Die vier Sprachautoritäten von der Aktion Lebendiges Deutsch tragen mit ihren messerscharfen Wortschatzbedarfsanalysen und stilsicheren Neubewortungen überflüssiger Lehnwörter seit vielen Jahren dazu bei, die deutsche Sprache vor dem sicheren Niedergang zu bewahren. Ohne ihren unermüdlichen Einsatz wäre das Deutsche längst vollständig durch das Englische verdrängt worden, oder noch schlimmer, auf das Niveau eines Bananenhändlerpidgins gesunken.
Genau rechtzeitig zum Anpfiff der Fußball-Europameisterschaft haben die vier findigen Wortfüchse nun eine passende, klangvolle und elegante Alternative zu dem lächerlichen Anglizismus Public Viewing gefunden, der im englischen eine öffentliche Leichenschau bezeichnet. Fußballkino lautet der pfiffige und treffgenaue Vorschlag, den ich ab sofort verwenden werde, wenn ich unseren Jungs auf der Fanmeile — pardon, den 1,6 Bewundererkilometern — die Daumen drücke.
Wie? Die EM ist schon seit einer Woche vorbei? Haben wir gewonnen? Die Spanier? Können die sowas? Wo deren Sprache doch nur eine verkommene Abart des klassischen Latein ist! Was? Public Viewing bedeutet gar nicht „Leichenschau“? Wir brauchten gar kein neues Wort dafür? Dann ist die Arbeit der Aktionäre völlig umsonst? Überflüssig, sogar? Ja, dann weiß ich auch nicht weiter. Worüber soll ich denn dann schreiben?
Gut, ich muss dann wohl auf den Boden der Tatsachen zurückkommen und feststellen, dass die Aktionäre ihrer üblichen Strategie treu geblieben sind. Ohne Not haben sie eine zweckfreie Alternative für einen Begriff geschaffen, den auf absehbare Zeit ohnehin niemand mehr braucht.
Wieder einmal haben sie ihre angebliche Liebe für die deutsche Sprache dadurch gezeigt, dass sie sich über ein kulturelles Phänomen lustig machen, das sie nicht verstehen und das sie deshalb natürlich auch nicht gutheißen können:
„Fußballkino“ haben wir gesehen, nur ausnahmsweise noch „public geviewt“ — darin waren sich mehrere Fernsehsender einig, und die Akton „Lebendiges Deutsch“ hat aus 1197 Vorschlägen ebenfalls diesen ausgewählt. (Auch „Kick-Blick“, „Glotzparty“ und „Public Saufing“ befanden sich darunter.)
Fußballkino? Gut, es stimmt schon — die öffentliche Übertragung eines Fußballspiels erinnert tatsächlich stark an einen Kinobesuch. Wenn man sie im Geiste in einen kleinen Saal verlegt. Und wenn man sich vorstellt, dass man dabei auf gepolsterten Klappsesseln säße. Und, wenn man sich die Fußballfans und die Deutschlandflaggen wegdenkt. Und natürlich, wenn statt eines Fußballspiels ein Film gezeigt würde.
Ja, irgendwie beschreibt der doitsche Ausdruck den Event-Charakter nicht gebührend. Außerdem fehlt die Open-Air-Komponente.
Wer sagt denn, daß eine Kinovorführung in der Halle stattfinden muß? Schließlich gibt es bereits seit langem Freilichtkinos.
„Schließlich gibt es bereits seit langem Freilichtkinos.“
Und die genau die Tatsache, dass man Freilicht extra dazu sagen muss, zeigt, dass Kinovorführungen typischerweise drinnen stattfinden.
Müssten die Aktionäre dann nicht konsequenterweise auch Kino durch Lichtspiel ersetzen (wollen)?
Oh Gott, es geht sogar noch weiter. Als nächstes suchen sie ein Wort für “chillen”; dabei steht schon in LEO die deutsche Übersetzung: “relaxen”.
Kleiner Nachtrag:
Zitat von der Heimseite ‘Aktion lebendiges Deutsch’:
“Wir sollten aufhören, uns für die deutsche Sprache zu genieren.”
Nun denn: Im August sucht mal spontan ein deutsches Wort für ‘genieren’.
Tja, das bringt euch in Verlegenheit, wie? Schämt euch!
In Barmbek sagen wir ‘Gruppenglotzen’.
Ein Hoch auf die Sprachpuristen 🙂
Dazu off-topic (ääääh abseits des eigentlichen Themas wollte ich natürlich sagen) da über das Englische und amüsiert studiert:
http://david-crystal.blogspot.com/2008/07/on-receiving-poem.html
Fußballkino hat ja tatsache was für sich — von der metaphorischen Perspektive aus gesehen.
Public viewing hatte schon zu Zeiten der WM nicht nur was mit draußen gucken zu tun. Dazu gab es, auch jetzt wieder, einfach zu viele Kneipen, in denen sich die Massen versammelten. Public viewing ist in meinem Umfeld mehr die Bezeichnung für nicht zu Hause, sondern in einer öffentlichen Lokalität gucken. Und an dieser Stelle überlagert sich das Seh-Erlebnis mit dem des Films. Bunte Bilder werden auf eine Leinwand projiziert und davor sitzen mehrere Menschen, die nur grüppchenweise miteinander zu tun haben.
Fußballkino ist auch irgendwie niedlich. Es lässt sich mit dem Schuss Ironie sagen, der so vielen unserer Sprüche beiwohnt.
Ein kleiner Einwand: worin unterscheidet sich das Bestehen darauf, dass “Kino” an einen dunklen Saal mit gepolsterten Klappsesseln gebunden zu sein hat, strukturell von sprachnörglerischen Verwendungsverboten und Bedeutungsvorschriften?
“Kino” ist in der Regel ein geschlossener Raum, das ist richtig. Für
“Fußballkino” gilt das eben nicht. Meistens. (Ausgeschlossen ist das aber nicht, wie Miss Sophie richtig angemerkt hat.) Und wenn man als wesentliches Merkmal für “Kino” bespielsweise “Anwesende schauen auf eine Leinwand, auf die ein für die Zuschauer interessantes Geschehen projiziert wird” ansetzt, passt das mit dem “Fußballkino” dann eben doch wieder.
Durch den Radiosender eins live des WDR wurde “Rudelgucken” verbreitet. Eigentlich ganz nett, fühlt man sich doch wirklich so, wenn man in der Masse sitzt/steht und anfängt zu jubeln, weil alle jubeln, auch wenn man gerade gar nicht gesehen hat, was überhaupt passiert ist.
Die Verfilmung von Nick Hornbys “Fever Pitch” ist ganz großes Fußballkino. Das heißt dann auf englisch aber nicht mehr “public viewing”, sondern eher “football movie.” Verrückte Welt 😉
Also ich mag die Aktion Lebendiges Deutsch!
Manchmal — wenn mir so richtig langweilig ist — stöbere ich heimlich in deren Internetauftritt umher und kann mitunter brüllen vor Lachen.
Aber sagen Sie denen das bitte nicht weiter, sonst kommen die bestimmt bei mir vorbei und hauen mich: Das darf also keiner wissen.
😉