Angesichts der Aufregung, mit der jede Phase der deutschen Rechtschreibreform öffentlich diskutiert wurde, hätte es ja sein können, dass wir uns auch für die Rechtschreibreformen unserer europäischen Nachbarn interessieren. Das ist aber nicht der Fall: fast unbemerkt hat das portugiesische Parlament vor zehn Tagen eine der radikalsten Reformen in der Geschichte der portugiesischen Orthografie verabschiedet.
Die Reform, auf die sich Portugal mit sieben weiteren portugiesischsprachigen Ländern (nämlich Brasilien, Angola, Mosambik, Osttimor, den Kapverden, Guinea-Bissau und São Tomé e Príncipe verständigt hat), ist die bislang letzte in einer langen Reihe von manchmal mehr, aber meistens weniger gut koordinierten Reformen, die Portugal und Brasilien seit 1911 an ihren jeweiligen Orthografien durchgeführt haben (die englischsprachige Wikipedia hat einen eigenen Eintrag zu diesen Reformen).
Bislang wiesen die Rechtschreibungen der beiden großen portugiesischsprachigen Länder drastische Unterschiede auf. Diese Unterschiede haben zwei Ursachen: zum einen gibt es Wörter, die in den beiden Dialekten unterschiedlich geschrieben werden, weil sie unterschiedlich ausgesprochen werden, zum anderen aber, und das war der Auslöser der aktuellen Reform, gibt es Wörter, die unterschiedlich geschrieben werden, weil die Mutterländer der beiden Dialekte bei früheren Reformen unterschiedliche Entscheidungen getroffen haben.
Die nun ratifizierte Rechtschreibung sieht für den ersten Fall typischerweise alternative Schreibweisen vor, von denen jeweils diejenige gilt, die dem Dialekt des Schreibers entspricht. Beim zweiten Fall hat man sich auf Schreibweisen geeinigt, die möglichst transparent und stringent die heutige Aussprache der Wörter reflektiert.
Wie das bei Rechtschreibreformen so ist, bleibt der größte Teil des Wortschatzes völlig unberührt von diesen Veränderungen: die Portugiesen müssen in Zukunft gerade einmal 1,6 Prozent der Wörter anders schreiben. Weil die Brasilianer in der Vergangenheit ihre Reformen bereits stärker an der Aussprache orientiert haben, ändert sich für sie sogar noch weniger: nur 0,5 Prozent der Wörter erhalten eine aus ihrer Perspektive neue Schreibung.
Eigentlich ist das doch eine Erfolgsgeschichte: endlich hat die portugiesischsprachige Welt eine einheitliche Orthografie — die Vorteile liegen auf der Hand. Und so könnten eigentlich alle zufrieden sein. Wenn da nicht dieser kleine Unterschied von 1,6 zu 0,5 Prozent wäre, der zu allem Überfluss in der Bilanz auch noch negativ für das ehemalige Mutterland ausfällt.
Dieser Unterschied hat in Portugal einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Ganz vorne mit dabei sind natürlich die Dichter, die zwar keine Ahnung, dafür aber viel sprachlichen Nationalstolz mitbringen: der Schriftsteller und Politiker Vasco Graca Moura, zum Beispiel, sieht die Reform als eine Kapitulation vor der wirtschaftlichen und weltpolitischen Dominanz Brasiliens und wettert, dass Portugal nicht in der zweiten Reihe hinter der ehemaligen Kolonie platz nehmen dürfe.
Die Presse hat sich dieser Sichtweise weitgehend angeschlossen. Die Associated Press, die als erste international über die Reform berichtete, gab ihrer Pressemeldung den Titel As spelling changes, Portugal feels the empire striking back („Im Zuge der Rechtschreibreform spürt Portugal, wie das Imperium zurückschlägt“). Diese martialische Schlagzeile übernahmen hunderte von Zeitungen in der englischsprachigen Welt, unter anderem die Seattle Times, die Washington Post und die International Herald Tribune.
Bevor wir uns die kulturpessimistische Panik näher betrachten, die durch diese Schlagzeile in der englischsprachigen Presse ausgelöst wurde, noch einmal zur Klarstellung: Portugal hat nicht die brasilianische Rechtschreibung übernommen — die beiden Länder haben sich lediglich auf eine Reform geeinigt, bei der sich für die Portugiesen etwas mehr ändert als für die Brasilianer.
Das war den Medien egal, die die Meldung der Associated Press übernahmen — sie dichteten munter drauflos. Portugal’s former empire is striking back („Portugals ehemaliges Imperium schlägt zurück“) verkündete die NBC und machte aus dem Gefühl der ursprünglichen Schlagzeile eine Tatsache. Das Fort Worth Star Telegram steigerte das Ganze in bester Wild-West-Tradition: Portugal’s colonies exact some linguistic revenge („Portugals Kolonien üben sprachliche Rache“). Die taiwanesische China Post formulierte verklausuliert diplomatisch Brazil ‘gives back’ to Portugal („Brasilien ‚gibt zurück‘ an Portugal“).
Die CBS konzentrierte sich ganz auf die Opfer dieser Attacke: Proposed Spelling Changes Wound Portugal Pride („Vorgeschlagene Rechtschreibreform verwundet den Stolz Portugals“). Und die Seattle Times stellte fest: Following Brazil’s lead mortifies some Portuguese („Brasilien zu folgen erschreckt demütigt einige Portugiesen zu Tode“ [siehe Kommentare 3 und 4 unten]).
Dass hier Portugal die brasilianische Rechtschreibung übernimmt, da waren sich alle einig. Der amerikanische Daily Herald stellte das ganz ohne Kriegsmetaphorik, dafür mit einem verbogenen Shakespeare-Zitat verziert, fest: What’s in a word? Portugal to adopt Brazil spelling („Was ist ein Wort? Portugal steht kurz davor, die brasilianische Rechtschreibung zu übernehmen“). Die Detroit Free Press schoss dabei etwas über das Ziel hinaus: World to spell like a Brazilian („Die Welt soll wie ein Brasilianer buchstabieren“).
Bei einigen Zeitungen wurde aus der vermeintlichen Attacke auf die Rechtschreibung gleich ein Andriff auf die Sprache an sich. Der Arizona Star titelte Portugal considers adopting Brazilian changes in language („Portugal zieht in Erwägung, brasilianische Veränderungen der Sprache zu übernehmen“) und The Portugal News Online fragte bang Portuguese to be replaced by Brazilian? (Wird das Portugiesische durch Brasilianisch ersetzt). Die St. Petersburg Times aus Florida war der Meinung, das Portugiesische müsse den Brasilianern wohl zu verstaubt gewesen sein: Brazil prompts Portugal to update Portuguese (Brasilien regt Portugal an, das Portugiesische zu aktualisieren). Und die Seattle Times meldete sich nach dem Parlamentsbeschluss noch einmal mit der Nachricht, die Portugiesen hätten ihre Sprache aufgegeben: Portugal’s lawmakers accept Brazilian version of language („Portugals Gesetzgeber akzeptieren die brasilianische Version der Sprache“).
Der britischen Times reichte dieses Märchen sprachlicher Rückkolonialisierung nicht. Da mussten geheimnisvollere Kräfte am Werk sein. Und an wen hält man sich, wenn man einen Schuldigen für den Sprachverfall sucht (und nichts anderes kann eine Rechtschreibreform ja sein)? Genau, an das Internet. Und wem gehört das Internet? Richtig, das gehört Google. Und so titelte die Times Online ernsthaft Google takes on Portuguese, and wins („Google fordert das Portugiesische heraus und gewinnt“). Und nur um klarzustellen, dass das nicht nur eine unüberlegte Schlagzeile ist, erklärt uns der Verfasser, ein gewisser Bernhard Warner, in der Byline:
Portugal’s decision to adopt Brazilian Portuguese has been hastened by the rise of the internet
Portugals Entscheidung, das brasilianische Portugiesisch [Anm. A.S.: auch hier die Sprache, nicht etwa die Rechtschreibung] zu übernehmen ist durch den Aufstieg des Internet beschleunigt worden.
Das ist natürlich Unfug: die Befürworter der Reform haben neben vielen anderen Vorteilen einer einheitlichen Rechtschreibung auch ins Feld geführt, dass Suchmaschinen es dann einfacher hätten. Aber Bernhard Warner setzt noch einen drauf und verfällt dabei wieder in beste Kriegsmetaphorik:
Google, it could be said, conquered its first Romance language last week. The Portuguese parliament voted last week to change its national language to reflect the more popular Brazilian Portuguese, the language used by about 80 percent of the world’s 230 million Portuguese speakers.
Google, könnte man sagen, besiegte letzte Woche zum ersten Mal eine romanische Sprache. Das portugiesische Parlament entschied letzte Woche, seine Nationalsprache so zu verändern, dass sie dem beliebteren brasilianischen Portugiesisch ähnelt, der Sprache, die etwa 80 Prozent der Portugiesischsprecher auf der Welt verwenden.
Wer schlampig recherchierten, dümmlichen Kulturpessimismus mag, der lese den Rest dieses Meisterwerks journalistischen Könnens. Wer es etwas sachlicher mag, dem sei dieser Artikel in der NZZ empfohlen. Und natürlich steht das Bremer Sprachblog auch in Zukunft bereit, um sprachliche Untergangsphantasien im Zaum zu halten. Denn die nächste Rechtschreibreform kommt bestimmt.
Bildnachweis: Die portugiesischsprachige Welt (Quelle: Wikipedia)
Mann, haben wir ein Glück, dass wir unsere Kolonien so früh verloren haben. Kann mir nicht vorstellen, dass uns die Chinesen nach dieser Vorgeschichte sprachlich Pardon gegeben hätten. Und das Geheul der Sprachnörgler würde jede geordnete Kommunikation unmöglich machen. Die Gnade des frühen Verlusts …
Erschrocken (zum Glück nicht zu Tode).
nachgeschaut:
Merriam Webster ( heute):
Main Entry:
mor·ti·fy
…
transitive verb
1 obsolete : to destroy the strength, vitality, or functioning of
2: to subdue or deaden (as the body or bodily appetites) especially by abstinence or self-inflicted pain or discomfort
3: to subject to severe and vexing embarrassment : shame
intransitive verb
1: to practice mortification
2: to become necrotic or gangrenous
oder
(Oxford Advanced Learners Dictionary ..1980):
cause (sb) to be ashamed, humiliated,or hurt in his feelings
(nur eine der Bedeutungen zitiert)
wieder beruhigt.
Herr Danielczyk, erschrecken war wohl nicht die richtige Wortwahl; ich wollte den Tod, der ja aufgrund der Etymologie des Wortes (von Lat. mortificare „den Tod verursachen“ über Altfranzösich mortifier) noch mitschwingt, in die Übersetzung hineinbringen. Ich habe jetzt zu Tode demütigen daraus gemacht.
Herr Hömig-Groß, „die Gnade des frühen Verlusts“ ist ja geradezu Wortistik-fähig (bislang hat dieser Ausdruck keinen einzigen Google-Treffer).
Ich will ja nicht den Deskriptiv-präskriptiv-Diskurs von vor ein paar Tagen wieder aufwärmen (obwohl der sicherlich so schnell nicht auskühlt …), aber man kann sich schon fragen, warum bei diesen Rechtschreibreformen immer nur die Dichter aufschreien. Von den Sprachwissenschaftlern, die angeblich alles Präskriptive vehement ablehnen, scheinen sich wenige daran zu stören, wenn hier ein Parlament (!) die Sprache verändert. Warum? Weil die Sprache dem Parlament gehört und es deswegen damit nach Belieben umspringen darf? Weil die Wortschreibung weniger wichtig ist als Lexik oder Syntax? Oder weil es eine “richtige” Schreibung sowieso nicht gibt und deshalb überhaupt kein Grund zur Aufregung besteht? Oder weil es gut ist, wenn die Variation in der Schreibung zurückgeht? (Festlegung unterschiedlicher Schreibungen für gleiche Aussprachen — da sollte man doch auch mal die deutsche und schweizerische ß/ss-Schreibung vereinheitlichen.) Oder weil es gut ist, wenn die Schreibung möglichst die Aussprache reflektiert? (Wann machen eigentlich die Franzosen endlich eine Rechtschreibreform?) Oder weil die Sprachwissenschaftler bei der Ausarbeitung der Änderungen beteiligt waren, und man in diesem Fall schon mal eine Ausnahme machen kann, was die Ablehnung von Sprachvorschriften angeht?
Was die 1,6% der betroffenen Wörter angeht (oder 1,4%, wahrscheinlich sind noch andere Zahlen im Umlauf), so kommt es natürlich darauf an, wie häufig diese verwendet werden. Wenn man im Deutschen plötzlich “unt” statt “und” schreiben sollte (man spricht es ja schließlich auch so), hätten wir bei geschätzten 0,002 Promille Type-Änderung trotzdem eine gewaltige Veränderung aller geschriebener Texte. Deswegen denkt auch niemand daran, die Orthographie von “und” zu ändern 😉 .
Wahrscheinlich gibt es auch in Portugal Linguisten, die gegen die Reform sind, und man darf abwarten, ob diese sich wie in Deutschland weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit in verschrobenen Zirkeln organisieren (oder auch gar nicht). Mitbekommen wird man davon noch weniger als von der Reform an sich. Wenn die Reform dazu führt, daß unterschiedliche Schreibvarianten gleichberechtigt nebeneinander stehen (wie das ja im “ersten Fall” auch angedacht ist und wie es sich auch im Deutschen entwickelt, weil niemand mehr den Überblick hat), bin ich mittlerweile fast geneigt zu sagen: so what.
… Mit dem ciberaBlog wollen wir aber unter anderem den Beweis antreten, dass es eben sehr wohl lesens- und beachtenswerte wissenschaftliche Texte bzw. gute Hinweise auf wissenschaftliche Themen im Internet gibt. Der Blogartikel des Bremer Linguisten und Juniorprofessors Anatol Stefanowitsch ist so einer. …
Der Einwand von M. Mann, ein Deskriptivist müsse folgerichtigerweise auch Rechtschreibreformen ablehnen, ist sehr gut; ich habe auch schon mehrmals erwogen, ihn hier zu bringen.
Auf der Bonner Anhörung zur Rechtschreibreform sagte Peter Eisenberg am 4.5.1993 folgendes Beherzigenswerte:
»Die Schreibung des Deutschen ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung, die im wesentlichen durch den Sprachgebrauch bestimmt wurde. Der Einfluß von Grammatikern, Literaten und Sprachpflegern wird bis heute meist überschätzt. Das Ergebnis der Entwicklung ist ein graphematisches System, das Bestandteil der deutschen Sprache ist. Der Sprachwissenschaft kommt die Aufgabe zu, dieses System zu erforschen und zu beschreiben, genau so, wie sie etwa das phonologische und das syntaktische System beschreibt. Die Systematik einer Sprache, die Menge der Regularitäten des Systems, liegt dem Sprachgebrauch der Sprecherinnen und Sprecher zugrunde. Sie bilden ihr Sprachwissen. Dieses Wissen bleibt im allgemeinen unbewußt, steht aber nach abgeschlossenem Spracherwerb für den Sprachgebrauch zur Verfügung. Es ist zu unterscheiden zwischen Regeln und Regularitäten. Die Regularitäten des Deutschen sind zu erforschen und zu beschreiben. Sie sind Teil der Sprache und können nicht Gegenstand einer amtlichen Regelung sein.«
Die deutsche Rechtschreibung vor der Reform war also im wesentlichen ein ›Phänomen der dritten Art‹ (siehe Rudi Kellers Buch ›Sprachwandel‹). Man hätte 1996 die amtliche Rechtschreibregelung einfach ersatzlos aufheben und die weitere Entwicklung der Rechtschreibung ganz dem Wirken der ›unsichtbaren Hand‹ (eine Metapher von Adam Smith) überlassen sollen. Wir wissen auch ohne staatliche Vorschrift, wie man den Dativ gebraucht; also brauchen wir auch keine staatliche Vorschrift über den Gebrauch des Kommas.
Reformbedürftig war vor 1996 nicht die Rechtschreibung (im Sinne von ›Schreibusus‹), sondern ihre pedantische, wirklichkeitsfremde Darstellung im Duden. Dessen Haartspaltereien lassen sich in der Regel in Texten vor 1996 nicht nachweisen. (Ein Versuch, den tatsächlichen Schreibusus vor 1996 zu erfassen, stellt das erfreulich liberale Rechtschreibwörterbuch ›Normale deutsche Rechtschreibung‹ des Linguisten Theodor Ickler dar.)
Lesenswert ist auch folgendes Gespräch des Tagesspiegels mit Eisenberg:
http://www.rhetorik-netz.de/rhetorik/rechtsch3.htm
Darin sagt er unter anderem mit Bezug auf die Neuregelung der Getrennt- und Zusammmenschreibung: »Die Neuregelung hat gravierende Folgen für das Deutsche. Es ist nicht übertrieben, hier von einem Zerstörungsprozeß zu sprechen« und spricht etwas später von einer »Zerstörung der Sprache« durch Variantenvermehrung.
Sie scheinen ja, Herr Stefanowitsch, so etwas unter der Rubrik ›Das übliche Weltuntergangsgeschrei der Sprachnörgler‹ einzuordnen, aber Eisenberg ist jemand, der im allgemeinen weiß, wovon er redet.
Nicht eher “was bedeutet ein Wort wirklich”?
Nein, nicht die Sprache. Die Rechtschreibung.
Natürlich ist es das.
Bonne question, quoi.
Glauben Sie etwa, die Wissenschaftler halten zusammen? LOL. Wissenschaft ist kaum etwas anderes als Streitkultur.
Das ist wieder einmal ein Nord-Süd-Unterschied. Keine Ahnung, wo die Grenze verläuft, aber in der österreichischen Version der Schriftsprache werden Lenes auch am Wortende nie zu Fortes (stimmlos sind sie schon — das ist nicht dasselbe): Bund und bunt reimen sich für mich nicht.
Die QWERTY- oder selbst QWERTZ- oder sogar AZERTY*-Tastatur ist immer noch großer Blödsinn…
* Französisch. Aber nicht in Kanada oder der Schweiz.
Das ist schon wieder Sprache statt Rechtschreibung.
http://de.wikipedia.org/wiki/Argumentum_ad_verecundiam
Selbst wenn man das graphematische System einer Sprache nicht zum Sprachsystem rechnet, folgt daraus noch nicht ein Recht des Staates auf Eingriffe in die Rechtschreibung.
Warum ist es gut, wenn »die Schreibung möglichst die Aussprache reflektiert«? Als Antwort liegt die leichtere Lernbarkeit einer phonographischen Rechtschreibung auf der Hand. Aber daß das entscheidend sein soll, müßte begründet und nicht einfach als »natürlich« vorausgesetzt werden.
Der wichtigste Qualitätsmaßstab für Rechtschreibungen ist: »Wie gut ist diese Rechtschreibung zur Erreichung der Kommunikationsziele ihrer Verwender geeignet, d.h. wie leicht kann der Leser einen Text erfassen?« und nicht etwa: »Wie leicht läßt sich diese Rechtschreibung lernen?« Ein gutes Messer ist ja auch nicht eines, dessen Herstellung leicht war, sondern eines, das gut schneidet.
Die deutsche Substantivgroßschreibung zum Beispiel ist in der Aussprache nicht verankert und schwerer zu lernen als die von ihren Verfechtern so genannte ›gemäßigte‹ Kleinschreibung, aber leserfreundlicher: »Unsere Großschreibung […] erleichtert das Lesen. Selbst holländische Muttersprachler lesen schneller, wenn das Niederländische, das normalerweise eine gemäßigte Kleinschreibung hat, nach den Regeln des Deutschen geschrieben wird (Bock u. a. 1989; Bock 1990)« (Eisenberg, Grundriss der deutschen Grammatik, Bd. 1, 3. Aufl. 2006, S. 344). Will man die Vorteile für den Leser mit den Nachteilen für den Schreiber verrechnen, so muß man bedenken, daß man viel mehr liest, als man schreibt.
Das Problem der Lernbarkeit einer Rechtschreibung würde entschärft, wenn sich der Staat aus der Rechtschreibung zurückzöge, denn nutzlose Haarspaltereien sind von einem Invisible-hand-Prozeß nicht zu erwarten.
Herr Stefanowitsch hat einmal geschrieben, die einzige an Rechtschreibungen zu stellende Anforderung sei die Systematizität. Äußerst systematisch (und leicht zu lernen) wäre eine Rechtschreibung, die nur eine einzige Regel hätte, zum Beispiel: »Alle Phoneme werden durch das Graphem ‹a› wiedergegeben.«
Zum Vorwurf des Argumentum ad verecundiam: Natürlich ist die Tatsache, daß die Aussagen von Eisenberg stammen, kein Beweis für ihre Richtigkeit. Mir ging es darum, der Vorstellung entgegenzutreten, man könne derartige Einschätzungen der Rechtschreibreform als Geschrei von Sprachnörglern abtun.
Ich meine durchaus, die dt. Rechtschreibreform hätte demokratischer angegangen werden müssen, statt von den Unterrichtsministerien einfach durchgeboxt zu werden. Ich finde auch, dass sie, bis auf die Einführung von Logik in die Verwendung von ss bzw. ß, fast zur Gänze Mist ist. Aber dass man sich nicht demokratisch auf etwas einigen können soll, folgt daraus nicht.
Wenn es aber zu teuer ist, oder wenn die Handhabung einen Fechtkurs erfordert, kauft es trotzdem niemand.
Manche meinen, ein logosyllabisches System, wie Japanisch oder die späteren Keilschriftversionen, sei das leserfreundlichste — für Leser, die schon lesen können. Wenn es Jahre oder Jahrzehnte dauert, überhaupt lesen zu lernen, stellt sich die Kosten-Nutzen-Frage.
Stimmt. Das kommt daher, dass Intonation nicht geschrieben wird. “Ausländer, die deutschen Boden verkaufen” und “Ausländer, die Deutschen Boden verkaufen” spricht man ja in Wirklichkeit nicht gleich aus, obwohl dieser Unterschied nicht im /d/ liegt.
Im Gegenteil. Chaos würde entstehen. Dann würden unwissende Möchtegern-Etymologen halbgaren Blödsinn in Umlauf bringen. Und dann würde diese Situation mit der Zeit einfrieren (weil sich Leser leichter tun, wenn alle auf dieselbe Art schreiben). So geschehen im Englischen, das bis heute keine amtlichen Rechtschreibregeln hat — jeder Verlag und jede Zeitung hat einen eigenen Hausstil, obwohl sich diese alle stark ähneln, besonders innerhalb eines Landes.
Von einem Invisible-Hand-Prozess (so wie Evolution z. B.) ist fix zu erwarten, dass etwas herauskommt, das nicht bei Windstille unter seinem eigenen Gewicht zusammenbricht. Aber nicht mehr. Optimale Lösungen kommen nur heraus, wenn die Schwerkraft extrem stark ist und es ständig gewittert.
Dann würden unwissende Möchtegern-Etymologen halbgaren Blödsinn in Umlauf bringen.
Sie meinen, wie z.B. jemanden “verbläuen”? Oder: sich “schnäuzen”? Oder: die Suppe schmeckte “gräulich”? Oder der “Tollpatsch”?
Nein, so etwas wird durch eine Rechtschreibreform zum Glück unterbunden 😉 .
Hab ich nicht behauptet. Habe behauptet, dass das auf Englisch viel schlimmer ist (could, almond, debt, doubt, island…).
(Übrigens wäre ich für Hinweise auf die Etymologie von “verbleuen”, “schneuzen” und “greulich” dankbar. Letzeres kann ich mir denken: eine Zufallsähnlichkeit, die auf Englisch — grey/gray, grueling — nicht besteht. Stimmt das?)
Längere Liste von englischen Schreibungen, die weder etymologisch noch (anders als die deutschen Beispiele) phonologisch gerechtfertigt werden können, mit etwas Kontext.
Unbeachtet dessen, ob jemand oder wer regulatorisch über die Orthographie bestimmen darf, handelt es sich doch hier offenbar nicht um eine Reform, sondern um eine Harmonisierung, die generell begrüßenswert ist und Tradition hat, da ohne sie kultivierte Schriftsprachen bei stärkeren Einfluss der oralen Dialekte in kleinere Einheiten zu zerfallen drohen. Die Schrift – die logo-/ideographische natürlich viel stärker als phonem-/morphematische „Alphabete“ – hat eben die Möglichkeit, diverse Sprachgruppen mit unterschiedlichen Mundarten in einer Sprachkultur zu vereinen.
Ich halte es für ein faszinierendes Gedankenspiel, dies auch auf entfernter verwandte Sprachen anzuwenden. Wäre es bspw. undenkbar, eine gemeinsame, auf morphematischen Relationen aufbauende Schreibung für die romanischen Sprachen zu entwickeln, für das Deutsche, Niederländische und Luxemburgische oder für die skandinavischen Sprachen?
Man stelle auf Basis der sprachgeschichtlichen Entwicklungen (Lautverschiebungen etc.) einen einheitlichen Fundus von Buchstaben, ‑Kombinationen und (diakritischen) ‑Modifikatoren und Akzent-/Tonzeichen bereit, wobei aus pragmatischen Überlegungen jeder Bestandteil, der über das Lateinische / Englische hinausgeht, durch eine entsprechende Darstellung ersetzbar oder gleich optional sein sollte (z.B. mag ‹ś› durch ‹s›, ‹š› durch ‹sh› und ‹ş› durch ‹z› ersetzbar sein). Dann gruppiere man etymologisch verwandte Lexeme bzw. lexikalische Morpheme sprachübergreifend sowie grammatikalische Morpheme sprachintern und wende einheitliche Prinzipien der Graphem/Phonem-Morphem-Zuordnung an.
Selbstverständlich können sich nicht nur Lautung und Schreibung, sondern auch Bedeutung von Wörtern gemeinsamer Herkunft ganz anders entwickeln – so mag der gemeinsame Vorfahr Feuer bedeutet haben, in einer Sprache heute aber Licht, in der anderen Herd und in der dritten nur noch soziolektal Geschlechtsverkehr. Dies entwertet aber nicht die Fälle, in denen die Bedeutung tatsächlich weiterhin einander ähnelt, sondern wird von diesen derart dominiert, dass ein solcher Einwand irrelevant ist.
Mit solch einer translingualen Schreibung wird das Erlernen oder Verstehen einer anderen Sprechsprache zwar allenfalls unwesentlich vereinfacht, aber das Erlernen und Verstehen anderer Schriftsprachen – und die dominieren in unserer Kultur trotz der antizipierten Rückkehr des Oralen durch die Elektromedien immer noch – wird begünstigt. Außerdem gäbe es Doppelschreibungen nicht in der Form wie bei diesem Kompromiss zum Portugiesischen, sondern es gäbe eine allgemeine Form, die bei Bedarf um Hinweise (i.d.R. in Form von diakritischen Zeichen) zur Aussprache ergänzt werden kann, die aber nicht als Einträge, sondern bloß als Verfahren in Wörterbüchern auftauchen würden.
Glauben Sie ja nicht, wir sind hier in Brasilien allzu glücklich über die rechtschreibreform. Schon garnicht deswegen, daß “die brasilianische schreibung gesiegt hat”. Auch für uns — wie für die sonstigen portugiesischsprachigen länder — beinhaltet die reform z. t. ausgesprochenen blödsinn, so z. b. die bindestrichregeln und den wegfall des “trema” auf qüe / qüi / güe / güi, selbst wenn das “u” ausgesprochen wird (also nicht wie ke / ki / ge / gi).
Bis zu einer rationellen, leicht zu lernenden und einigermaßen logischen rechtschreibung ist der weg noch sehr weit!
Was im Deutschen allerdings nicht der Fall ist. Viele Dialekte machen Unterschiede, die nicht geschrieben werden. Die deutsche Schriftsprache ist kein kleinstes gemeinsames Vielfaches, sie ist ein zusätzlicher künstlicher Dialekt mit eigener Phonologie, eigener Grammatik, und eigenem Wortschatz.