vielle­icht ein bißchen wie der Unter­schied “blauer sein” und “mehr blau” sein — das erste klingt für mich, als hätte etwas einen sat­teren Farbton — das Adjek­tiv wird also wirk­lich gesteigert -, das zweite kann aber min­destens noch die zweite Lesart haben, daß es an mehr Stellen blau ist — hier wird also der Bezug zwis­chen Sub­jekt und Prädika­tion gesteigert.

    So etwas würde ich, jet­zt spon­tan, auch bei Fällen wie “ich bin mehr durcheinan­der” ver­muten — es erscheint uns komisch, daß der Zus­tand des Durcheinan­der­seins eine Abstu­fung ken­nt. Hinge­gen erscheint es nicht so selt­sam, daß man an dem Zus­tand mehr oder weniger teil­haben kann.

    Das hat wahrschein­lich auch diachrone Ursachen — es klingt wohl noch die alte PP mit (“durch einan­der”), die man ja nicht steigern kann (“Er lag mehr neben als auf der Matratze” — ja, aber “er lag neben­er als auf der Matratze”?). Und das kön­nte auch der Grund sein, wieso das dever­bale Adjek­tive eben­so die “mehr”-Form bevorzu­gen, da man im Deutschen ja Ver­ben nicht mor­phol­o­gisch inten­sivieren kann.

    Und dann gibt es noch die klas­sis­che Erk­lärung — “mehr nervös” ist schlicht auf­fäl­liger als “nervös­er” und betont die Steigerung damit natürlich.

    Antworten
  10. Christine A.

    Vie­len Dank für diesen inter­es­san­ten und infor­ma­tiv­en Beitrag. 

    Ich lese dieses Blog schon länger still, bewun­dere aber immer wieder die intel­li­gen­ten und zum Nach­denken anre­gen­den Artikel und vor allem, dass auch in den Kom­mentaren richtig disku­tiert wird.

    Ich studiere selb­st mit sprach­wis­senschaftlichen Schw­er­punkt Deutsch, Englisch und nordeu­ropäis­che Sprachen und kann daher diese ganze Anglizis­men-Panikmache eben­falls nicht mehr hören.

    Dieser Beitrag hat wirk­lich, wenn auch nur skizziert, angedeutet wie inter­es­sant solche Neuerun­gen sein kön­nen und welche feinen Abstu­fun­gen möglich sind, wenn man nicht gle­ich in “Sprach­nör­glerei” verfällt.

    Bei dem hier ange­sproch­enen Phänomen wäre ein kom­para­tis­tis­ch­er Ansatz bes­timmt auch sehr lohnenswert. Wenn man der Frage nachgin­ge, wie die anderen ger­man­is­chen Sprachen Adjek­tive steigern und welche Wan­del­prozesse dort ger­ade ablaufen.

    Das Isländis­che z.B. steigert bei län­geren Adjek­tiv­en auch mit “mehr”, ähn­lich dem Englis­chen. Trotz­dem würde kein Men­sch auf die Idee kom­men, von Islandis­men zu sprechen.

    Antworten
  11. Victor Persien

    Danke, jet­zt weiß ich endlich, wie ich *hust* “scheiße” *hust* steigern kann. Ob “mehr scheiße” im End­ef­fekt aber eine gute Lösung ist, mag ich zu bezweifeln! :p

    Was ich aber eigentlich damit sagen wollte: Die Kom­par­a­tiv­bil­dung durch “mehr” scheint eine solch neue Entwick­lung zu sein, dass sie bei mir, der da 20 Jahre alt ist, noch nicht angekom­men ist. Interessant.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.