Die Presse beschäftigt sich in den letzten Tagen mit der Stellungnahme des Oberhauptes der katholischen Kirche, Joseph „Benedikt XVI“ Ratzinger, zum Thema der sexuellen Misshandlung von Kindern durch Priester seiner Kirche.
Einige Zeitungen haben diese Stellungnahme, die Ratzinger nicht etwa vor den Opfern dieser Misshandlungen abgab, sondern die er im Rahmen einer Messe vor australischen Geistlichen nebenbei eingeflochten hat, als Entschuldigung interpretiert: Papst entschuldigt sich für sexuelle Übergriffe katholischer Priester titelt Welt Online und Papst entschuldigt sich für Missbrauch durch Geistliche lesen wir bei Yahoo! Nachrichten). Derwesten.de suggeriert sogar, dass die vermeintliche Entschuldigung direkt an die Opfer gerichtet gewesen sei: Papst entschuldigt sich bei Missbrauchsopfern.
Andere Zeitungen drücken sich etwas zurückhaltender aus und sprechen statt von einer Entschuldigung von Bedauern und Mitgefühl, wobei auch hier die Opfer als direkte Ansprechpartner des Kirchenoberhauptes dargestellt werden: Papst spricht Opfern von sexuellem Missbrauch sein Mitgefühl aus (Berliner Morgenpost), Papst bedauert Missbrauchsfälle durch die Kirche (Tagesspiegel), Papst versichert Missbrauchsopfern Mitgefühl (Abendzeitung) und Papst drückt Mitgefühl mit Missbrauchsopfern aus (Schwäbische Zeitung).
Mit noch mehr Bedacht formuliert es Die Zeit: Papst verurteilt Missbrauchsskandal.
Kann man Ratzingers Aussage als Entschuldigung werten? Ich würde diese Frage mit einem klaren „Nein“ beantworten. Die Zeit hat schon recht: es ist bestenfalls eine Verurteilung. Sehen wir uns die Passage aus seiner Predigt genauer an (die Predigt findet sich hier, eine offizielle deutsche Übersetzung liegt bislang nicht vor).
Ratzinger beginnt:
Here I would like to pause to acknowledge the shame which we have all felt as a result of the sexual abuse of minors by some clergy and religious in this country.
An dieser Stelle möchte ich innehalten um die Scham anzuerkennen, die wir alle gefühlt haben als Folge des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch einige Geistliche und Religiöse in diesem Land.
Man könnte hier versuchen, einen gewissen entschuldigenden Tonfall herauszulesen, da das englische Wort acknowledge auch Anklänge der Wörter „eingestehen“ oder „zugeben“ hat. Allerdings wäre der Satz auch dann keine Entschuldigung. Zuzugeben, dass man sich für etwas schämt, ist bestenfalls eine Vorrede zu einer Entschuldigung. Sehen wir uns also den nächsten Satz an:
Indeed, I am deeply sorry for the pain and suffering the victims have endured, and I assure them that, as their Pastor, I too share in their suffering.
Mehr noch, der Schmerz und das Leid, das die Opfer ertragen haben, tut mir sehr leid, und ich versichere ihnen, dass ich, als ihr Pastor, dieses Leid teile.
I am deeply sorry — näher kommt Ratzinger einer Entschuldigung nicht. Und auch wenn es zunächst den Anschein hat, es ist keine echte Entschuldigung. Erstens hat die Redewendung to be sorry for something die gleiche Doppeldeutigkeit wie die von mir gewählte deutsche Übersetzung etw. leid tun: man kann sie als Entschuldigung verwenden („Es tut mir leid, dass ich die Vase zerbrochen habe“), aber sie kann auch ein allgemeiner Ausdruck des Mitgefühls sein („Es tut mir leid, dass das Erdbeben deine Lieblingsvase zerbrochen hat“). Zweitens bezieht Ratzinger die Redewendung hier nicht auf die Taten der Priester, sondern auf „den Schmerz und das Leid“ der Opfer. Das legt für mich eher die zweite Lesart von leid tun nahe (mir tut dieser Schmerz auch leid, und ich habe ihn in keiner Weise zu verantworten), aber auch in der ersten Lesart würde sich Ratzinger damit nicht für die Taten seiner Priester entschuldigen, sondern nur für deren unangenehme Nebenwirkungen.
Im den nächsten Sätzen folgen dann die Verurteilung der Taten und eine erhellende Bemerkung:
These misdeeds, which constitute so grave a betrayal of trust, deserve unequivocal condemnation. They have caused great pain and have damaged the Church’s witness.
Diese Untaten, die solch einen schweren Verrat von Vertrauen darstellen, verdienen uneingeschränkte Verurteilung. Sie haben großen Schmerz verursacht und haben das Bekenntnis der Kirche beschädigt.
Dass er die Taten verurteilt, kann man dem Kirchenoberhaupt nicht zugute halten — es ist eine Selbstverständlichkeit. Aber er verrät hier seine wahren Gründe für diese Verurteilung: die Taten beschädigen die Glaubwürdigkeit der Kirche. Und so ist es auch die Kirche, für die sich Ratzinger Unterstützung erhofft — die Opfer und die Täter kommen nur noch am Rande vor:
I ask all of you to support and assist your Bishops, and to work together with them in combating this evil. Victims should receive compassion and care, and those responsible for these evils must be brought to justice. It is an urgent priority to promote a safer and more wholesome environment, especially for young people.
Ich bitte Sie alle darum, ihre Bischöfe zu unterstützen und ihnen beizustehen und mit ihnen daran zu arbeiten, dieses Böse zu bekämpfen. Opfer sollten Mitleid und Fürsorge erhalten, und die, die für diese Übel verantwortlich sind, müssen der Justiz übergeben werden. Es ist ein dringende Priorität, für ein sicheres und gesundes Umfeld zu sorgen, besonders für junge Menschen.
Auch hier: dass man die Täter der Justiz überlassen will, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass diese Aussage überhaupt nachrichtenwürdig ist, sagt eine Menge darüber aus, wie sehr wir uns an die angebliche Unfehlbarkeit gewöhnt haben, die die katholische Kirche für sich in Anspruch nimmt.
Ratzinger schwärmt dann ein wenig von der Verantwortlichkeit, die die Kirche gegenüber jungen Menschen hat — angesichts des Zusammenhangs ein Hohn:
In these days marked by the celebration of World Youth Day, we are reminded of how precious a treasure has been entrusted to us in our young people, and how great a part of the Church’s mission in this country has been dedicated to their education and care.
In diesen Tagen, die durch das Begehen des Weltjugendtages gekennzeichnet sind, werden wir daran erinnert, was für ein wertvoller Schatz uns mit unseren jungen Menschen anvertraut worden ist, und was für ein großer Anteil der Mission der Kirche in diesem Land ihrer Bildung und der Fürsorge um sie gewidmet worden ist.
Und zum Abschluss drückt er seine Hoffnung aus, die Kirche könne von diesen Missbräuchen am Ende gar profitieren:
As the Church in Australia continues, in the spirit of the Gospel, to address effectively this serious pastoral challenge, I join you in praying that this time of purification will bring about healing, reconciliation and ever greater fidelity to the moral demands of the Gospel.
Während die Kirche in Australien fortfährt, diese Herausforderung im Geiste des Evangeliums effektiv anzugehen, und ich schließe mich Ihnen in Ihren Gebeten an, dass diese Zeit der Reinigung zu Heilung, Versöhnung und einer noch größeren Treue den Anforderungen des Evangeliums gegenüber führen wird.
Am nächsten Tag war die Angelegenheit dann schon vergessen. In einem Gottesdienst vor vierhunderttausend Gläubigen geißelt Ratzinger die „Oberflächlichkeit, Apathie und Selbstvertiefung“ der Anderen, der Nicht-Gläubigen, als Wurzel alles Bösen:
Empowered by the Spirit, and drawing upon faith’s rich vision, a new generation of Christians is being called to help build a world … A new age in which hope liberates us from the shallowness, apathy and self-absorption which deaden our souls and poison our relationships. Dear young friends, the Lord is asking you to be prophets of this new age, messengers of his love, drawing people to the Father and building a future of hope for all humanity. The world needs this renewal! In so many of our societies, side by side with material prosperity, a spiritual desert is spreading: an interior emptiness, an unnamed fear, a quiet sense of despair.
Befähigt durch den Geist und schöpfend aus der reichen Vision des Glaubens ist eine neue Generation von Christen aufgerufen, eine Welt zu erschaffen … ein neues Zeitalter, in dem Hoffnung uns von der Oberflächlichkeit, Apathie und Selbstvertiefung befreit, die unsere Seelen abtötet und unsere Beziehungen vergiftet. Liebe junge Freunde, der Herr verlangt von euch, Propheten dieses neuen Zeitalters zu sein, Boten seiner Liebe, Menschen zum Vater zu führen und eine Zukunft der Hoffnung für die ganze Menschheit zu erschaffen. Die Welt braucht diese Erneuerung! In so vielen unserer Gesellschaften breitet sich mit dem materiellen Wohlstand eine geistige Wüste aus: eine innere Leere, eine Angst ohne Namen, eine stille Verzweiflung.
„Abgetötete Seelen“, „vergiftete Beziehungen“, eine „innere Leere“, eine „Angst ohne Namen“, eine „stille Verzweiflung“ — fast könnte man meinen, Ratzinger spräche hier doch von den Missbrauchsopfern.
Aber leider nur fast.
Das trifft genau ins Schwarze. Okay, es soll keine Gewohnheit werden, zu Einträgen von Mark Libermann auf Language Log zu verlinken, aber als Entschuldigung *hust* würde ich anführen: a) es geht exakt um die angesprochenen Bedeutungsebenen von “being sorry” im Englischen; b) ich habe mich gestern (*seufz*) schon diszipliniert und darauf verzichtet, zu Marks Caveat zu verlinken; c) es geht hauptsächlich um einen älteren Beitrag von Geoff Pullum, der zitiert wird. Also dann, I’m sorry (sort of) … 😉
^_^J.
Keine 8 Stunden später auf
http://www.zitate-datenbank.service-itzehoe.de/menu/spruch_des_tages/ :
Wer die Menschen kennen lernen will, der studiere ihre Entschuldigungsgründe…
Friedrich Hebbel, 1813 — 1863
In der letzten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung steht folgendes zu lesen:
»Die australische Kirche tut einiges dazu, die Kritik an ihr zu befeuern. Der Koordinator des Weltjugendtages, Bischof Anthony Fisher, warf den Opfern am Mittwoch vor, ›griesgrämig in alten Wunden zu wühlen‹. Unmittelbar zuvor hatte Kardinal Pell mitgeteilt, sich nicht mit Anthony Foster zu treffen, dem Vater zweier Töchter, die vor Jahren von einem Priester an einer Melbourner Grundschule vergewaltigt wurden. Die eine beging im vergangenen Jahr Selbstmord, die andere verfiel dem Alkohol und ist seit einem Unfall schwer behindert.« (S. 8.)
Na dann halleluja!
Man kann zweifelsohne viel Kritisches über die katholische Kirche und über den Papst sagen. Aber man sollte nicht den Zusammenhang aus den Augen verlieren zwischen dem, was zu erwarten war, und dem tatsächlich Gesagten.
>Indeed, I am deeply sorry for the pain and suffering the victims
>have endured, and I assure them that, as their Pastor, I too share in their
>suffering.
“I am deeply sorry” — das heißt nicht einfach nur “es tut mir sehr leid” (very sorry?) — und selbst wenn: Was, bitteschön, hättet ihr denn erwartet?
Danke für den Artikel. Die Papstrede ist, wie so viele, eine Unverschämtheit.
rip, I am deeply sorry heißt nichts anderes als „Es tut mir sehr leid”, von mir aus auch „Es tut mir zutiefst leid“, wenn Sie da einen Unterschied sehen. Der entscheidende Punkt ist, dass das keine Entschuldigung ist: Sie könnten den Opfern auch sagen I am deeply sorry for your pain ohne in irgendeiner Form Verantwortung zu übernehmen — Sie würden einfach nur Ihr tiefes Mitgefühl ausdrücken.
Interessant finde ich Ihre Frage, was ich denn erwartet hätte. Ich hätte eine klare, unmissverständliche Entschuldigung erwartet, verbunden mit dem Versprechen, die Opfer wenigstens finanziell zu entschädigen, die Täter aus dem Priesteramt zu entfernen und aus den Diensten der Kirche zu entlassen und den Strafverfolgungsbehörden in jeder Form bei der Aufklärung der Taten zu helfen. Mit weniger würde sich niemand zufrieden geben, wenn die Täter hier beispielsweise Mitarbeiter einer Firma wären, die Zigaretten, Pornofilme, oder sonstige moralisch zweifelhafte Produkte herstellt. Warum geben wir uns dann bei der katholischen Kirche, einer selbsternannten moralischen Autorität, mit einer lauwarmen Mitleidsbekundung zufrieden?
Danke für die Antwort. Ja, ich sehe schon einen Unterschied zwischen “sehr” und “zutiefst”. Und ich halte es auch für eine angemessene sprachliche Form für diesen Teil der Reaktion. “Ent-schuldigen” kann er sich ja wohl nur direkt für etwas, das er selbst getan hat, jedenfalls nach meinem Verständnis des Wortes.
In Bezug auf Ihre Erwartungen stimme ich Ihnen durchaus zu. Das einzige, was mir nach wie vor unklar ist (und dies ist nun ein Punkt, der mit dem Titel dieses Blogs zu tun hat): Was ist für Sie eine “unmissverständliche Entschuldigung”?
Ein Schuldbekenntnis (mit Bitte um Vergebung)? Worin liegt die Schuld des Papstes dann? Dass er es (in allgemeinen Geschäftsbegriffen formuliert) als oberster Dienstvorgesetzter nicht verhindert hat, dass krankhaft veranlagte Menschen, die zu Verbrechen neigen, in seinem Konzern eine Anstellung erhielten? Habe ich die Frage nun schon selbst beantwortet?
Um zum Aspekt der Erwartung zurückzukommen: Der Ausdruck tiefen Mitgefühls ist mehr, als man — üblicherweise — erwarten konnte. Dass es trotzdem zu wenig ist, steht auf einem anderen Blatt (oder doch auf demselben?).
Zum Thema “entschuldigen”: Vielleicht bin ich ja unrettbar konservativ, aber weder der Papst noch sonst jemand kann sich entschuldigen. Er kann um Entschuldigung bitten (“und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern”). Ob die Zerstörung eines Lebens, im Gegensatz zur Zerstörung einer Blumenvase, entschuldbar ist, ist eine andere Frage. Sofern die Täter Reue zeigen, könnte es sein, dass die Opfer ihnen vergeben.
Exzellente Kritik dieser, nunja, nennen wir sie mal interessanten, Rede.
Aber eine Kritik am Post selbst, weil es eins meiner “pet peeves” ist (um diese Uhrzeit fällt mir auch als Muttersprachler gerade kein Pendant dazu ein):
Dass diese Aussage überhaupt nachrichtenwürdig ist, sagt eine Menge darüber aus, wie sehr wir uns an die angebliche Unfehlbarkeit gewöhnt haben, die die katholische Kirche für sich in Anspruch nimmt.
Nein, so ist die Unfehlbarkeit nicht zu verstehen.
Die Unfehlbarkeit des Papstes ist sehr eng definiert und bezieht sich nur auf als endgültig bezeichnete Aussagen zum Dogma der Kirche; so mir bekannt gibt es genau zwei eindeutige, offiziell bestätigte (und ein paar umstrittene) Berufungen auf diese Doktrin, nämlich bei der Erklärung zur Unbefleckten Empfängnis und bei Marias Aufnahme in den Himmel.
Man mag der offiziellen katholischen Kirche so kritisch gegenüberstehen, wie man will (und trotz meines Status als Nur-Apathie-Agnostikers und Gelegenheits-U-Boot-Katholik gehör ich auf die stärker kritische Seite), aber halt bitte mit dem richtigen Hintergrundwissen — know thy enemy, und so 😉
„An dieser Stelle möchte ich innehalten um die Scham anzuerkennen, die wir alle gefühlt haben als Folge des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch einige Geistliche und Religiöse in diesem Land.“
Da ist es schon wieder: „gefühlt haben“ klänge am Ende des Satzes viel besser.