Auch in anderen Ländern gibt es Leute, die völlig ungerechtfertigte Behauptungen über Sprache und Sprachen aufstellen und dafür auch noch bezahlt werden. Ein Auslandskorrespondent des Economist durfte zum Beispiel jüngst eine ganze Woche lang unqualifiziert daherschwafeln. Man könnte ein eigenes Blog starten, nur um die Denkfehler, sachlichen Fehler und unbegründeten Vorurteile zu sezieren, die er (sie?) dabei produziert hat. Uns soll eine kleine Kostprobe reichen:
[A]n entertaining pastime is to hunt for words that are either missing from a language, or unique to it. We’ve all chuckled over how only Germans could dream up Schadenfreude and how the English can’t say bon appetit because their cooking is so bad. However, I can tell you that not one of the languages I have studied has a word for “accountability”. I went to many conferences in Latin America where, after a long discourse about corruption and bad governance, someone would inevitably declare, “Necesitamos accountability”. Unfortunately, the plea never produced discernible results.
Es ist ein unterhaltsames Hobby, nach Wörtern zu suchen, die in einer Sprache entweder fehlen, oder die einzigartig für sie sind. Wir haben alle darüber geschmunzelt, dass nur die Deutschen die Schadenfreude erfinden konnten und dass die Engländer nicht bon appetit sagen können, weil sie so schlecht kochen. Ich kann Ihnen aber sagen, dass nicht eine der Sprachen, die ich studiert habe, ein Wort für „accountability“ hat. Ich habe viele Konferenzen in Lateinamerika besucht, auf denen nach langen Abhandlungen über Korruption und schlechte Regierungsführung unweigerlich jemand verkündete: „Necesitamos accountability. Leider hat diese Forderung nie wahrnehmbare Ergebnisse hervorgebracht. [Economist.com, 4. April 2008]
Die Mär von der „typisch deutschen“ Schadenfreude haben wir schon früher abgehandelt. Aber wie steht es mit der accountability? Nun, zu den Sprachen, die der Korrespondent des Economist studiert hat, kann das Deutsche nicht gehören, denn da kennt man die Rechenschaftspflicht und von mir aus auch die Rechenschaftspflichtigkeit sehr wohl. Und richtig — er kann kein Deutsch: „Ten years on various continents have given me fluency, more or less, in Spanish, French, Russian and Hebrew …, plus a working knowledge of spoken Arabic and Portuguese.“
Wie sieht es aber mit dem Spanischen aus, das er ja explizit anspricht? Also, ich weiß ja nicht, welches Wörterbuch der Autor verwendet, aber meins nennt als Übersetzungen das allgemeine responsabilidad und das auf eine tatsächliche Rechenschaftspflicht bezogene obligación de dar cuenta. Was ihm an diesen Übersetzungen nicht gefällt, bleibt sein Geheimnis. Ich vermute, ihn stört, dass diese Wörter — anders als das englische accountability keine Modewörter sind, mit denen man auf Konferenzen herumwerfen kann.
1. responsabilidad entspricht nicht ganz, meiner Meinung nach, dem englischen Wort “accountability”. responsabilidad wäre ja eher “responsibility” (Verantwörtlichkeit). http://www.wordreference.com/es/en/translation.asp?spen=responsabilidad. Accountability hat eine etwas andere Bedeutung als Responsibility, zumindest in dem Bereich von Politik: http://en.wikipedia.org/wiki/Accountability
2. Der Autor sagte, das ein Wort für accountability im Spanischen fehlt, nicht ein Begriff. Deshalb zählt obligación de dar cuenta nicht.
Wenn das Wort keine 1:1‑Übersetzung hat, dann übersieht man es aber auch leicht. Und konstruiert dann daraus einen Wahrnehmungsunterschied.
Ich habe meine französischen Bekannten damit aufgezogen, dass Paris so teuer wäre, weil es im Französischen kein Wort für billig/cheap gäbe. Das stimmt natürlich nicht, da es ja Wortgruppen gibt, welche das “billig” je nach Kontext auch im Französischen ausdrücken. Aber es hätte auch eine nette Kolumne gegeben 🙂
Ich habe eine Idee, was der Autor meinen könnte. Accountability ist ja nicht nur die Rechenschaftspflicht (also eine tatsächliche juristische Verpflichtung), sondern auch die Bereitschaft, für seine Taten oder Nicht-Taten geradezustehen (laut Merriam-Webster “an obligation or willingness […] to account for one’s actions”). Der Aspekt der Verpflichtung läßt sich so wie von Ihnen ausgeführt übersetzen, ins Deutsche ebenso wie ins Spanische, keine Frage.
Was der Autor vermißt, ist eben die andere Bedeutung, die der Bereitschaft. Und da fällt mir in der Tat auch kein griffiger deutscher Begriff ein (ein spanischer auch nicht, aber mein Spanisch ist dafür auch viel zu schlecht).
Der Autor sagte, das ein Wort für accountability im Spanischen fehlt, nicht ein Begriff. Deshalb zählt obligación de dar cuenta nicht.
Stimmt schon, aber ich bezweifle das der Autor den Unterschied versteht. Zum Beispiel:
Even the words [Hebrew] does have, it uses sparingly. “In the beginning, God created heaven and earth” has only five words in the original.
בראשית ברא אלהים את השמים ואת הארץ. Dass wären meiner Meinung nach mindestens 7 Worte. 9 wenn man “be” als eine Präposition und “ve” als eine Konjunktion (und nicht als Präfixe) betrachtet, sogar 11 wenn man das selbe mit dem bestimmten Artikel tut. Also entweder kann der Autor nicht rechnen, oder er hat keine Ahnung davon was ein Wort eigentlich ist.
Was “accountability” angeht, die Suche bei IATE ergibt 10 Treffer, wo in 6 Fällen “responsibilidad” dabei ist. Das finde ich schon überzeugend.
@ L. Rosen: Mir scheint der Autor eher nicht zwischen Wort und Begriff zu differenzieren. Es geht doch in dem Vorsatz darum, dass nur wir Deutschen den *Begriff* Schadenfreude haben. Das geht ja über das reine “Wer hat welches Wort” hinaus. Es wird überhaupt nicht differenziert, schon gar nicht zwischen dem Begriff und der Sache. Wenn ich das Zitat richtig verstehe, unterstellt er den Lateinamerikanern, dass “accoutnability” für sie ein völlig fremdes Konzept ist und sie deswegen keinen Begriff dafür haben und somit auch kein Wort. Analog dazu ist dem nichtdeutschen Teil der Welt die Sache “Sschadenfreude” so fremd, dass sie keinen Begriff dafür haben und somit auch kein Wort: Wort=Begriff=Sache.
Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückhalten, und muss sagen, an was mich die Debatte erinnert: An die Frage, ob Eskimos viele (200?) Wörter für Schnee haben. Trauen wir doch der Sprache mehr zu und glauben, dass sie jeweils erlaubt zu sagen was gesagt werden muss. Allerdings muss ja nicht immer alles überall gesagt werden (weswegen die Finnen kein finnisches Wort für Amoklauf haben). Wenn es aber doch gesagt werden muss, stellt die Sprache die Mittel dafür wohl schnell zur Verfügung. Siehe Wortistik-Blog, den (sehr empfindlichen) Seismographen für sprachliche Gärungsprozesse.
Accountability ist doch nur ein Modewort, mit dem sich möchtegern Manager wichtig machen. Da loht es sich nicht, darüber nachzudenken.