Durch einen Bericht im Tagesspiegel bin ich auf einen Aufsatz aufmerksam geworden, den die Biologen Corey Fincher und Randy Thornhill von der Universität New Mexiko, Albuquerque, Anfang Juni veröffentlicht haben („A parasite-driven wedge: Infectious Diseases May Explain Language and Other Biodiversity“, Oikos 2008-06-09).
Die beiden versuchen in diesem Aufsatz eine Erklärung für ein interessantes linguistisches Rätsel zu finden: Wenn man sich die geografische Verteilung der derzeit noch gesprochenen 7000 Sprachen ansieht, fällt auf, dass die Sprachdiversität entlang des Äquators am größten ist und nach Norden und Süden abnimmt (jeder schwarze Punkt stellt das geografische Zentrum der Region dar, in dem eine Sprache gesprochen wird; eine größere Karte findet sich hier):
Ich habe leider keinen Zugriff auf den Artikel selbst und muss mich deshalb mit der Kurzfassung der Autoren begnügen, aber die Kernidee der beiden amerikanischen Biologen ist nicht sonderlich kompliziert: die beiden zeigen, dass es eine Korrelation zwischen der Diversität menschlicher Sprachen und der biologischen Diversität von Parasiten gibt. Sie schlagen dann vor, dass die hohe Anzahl von Parasiten zur Bildung vieler kleiner Menschengruppen führt, die den Kontakt mit anderen Gruppen vermeiden um die Infektionsgefahr zu reduzieren. Diese Isolationsstrategie führt dann zu einer Divergenz von kulturellen Praktiken und eben auch der Sprachen dieser Gruppen.
Diese Erklärung hält der britische Biologe Mark Pagel für zu simpel, und obwohl wir vor ein paar Monaten an seiner Theorie sprunghafter Schübe in der Sprachentwicklung gesehen haben, dass er selbst zu Vereinfachungen neigt, hat er vermutlich Recht. Er glaubt, dass für die Aufspaltung von menschlichen Populationen in kleine Gruppen vielmehr die Konkurrenz um knappe Ressourcen und eine natürliche Feindseligkeit verantwortlich sind.
Ich nehme an, dass es neben Parasiten und anderen Krankheitserregern, einem Hang zu kriegerischem Verhalten und der Konkurrenz um Nahrung und andere Rohstoffe noch eine Reihe weiterer Faktoren gibt, die für die durchschnittliche Größe menschlicher Gemeinschaften in einer bestimmten Region verantwortlich sind. Mich interessiert hier aber die stillschweigende Annahme, die Pagel mit Fincher und Thornhill teilt: dass die betreffenden Gruppen untereinander nicht kommunizieren (müssen), und sich ihre Sprachen deshalb auseinanderentwickeln (oder sie deshalb keine gemeinsame Sprache annehmen).
Hinter dieser Annahme steckt nämlich ein Denkfehler, der für Nordamerikaner und Nordeuropäer nicht ganz untypisch ist: die drei Biologen gehen davon aus, dass Einsprachigkeit eine weltweite Norm ist. Außerhalb der USA und Europas existiert diese Norm aber nicht. Im weltweiten Vergleich — und besonders in Regionen mit einer hohen Sprachdiversität — ist nämlich die Mehrsprachigkeit der Normalfall. Wenn die Ansteckung meidenden und um Nahrung konkurrierenden Sprecher entlang des Äquators aber neben ihrer eigenen Sprache auch die der benachbarten Sprachgemeinschaften sprechen, dann können weder Parasiten noch Kriegslust erklären, warum sie sich nicht gleich auf eine gemeinsame Sprache verständigen.
So sehr ich weitreichende ökologische Erklärungen für menschliche Verhaltensweisen schätze (und das tue ich wirklich), glaube ich in diesem Fall deshalb dennoch, dass die eigentliche Erklärung anderswo liegt: im kulturell bestimmten Selbstverständnis und der Identität der Sprecher. Wir müssen uns klarmachen, dass der auf Kleingruppen ausgerichtete Lebensstil, den man heute in den Regionen mit einer hohen Sprachenvielfalt findet, noch vor einigen hundert Jahren auf der ganzen Welt der Normalfall war. Die Herausbildung von großen Nationalstaaten mit einheitlicher Sprache ist ein mühsamer und langsamer Prozess, und politische Großeinheiten neigen dazu, nicht sehr lange stabil zu bleiben.
Obwohl Fincher und Thornhill behaupten, kulturelle und historische Erklärungen ausgeschlossen zu haben, denke ich, dass hier die Erklärung für die derzeitige Verteilung menschlicher Sprachen zu finden ist. Pagel hat in gewisser Weise Recht: Menschen neigen dazu, sich in kleinen Gruppen zusammenzutun. Dass diese Gruppen dann jeweils ihre eigene Sprache haben, liegt aber nicht daran, dass sie mit anderen Gruppen nicht kommunizieren, sondern daran, dass ihre kulturellen Praktiken und ihre Sprache für sie ein selbstverständliches Symbol ihrer Gruppenzugehörigkeit sind. Wenn man sich die Sprachenkarte genauer ansieht, wird klar, warum nördlich und südlich vom Äquator die Sprachendichte abnimmt: dort finden sich entweder große Industrienationen oder sehr lebensfeindliche Gegenden — schlechte Voraussetzungen für die Herausbildung einer Vielzahl kleiner Stammesgesellschaften.
Bildnachweis Sprachenkarte: Ethnologue (http://www.ethnologue.com), © 2004 by SIL, Lizenzbedingungen
“cum hoc ergo propter hoc”… Ich vermute auch, dass es die äußeren Umstände sind, die die Sprechergemeinschaften um den Äquator derart voneinander isolieren, dass eine hohe Diversität bis heute erhalten bleibt. Und dann könnte man sich noch kulturelle/politische/gesellschaftliche Gründe vorstellen, die man verantwortlich machen könnte: wie würde wohl eine solche Karte aussehen, wenn man die Verteilung der Sprachen — sagen wir mal — um 3000 v.Chr. darstellt?
Klassisches Ei-Huhn-Problem: Was war zuerst da, die Diversität der Menschen — oder die der Parasiten?
Wolfgang Hömig-Groß schickt einen interessanten Link zu einer Studie, die eine gewisse Ähnlichkeit zur Parasitenstudie aufweist:
http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/293754
Zum Großteil die der Parasiten, denn die wenigsten sind für Menschen spezifisch.