Sprache als Werkzeug oder Zuflucht

Von Anatol Stefanowitsch

In der Schule ler­nen wir, Sprachen, vor allem fremde, als kom­mu­nika­tives Werkzeug zu betra­cht­en — als Mit­tel zur Ver­ständi­gung oder als Tor zu anderen Kul­turen. Für diejeni­gen von uns, die ihr Leben der Beschäf­ti­gung mit Sprache und Sprachen wid­men, sind Sprachen aber häu­fig weniger als das, und gle­ichzeit­ig viel mehr. Helen De Witt bringt es auf den Punkt:

I think there are peo­ple who like lan­guages who don’t nec­es­sar­i­ly want to com­mu­ni­cate with oth­er peo­ple, they just like the medi­um. I have a feel­ing I’m like that most of the time. I like lan­guages for their gram­mat­i­cal idio­syn­crasies — when I come across a rare verb form in Ara­bic it makes me laugh out loud. I like the dif­fer­ent ways they sound, the way Slav­ic lan­guages are chewy, the way Span­ish and Scots use rolled r’s for a sort of ver­bal pin­ball, the way Dan­ish has a sort of arch­i­pel­ago of half-sub­merged con­so­nants. […] Part of the attrac­tion of a dif­fer­ent lan­guage, though, is that the mind, immersed in this new medi­um, finds the pos­si­bil­i­ty of a dif­fer­ent self. When peo­ple do ugly things they don’t use a sep­a­rate lan­guage for them — so the words we use every day, ‘if’, ‘and’, ‘the’, ‘but’, ‘you’, bring back mem­o­ries of that ugli­ness. If you escape into a dif­fer­ent lan­guage you leave all those ordi­nary words behind; the words of the new lan­guage are inno­cent, harm­less, have no his­to­ry. [Aus einem Inter­view mit Joey Comeau]

Ich glaube, dass es Men­schen gibt, die Sprachen mögen ohne deshalb unbe­d­ingt mit anderen Men­schen kom­mu­nizieren zu wollen — sie mögen ein­fach das Medi­um. Ich denke, so ist es meis­tens bei mir. Ich mag Sprachen wegen ihrer gram­ma­tis­chen Eige­narten — wenn mir eine sel­tene ara­bis­che Verb­form begeg­net, bringt mich das zum Lachen. Ich mag die unter­schiedlichen Arten, wie sie klin­gen — wie die slavis­chen Sprachen klin­gen, als ob man sie kaue, wie das Spanis­che oder Schot­tis­che das R in ein­er Art sprach­lichem Flip­per­spiel rollen lassen, oder wie das Dänis­che eine Art Archipel halb ver­sunken­er Kon­so­nan­ten besitzt … Ein Teil der Anziehungskraft ein­er frem­den Srache ist es, dass der Geist, einge­taucht in dieses neue Medi­um, die Möglichkeit eines anderen Selb­st find­et. Wenn Men­schen hässliche Dinge tun, ver­wen­den sie dafür keine andere Sprache, deshalb brin­gen die Wörter, die wir jeden Tag ver­wen­den — wenn, und, das, aber, du –, die Erin­nerun­gen an diese Hässlichkeit zurück. Wenn man in eine fremde Sprache ent­flieht, lässt man all diese gewöhn­lichen Wörter hin­ter sich; die Wörter in der neuen Sprache sind unschuldig, harm­los, haben keine Geschichte.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

4 Gedanken zu „Sprache als Werkzeug oder Zuflucht

  1. SuMuze

    Nicht, wer das Buch nicht ken­nt, auf das sich die Un-Worte oben beziehen.

    (Trilo­gie des laufend­en Schwachsinns, Eck­hard Hen­scheid, Bd. 2: Geht in Ord­nung — sowieso — genau)

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