Wenn ich bei meiner wöchentlichen Suche nach Sprachblogbarem auf eine „Glosse“ stoße, weiß ich, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit einen dicken Fisch am Haken habe. Definiert ist das Wort Glosse ja eigentlich als „kurzer, spöttischer Artikel (in der Zeitung)“ (so das Bertelsmann-Wörterbuch), aber meiner Erfahrung nach bedeutet es eher so etwas wie „uninformiertes, schlecht abgeschriebenes und selbstgefälliges Geschwätz (in der Zeitung)“.
So auch in einer Glosse, die ich dieser Tage auf auto.de entdeckt habe. Ein nur durch sein Kürzel (ar/Sm) und ein Foto identifizierbarer, mir aber nicht bekannter Glossist lässt sich darin über die Sprache im Allgemeinen und ihren Verfall im Besonderen aus und schafft es dabei, so fehlinformiert und irrelevant daherzuschwafeln, dass Bastian Sick dagegen wie Noam Chomsky wirkt. ar/Sm beginnt mit einem Phänomen, das mir bislang als Objekt sprachnörglerischem Federspreizens unbekannt war:
Stellen Sie sich das einmal vor: Ein Jahr lang umsonst tanken. Ein persönliches Drama wäre das, wenn man nach einem Jahr mit der Zapfpistole in der Hand feststellt, dass alles vergeblich war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Verlag, der damit zur Zeit im Fernsehen wirbt, viele locken kann, es sei denn, er meint, der Gewinner könne für die Dauer eines Jahres sein Auto immer wieder auftanken — kostenlos und eben nicht umsonst.
Ja, der gute alte Kostenlos-Umsonst-Kalauer. Dass der inzwischen Gegenstand der Sprachkritik ist, ist mir neu. Wie jeder deutsche Muttersprachler weiß, hat das Wort umsonst drei Bedeutungen:
um|sonst [Adv.] 1 unentgeltlich, kostenlos; etwas u. bekommen 2 vergeblich; u. warten 3 nicht ohne Grund; er ist nicht u. Psychologe [Bertelsmann-Wörterbuch]
Mit Mehrdeutigkeit kann der Sprachnörgler ja gemeinhin nicht gut umgehen, aber glaubt ar/Sm wirklich, dass irgendjemand hier in der echten Welt in diesem Kontext auf eine der unpassenden Bedeutungen von umsonst kommen könnte?
Er wendet sich dann dem Brauch der Gratulation zu:
Zu einem solchen Gewinn möchte man dann gratulieren. Aber wahrscheinlich wird dem Glücklichen bei der Übergabe der Gutschein mit einem „herzlichem Glückwunsch“ überreicht. Dabei hat er ja gerade großes Glück erfahren. Da muss man ihm ja nicht sofort noch mehr wünschen. Aber gratulieren könnte man ihm.
Die Logik hier muss wohl sein, dass ar/Sm jemandem „gratuliert“, wenn der eine Leistung erbracht hat, und ihm einen „herzlichen Glückwunsch“ nur dann ausspricht, wenn er ihm Glück für die Zukunft wünscht. Damit hat er den allgemein akzeptierten Sprachgebrauch gegen sich — Gratulationen und Glückwünsche sind schon immer dasselbe gewesen. Glück für die Zukunft wünscht man dagegen mit der Redewendung Viel Glück. Viel Glück bei deiner Prüfung morgen ist normales Deutsch, Herzlichen Glückwunsch zu deinen Prüfung morgen würde suggerieren, dass der Sprecher in die Zukunft sehen kann.
Ich weiß nicht, ob der vermeintliche Unterschied zwischen Glückwunsch und Gratulation zum Standardrepertoire der Sprachnörgler gehört, aber Die Welt ist eine GoogleTM, und nach etwas Suchen habe ich diese etwas schrullige aber irgendwie sympathische Abhandlung gefunden, deren Autor das gesamte System deutscher Grußformeln reformieren möchte.
Dann wagt sich ar/Sm an den sonst von Sprachhütern gerne gemiedenen Bereich der Grammatik heran, allerdings mit einer erstaunlichen Behauptung:
Bei anderer Gelegenheit beim Umgang mit Medien fällt auf, dass selbst seriöse Institute wie die Deutsche Presseagentur offenbar bewusst Grammatik schlabbern. Seit Jahren haben sie die Vorvergangenheit umgebracht und können sich maximal bis zum Perfekt, aber nicht zum Plusquamperfekt durchringen. Das Sortieren der Ereignisse nach ihrem zeitlichen Ablauf und damit die Darstellung von Zusammenhängen bleiben so in Nachrichten auf der Strecke.
Das ist zunächst faktisch falsch: das Plusquamperfekt ist in der Pressesprache quicklebendig. Die folgenden Beispiele habe ich innerhalb einer Minute in von Google News innerhalb von dreißig Minuten indizierten Meldungen gefunden:
- Schaeffler und Conti hatten am Mittwoch in dem seit Wochen andauernden Übernahmekampf ihre Bereitschaft zu einer friedlichen Einigung signalisiert (Gießener Allgemeine)
- Zwar hatten die russischen Truppen vergangene Woche Georgien im Süden – und nicht die EU im Westen – des Moskauer Erdgas-Zarenreiches angegriffen… (Wiener Zeitung)
- Die Analysten hatten für ihre Schätzungen unter anderem die US-Apple-Stores 25 Stunden lang beobachtet und die Verkäufe gezählt. (Passauer Neue Presse)
- Ermittler hatten die Geschäfts- und Privaträume des damaligen Deutsche-Post-Chefs Klaus Zumwinkel durchsucht… (Hannoversche Allgemeine)
- Ehemalige Maxfield-Mitarbeiter hatten dagegen schon früher behauptet, private Ausgaben der Pooths seien von Maxfield bezahlt worden. (Heidenheimer Neue Presse)
- Medien hatten berichtet, er habe seine Mutter und Schwester in einem Luxushotel in London angegriffen. (Hertener Allgemeine)
- Volkswirte hatten mit 62,0 Punkten gerechnet. (Reuters)
- Anfang Februar hatten die Rebellen aus ihren Lagern im Sudan kommend die Hauptstadt angegriffen und den Präsidenten in seinem Palast umzingelt. (Zisch)
Zudem meine ich mich zu erinnern, dass der weise alte Mann der sprachlichen Benimmregeln, Wolf Schneider, in „Deutsch für Profis“ gerade das Gegenteil beklagt: zuviel Plusquamperfekt, das man lieber vermeiden sollte, weil es umständlich klingt. Ist das jetzt der Anfang eines Temporalen Kalten Krieges unter Sprachnörglern?
Wo ar/Sm ohnehin gerade die Agenturen am Schlafittchen hat, versucht er ihnen gleich noch ein sprachliches Verbrechen anzuhängen:
Dafür haben dieselbe Agentur in Verbindung mit vielen Freiwilligen einen neuen Menschen erschaffen: die Rettungskraft. Da vernimmt man in den Nachrichten erstaunt, dass 120 Rettungskräfte eingesetzt worden seien. Früher war der Begriff „Rettungskräfte“ einer, der als Summe alle Feuerwehrleute, Sanitäter, Notärzte, Helfer des THW und was sonst noch am Ort des Geschehens war umfasste, einerlei wie viele Helfer dort waren.
Das Wort Rettungskraft ist sehr selten, aber es existiert tatsächlich. Allerdings bezweifle ich, dass es die „Agenturen“ erfunden haben, sonst würde sich in Google News wohl wenigstens ein Treffer (außer der Glosse selbst) finden. Mir gefällt diese Rückbildung eigentlich ganz gut: so hat man eine Bezeichnung für ein einzelnes Mitglied der Rettungskräfte, dass man verwenden kann, wenn man nicht weiß, ob es sich um einen Polizisten, Sanitäter oder Feuerwehrmann handelt.
Dann kommt ar/Sm auf die Schuldigen zu sprechen, und das sind dann doch nicht seine Kollegen in den Agenturen — es ist die Jugend:
Vorschnell ist die Jugend mit dem Wort. Was soll’s. Schließlich läuft gerade die Olympiade — oder waren es die „olympischen Spiele“? Bevor mich nun jemand als lernunwilligen Oldie outet, flüchte ich doch lieber für den Rest des Textes in deutsche Anglizismen, werfe mein Handy in den Bodybag und begebe mich zum Public Viewing, wohl wissend, dass diese Begriffe nur in Deutschland verstanden werden, weil sie hier erfunden wurden.
Ja, das Handy, der Bodybag und das Public Viewing. Gut, dass da endlich mal jemand drauf hinweist! Und ar/Sm erklärt uns dann auch, wie’s richtig wäre:
Ein Handy ist eben kein Mobiltelefon […]
[…] sondern eine Einkaufstüte oder ein Kompliment für eine „pflegeleichte“ Person.
Wie bitte? In welcher Sprache? Sicher nicht im Englischen:
handy ˈhan-dē adjective hand·i·er; hand·i·est (1650) 1 a: conveniently near b: convenient for use c of a ship : easily handled 2: clever in using the hands especially in a variety of useful ways [Merriam Webster]
handy adj reg.adv. (-ier, ‑iest) geschickt; handlich; nützlich; zur Hand; come in handy sich als nützlich erweisen; sehr gelegen kommen [Langenscheidt]
Aber weiter:
Der Bodybag ist der Leichensack, wie ihn die Armeen dieser Welt mit sich tragen.
Und das Public Viewing passt dazu. So nennt man das öffentliche Aufbahren einer Leiche.
Äh, nein.
Immer wieder aufs Neue köstlich. Danke (oder noch besser: Herzlichen Glückwünsch! 😉 für diesen erheiternden Artikel. 🙂
“[…] dass Bastian Sick dagegen wie Noam Chomsky wirkt.”
Hm, dabei haben die beiden doch eigentlich so einiges gemeinsam. Beide behaupten seit Jahren Dinge, die längst widerlegt sind, sind nicht wirklich offen für sprachliche Vielfalt (Bastian Sick ignoriert die stilistische und regionale Vielfalt des Deutschen; Noah Chomsky fast jede Sprache außer Englisch), und beide haben eine riesige Anhängerschaft um sich geschart, die unreflektiert alles übernimmt, was ihr Meister ihnen vorsetzt.
Im neunten Dudenband (Richtiges und gutes Deutsch, 5. Auflage 2001) heißt es unter umsonst / vergebens:
»Obwohl die Verwendung von umsonst im Sinn von vergebens gelegentlich getadelt wird, ist gegen den schon im Mittelhochdeutschen gebräuchlichen Austausch beider Wörter nichts einzuwenden.«
Demnach ist die Auffassung des auto.de-Glossisten der üblicherweise von ›Sprachpflegern‹ vertretenen gerade entgegengesetzt.
Wer Gratulation sagt oder schreibt, setzt sich der Gefahr aus, von einem ›Sprachpfleger‹ für den Gebrauch eines überflüssigen Fremdwortes getadelt zu werden, das sich leicht durch das schöne deutsche Wort Glückwunsch ersetzen lasse.
Da hat wohl jemand den “Was ist der Unterschied zwischen gratis und umsonst?”-Witz ein wenig zu wörtlich genommen, und sich vor‑, diese böse böse Polysemie auszumerzen. Das tut er wohl umsonst (harhar) .
Und wegen Handy und der Einkaufstüte, es finden sich tatsächlich mehrere ‘handy bags’, aber das sind entweder ‘bags’, die in irgendeiner Form ‘handy’ sind, oder anscheinend ein Eigenname für eine Sonderform der Mülltüte. Da ist wohl das Google-fu von jemandem nicht allzu stark.
Am meisten hab ich über das TM hinter der Weltgoogle gelacht — chapeau. Bin immer noch nicht fertig …
Aber “Herzlichen Glückwunsch zu deinen Prüfung morgen” würde ich so verstehen, dass man dem Betreffenden zu seiner unerwarteten Zulassung zur Prüfung gratuliert.
Pedantenmodus an: “umsonst […] 3 nicht ohne Grund; er ist nicht u. Psychologe [Bertelsmann-Wörterbuch]” — das ist Unsinn, vielmehr bedeutet erst die Kombination “nicht umsonst” das postulierte “nicht ohne Grund”.
Das sprachliche Chaos um Gratulation und Glückwünsche versuche ich für mich zu vermeiden und verwende die Begriffe nach Möglichkeit entsprechend ihrer ursprünglichen Bedeutung. Aber es käme mir nie in den Sinn, dies anderen aufzuerlegen oder sie zu kritisieren.
Hut ab auch vor der eleganten Verlinkung im Text. Der geneigte Sprachblog-Leser lässt nur schnell dir Maus über dem Link schweben und sieht sich sogleich am Browserrand and vorherige schöne Einträge erinnert.
Zum Glück ist Sprachblog lesen umsonst.
Dann kann man einen Soldaten auch als Streitkraft bezeichnen…
“Ich bin Zeitstreitkraft” 🙂
Mich irritierte früher der Ausdruck “Militär” als Singular (z.B. ein ranghoher Militär sagte…), den ich nur als anderen Ausruck für z.B. die Streitkräfte kannte.
Ich hätte jetzt nicht gedacht, dass “Rettungskraft” erwähnenswert wäre.
Gibt es doch massenweise Worte, die auf “kraft” enden und Einzelpersonen bezeichnen: Schreibkraft, Aushilfskraft, studentische Hilfskraft, billige Arbeitskraft, …
Man könnte natürlich anmäkeln, dass all diese Worte einen entmenschelnden Beigeschmack haben, aber wer bin ich denn, dass ich den Sprachnörglern noch ihre Arbeit erledige?
Mein inneres Bild, sobald der Ausdruck ‘Glosse’ fällt:
Angesäuselter älterer Herr erzählt gelangweilter Tresenschlampe, was für’n toller Hecht er doch sei …
Schade, dass dem besserwissenden Glossenautor auch noch entgangen ist, dass die von ihm angeführte Sportveranstaltung offiziell und eigentlich Spiele der XXIX. Olympiade genannt wird. Aber vielleicht kann er ja das IOC davon überzeugen, dass das falsch ist… 😉
Auch die FR ist sich nicht zu schade, die Scherben der Sprachnörgelei aufzukehren, um eine Kolumne daraus anzuhäufen.
Eine sehr schöne Glosse über eine Glosse,
die auch ganz nett mit unseren Sprachhütern abrechnet.^^