In den letzten Tagen habe ich herausgefunden, dass es mit dem Bloggen bei mir so ähnlich ist, wie mit dem Joggen — wenn man ein- oder zweimal die Zeit dazu nicht findet, wird es schwer, sich wieder aufzuraffen. Aber jetzt nehme ich die Aktion Lebendiges Deutsch, da sie schon nicht zur Lebendigkeit der deutschen Sprache beiträgt, zum Anlass, wenigstens das Bremer Sprachblog vor der drohenden Leichenstarre zu bewahren.
Gesucht war eine Alternative für das Wort canceln. Ich hatte den Aktionären seinerzeit einen Blick ins Wörterbuch empfohlen, weil ich sie vor einem Fehler bewahren wollte, den sie gerne und häufig begehen — ein semantisch vielschichtiges und vielseitig verwendbares Lehnwort durch ein eher eindimensionales deutsches Wort zu ersetzen. Das LEO-Wörterbuch, das ich, allzeit hilfsbereit, verlinkt hatte, nennt für das englische cancel siebenundzwanzig deutsche Entsprechungen, von denen gut die Hälfte auch im Bedeutungsumfang des Lehnworts canceln enthalten sind: abbestellen, abblasen, abbrechen, absagen, annullieren, etw. aufheben, etw. auflösen, etw. ausgleichen, aushebeln, ausstreichen, beheben, durchstreichen, entwerten, entziehen, heben, kündigen, kürzen, löschen, stornieren, etw. streichen, tilgen, wegnehmen, widerrufen, zurücknehmen, zurückziehen, rückgängig machen, und ungültig machen. Das hat die Aktionäre nicht daran gehindert, relativ beliebig eine dieser Bedeutungsschattierungen herauszugreifen:
„Canceln“ könnte einfach „absagen“ heißen — so auch die häufigste Antwort auf das Suchwort des Monats April.
Könnte einfach? „Ich möchte mein Nutzerkonto canceln“ könnte also einfach „Ich möchte mein Nutzerkonto absagen“ heißen? Statt „Ich möchte meinen Kommentar canceln“ könnte ich einfach „Ich möchte meinen Kommentar absagen“ schreiben? Statt „Wie kann ich einen laufenden Speichervorgang canceln“ kann ich einfach fragen „Wie kann ich einen laufenden Speichervorgang absagen“? Anstelle von „Dann cancele ich Ihre Bestellung“ könnte die Mitarbeiterin eines Call-Centers mir auch mitteilen „Dann sage ich Ihre Bestellung ab“? Gut, eine gewisse Lebendigkeit würde dieser mutwillig grobe Umgang mit dem Wort absagen wohl in die deutsche Sprache hineinbringen, aber sicher nicht so, wie die Aktionäre sich das eigentlich vorgestellt hatten.
Wenn die Aktionäre nicht gerade damit beschäftigt sind, ihr fehlendes Sprachgefühl unter Beweis zu stellen, machen sie ja gerne Vorschläge, die keiner braucht. So auch dieses Mal:
Das Angebot des Monats: „Mädchentag“ — wäre das nicht ein nahe liegendes und hübsches Wort für eine nützliche Einrichtung, die wir modisch „Girl’s day“ nennen?, fragt die Aktion „Lebendiges Deutsch“.
Mädchentag — genial. Passt zum Muttertag und suggeriert, dass die vier alten Herren tatsächlich einmal im Wörterbuch nachgeschaut haben, was die Wörter girl und day wohl heißen mögen. Sie hätten sich natürlich auch einfach die Webseite des Girls’ Day (ja, der Apostroph ist den Aktionären verrutscht, der gehört ans Ende des Wortes) ansehen können. Dort hätten sie, direkt im Logo der Veranstaltung, deren offiziellen und sehr treffenden deutschen Namen gefunden: Mädchen-Zukunftstag.
Diesen Monat bitten die vier lebendigen Deutschen nicht einfach um eine Eindeutschung — nein, die Vorschläge sollen auch noch witzig sein:
Suchwort im Mai: Diesmal bittet die Aktion um Vorschläge, ob man sich für die überall plakatierte Redensart „to go“ (vor allem bei „Coffee to go“) etwas Praktisches einfallen lassen kann, idealerweise witziger als „zum Mitnehmen“.
Etwas Witz, das wäre doch eine erholsame Abwechslung zur unfreiwilligen Komik der Aktionäre. Ich würde ja gleich im Wörterbuch nachschlagen, aber ich gehe jetzt in den Bürgerpark und laufe zehn Kilometer.
Ich habe der Aktion Deutsche Sprache vorgeschlagen, “to go” doch durch “a porter” zu ersetzen. Ist ungleich eleganter. Im übrigen bestelle ich mir in solchen Etablissements immer einen großen, mittleren oder kleinen Cappuccino. Es gibt eben gute und schlechte Lehnsprachen.
Also ich würde ja für “Coffee To Go” “Kaffee Kon Go” vorschlagen. Witzigkeit eindeutig gegeben ;-).
Coffee to go = Kaffee auf die Hand
(Autsch!)
Wenn man dem allgemeinen Vorgehen der Aktion Lebendiges Deutsch folgt, gibt es ja (neben der Totalverweigerung) vier Möglichkeiten: 1) eine schlechte Übersetzung, die aber deutlich schlimmer klingen muss, als das Original (wie seinerzeit bei “Nachsteller” für “Stalker”) — z.B. “Kaffee zum Gehen”; 2) ein scheinbar verwandter, aber tatsächlich völlig zusammenhangsloser Begriff (wie seinerzeit bei “Blaue Stunde” für “Happy Hour”) — z.B. “Kaffee zu Fuß”; 3.) ein Ausdruck, der sich über das Bezeichnete lustig macht und kulturkritische Anklänge hat — z.B. “Kaffe für Wichtigtuer”; oder 4.) die Wiederentdeckung des Offensichtlichen — z.B. “Kaffee außer Haus”.
“Ein Kaffee für über die Straße” oder “Geh-Kaffee” als Gegenstück zu “Steh-Café”. Witzig genug?
@Frank Oswalt: Blaue Stunde für Happy Hour? Das ist ja gruselig. Die blaue Stunde ist doch die Zeit nach Sonnenuntergang, wenn es noch hell ist und alles in einem mehr oder minder tiefen Blau versinkt, das dann die Fotografen schätzen.
Was “canceln” angeht, so ist der Sache an sich nicht viel hinzuzufügen. Außer vielleicht, daß die Sprachpozilei in Wirklichkeit keine Ahnung davon hat. Denn was übersetzt wird sind ja nicht wirklich Wörter. Genauer: Eine Lesart eines Wortes in Sprache A (das Englisch trifft mit “word sense” besser!) wird übersetzt in die Lesart eines Wortes in Sprache B. Seit man in der Schule den Unterschied zwischen “bank” und “bench” sowie “sky” und “Heaven” gelernt hat, weiß man das eigentlich irgendwie. Umgekehrt geht das übrigens auch, mit den deutschen Wörtern “Orgel” und “Organ”, die im Englischen beide “organ” werden.
Es ist natürlich schade, wenn den Vertretern der Stiftung Deutsche Sprache solche Grund(er)kenntnisse der Sprachwissenschaft fehlen.
@DrNI: Blaue Stunde und Happy Hour hat Stefanowitsch seinerzeit hier besprochen. Ja, und die Grundkenntnisse sind wohl nicht das einzige, was der Aktion Lebendiges Deutsch fehlt — auch den gesunden Menschenverstand haben sie nicht mit Löffeln gefressen.
Kaffee zum Weglaufen. Finde ich jedenfalls schon länger, weil guter Kaffee nicht von Pappe sein kann.
Der Betreiber des Cafés vor meinem Haus hat immer wieder schöne Ideen, wie er seinen Kunden den Kaffee zum Mitnehmen schmackhaft machen kann: “Kaffee zum Gehen — Ein Euro zehn” oder “Kaffee — flink und schnell”.
Ich schlage vor:„Kaffee, den man nicht im Lokal trinkt, sondern den man in einem Pappbecher in die Hand gedrückt bekommt, so dass man Ihn mitnehmen kann, wohin man will” — oder: „Kaffee den man bezahlt, bevor man ihn trinkt, damit man nicht gezwungen ist, ihn dort zu verköstigen, wo er erworben wurde”. Beide etwas länger als das amerikanische Original, aber das kann ja mal vorkommen, wenn man auf Teufel komm raus versucht, Redensarten zu adaptieren.
“to go” ist aber auch wirklich der Untergang des Abendlandes. Im Frankfurter Hauptbahnhof hängt groß ein Werbeplakat von Burger King mit dem Schriftzug “to go”. Das muß man sich mal vorstellen! Jetzt gibt es sogar schon Fast Food zum Mitnehmen!
Verdammte Amerikaner, die machen alles kaputt. Erst unsere Sprache, jetzt auch noch unsere Esskultur.
@NvonX: Ich bin einverstanden und ebenfalls generell für die unnötige Verkomplizierung des Alltags.
Anstatt “to go” würde ich übrigens “to take” empfehlen. Ist zwar auch Englisch, wird aber wenigstens von englischen Muttersprachlern verstanden. 😉
Ah, die sonntägliche Dusseligkeit. Mit meinem letzten Kommentar wollte ich mich eigentlich auf Thomas Müller beziehen und noch folgendes schreiben: “Coffee to go” gehört genauso wie “Beamer” oder “Handy” zu den lustigen englischen Ausdrücken, die es im Englischen gar nicht gibt. Ich möchte nicht darüber absicken oder sprachblockwarten, aber irgendwie komisch bis interessant ist dieses Phänomen allemal!
Ist ja eigentlich schon komisch, dass es bei McDonald’s an der Kasse immer noch “hier essen oder mitnehmen?” heisst. Sind das die wirklichen Sprachhüter??
@buetal: ich sag nur “Finanzamt”, also “Mehrwertsteuer”.
Mich hat das auch immer gewundert. Aber die Sache ist einfach so:
Lebensmittel to go: 7% (wie damals bei 14% nichtreduzierter Mwst.)
Essen zum Daessen (er ist hier…): 19% und steigend.
Spielzeug etc.: 19%.
Also, wenn man Essen zum Mitnehmen einfach *nicht* mitnimmt, macht derjenige eine unverdiente Mehreinnahme, oder?
Ich bezahle 5 Euro (faul und immer noch zu warm hier).
Davon werden 35 Cent Mwst. abgeführt.
Ich gehe nicht raus (weil zu heiß…).
Also bleiben 60 Cent mehr bei McDo oder so in der Kasse, oder?
Der Bruttopreis bleibt ja der gleiche. Wobei ich mich frage, ob das jeder Fastfoodverkauf so genau nimmt bzw. ob die Steuerfander immer mal wieder Kontrollbesuche machen…
Stimmt das? Gibt’s hier BWLer, die hier aushelfen möchten?
PPS Umgekehrt natürlich auch: Daessen predigen, Mitnehmen-Essen tun.
@DrNI
“For here or to go?” fragt in Amerika der Verkäufer am Kaffeetresen. Und im Deli und im Chinaimbiß. Es wird also durchaus von Muttersprachlern gebraucht und verstanden. Der Fall liegt anders als beim “handy.” “To take” ist Quatsch, denn natürlich nehme ich den Kaffee. Hab ja schließlich dafür bezahlt.
Übrigens könnte man doch die Bezeichnung beibehalten, um anzuzeigen, daß es sich um die aus Amerika importierte Marotte handelt, Kaffee aus Pappbechern zu schlürfen. “Kaffee to go” bezeichnet nicht nur ein den transportablen Pott Kaffee, sondern ein Kulturphänomen. Wann übernehmen wir das Wort “travel latte”?
Seltsamerweise verhalten sich Sprachwissenschaftler in ihrer Kritik an ‘Sprachhütern’ in sprachlichen Dingen wertend: Die Versuche, gegen unnötige Anglizismen und Pseudoanglizismen etwas zu tun, sind ja selbst ein linguisitisch (und soziologisch) wissenschaftlich beobachtbares Phänomen und somit Gegenstand der Sprachwissenschaft. Daß die Aktion Lebendiges Deutsch dabei unwissenschaftlich vorgeht, ist kein Wunder: Sie wendet sich mit ihren Aufrufen an Laien. Wenn sich ein Sprachwissenschaftler als Privatperson sprachgestaltend auftreten will, ist ihm auch dies gestattet. Eco schrieb sogar Romane.
Sie sind insofern kein wirkliches linguistisches Phänomen, als sie die Einstellung einer kleinen Minderheit darstellen, die meint, sie müsse das Sprachsystem aller künstlich regulieren. Zwar können Minderheiten richtungsweisend sein, was die Entwicklung der Sprache betrifft, aber dies geschieht selten auf dem normativen Weg, sondern viel eher über Prestige. Und das Englische als Sprache hat in der Gesamtbevölkerung ein grösseres Prestige als die Aktion Lebendiges Deutsch.
Sollte die Aktion Lebendiges Deutsch tatsächlich einmal in der Lage sein, die Deutsche Sprache nach ihren Wünschen umzugestalten, kann man in 50–100 Jahren nochmal drüber reden und es als linguistisches Phänomen analysieren.
Die Kritik gegenüber “Sprachhütern” ist nicht so zu verstehen, als hätte man Angst davor, durch sie würde die Sprache degenerieren — genau das wäre ja Unsinn. Vielmehr ist diese Kritik genau dieselbe wie die von Evolutionstheoretikern den Kreationisten gegenüber (oder die von Statistikern schlecht recherchierten Forschungsergebnissen in Billigzeitungen gegenüber, übrigens auch etwas wirklich Lästiges): Sie vermitteln der Öffentlichkeit ein falsches Bild von der Sprachwissenschaft, bzw. vom Funktionieren der Sprache (also Metawissen) insbesondere dann, wenn in gewissen Schulen sogar Bastian Sick im Deutschunterricht bemüht wird.
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