Ich freue mich immer, wenn ich in irgendeiner Zeitung etwas über die wichtige Rolle lese, die die Sprache in unserem Leben spielt. So wie letzte Woche im Lokalteil des Mindener Tageblatts, in dem unter der an sich schon diskussionswürdigen Überschrift „Sprache ist viel mehr als nur Worte“ über einen Vortrag zu eben diesem Thema berichtet wurde:
„Wir reden miteinander, um uns auszutauschen, um zu kommunizieren. Mit unserer Sprache vermitteln wir Wissen, klären Fragen, geben Antworten, erschließen uns die Welt. Wir pflegen mit ihr Beziehungen oder zerstören sie“, erklärte Annegret Tesche.
Dem kann ich mich nur nachdrücklich anschließen. Es ist schön, dass so etwas auch einmal in der Zeitung steht. Aber dann folgt sofort die Ernüchterung:
Sprachforscher hätten herausgefunden, dass nur sieben Prozent der Kommunikation durch die Sprache und den Inhalt der Worte geschehe. 38 Prozent werde durch den Tonfall und 55 Prozent durch Körpersprache bestimmt.
Man kann dem Mindener Tageblatt gar keinen Vorwurf machen, für die Fehlinformation, die sie da weiterverbreiten. Neben den Mythen von den hundert Eskimowörtern für Schnee und den geschwätzigen Frauen und schweigsamen Männern ist die Formel 7% Sprache + 38% Tonfall + 55% Körpersprache eine der hartnäckigsten und am weitesten verbreiteten sprachlichen Irrtümer, die ich kenne. Wenn man im Internet nach den Suchwörtern Körpersprache “38 Prozent” sucht, findet man hunderte von Seiten auf denen diese Formel im Brustton der Überzeugung verwendet wird, um die Existenz von Kommunikationstrainern zu rechtfertigen.
Aber an der oben zitierten Behauptung ist fast alles falsch. Zunächst stammt sie nicht aus der Sprachwissenschaft, sondern aus der Psychologie, genauer gesagt von Albert Mehrabian, Professor Emeritus der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Das ist noch nicht weiter schlimm, obwohl es darauf hindeutet, dass die Vortragende die Studie, aus der die Formel stammt, nie in der Hand hatte.
Zweitens, und das ist schon bedeutend wichtiger, bezieht sich die Formel nicht auf Kommunikation allgemein, sondern ganz speziell auf Aussagen über Gefühle. Wenn Menschen über etwas anderes als ihre Gefühle reden, ist die Formel schlicht nicht anwendbar, worauf Mehrabian auf seiner Webseite auch deutlich hinweist. Wenn ich beispielsweise einen Vortrag halte, mit meinem Chef über eine Gehaltserhöhung verhandle, oder all die anderen Dinge tue, die mir Kommunikationstrainer typischerweise beibringen, geschieht die Kommunikation nach allem, was wir wissen, zu 100 Prozent durch die Sprache.
Drittens gilt die Formel nicht einmal bei jedem Gespräch über Gefühle, sondern nur in Situationen, wo der Inhalt des Gesagten und die Stimme oder Körpersprache nicht übereinstimmen. Wenn der Chef uns zum Beispiel seine große Wertschätzung ausspricht, seine Stimme dabei aber abweisend und kalt klingt, oder wenn unsere Zuhörer uns versichern, dass unser Vortrag höchst interessant war, sich dabei aber mit verschränkten Armen von uns abwenden — dann tendieren wir dazu, der Stimme und/oder Körpersprache mehr Gewicht beizumessen, als den Worten.
Aber das ist so unspektakulär, dass wir keinen Kommunikationstrainer bräuchten, um uns das zu sagen.
Sehr interessant, was so heutzutage in der Zeitung veröffentlicht wird. Möglicherweise werden solche Artikel kurz vor Readktionsschluss verfasst und nicht mehr auf ihre Wertigkeit überprüft. Bedeutsamer ist jedoch auch, dass dadurch viele falsche Informationen an den Endbenutzer gerate und auf diese Weise auch die Handlungsweise einiger Menschen nachhaltig beeinflusst; im negativen Sinne.
Stelle man sich ein mal vor, dass die Sprache keine Rolle, bzw. eine sehr geringe Rolle, spielen würde in einem Vorstellungsgespräch. Wie soll der Interviewer in diesem Gespräch nur an hand der Körpersprache herausfinden, was der Bewerber denn so ausdrücken will.
Eher im Gegenteil. Dort spielt die Sprache und die Artikulationsweise eine besonders wichtige Rolle; die Körpersprache und der Tonfall eher weniger.
Trotz alle dem, ein empfehlenswerter Beitrag.
Fatih
“Wenn ich beispielsweise einen Vortrag halte, mit meinem Chef über eine Gehaltserhöhung verhandle, oder all die anderen Dinge tue, die mir Kommunikationstrainer typischerweise beibringen, geschieht die Kommunikation nach allem, was wir wissen, zu 100 Prozent durch die Sprache.”
Kann man das wirklich so pauschal sagen?Bei dem Halten eines Vortrags mag es durchaus zutreffen, aber gerade bei Verhandlungen über eine Gehaltserhöhung spielen nonverbale und häufig auch nonvokale Faktoren doch eine große Rolle, oder nicht?
“Wenn ich beispielsweise einen Vortrag halte, mit meinem Chef über eine Gehaltserhöhung verhandle, … geschieht die Kommunikation nach allem, was wir wissen, zu 100 Prozent durch die Sprache.”
Ich bin kein Profi auf diesem Gebiet, aber ist diese Aussage nicht auch etwas einseitig? Wenn ich mein Ansinnen vorbringe, und der Chef lehnt sich zurück, verschränkt die Arme und zieht eine Augenbraue hoch, dann weiß ich doch sofort, ein paar gute Argumente müssen noch nachgelegt werden. Verbalisieren muss er dann nur noch die Gründe, warum er nicht einverstanden ist — ganz in Übereinstimmung mit seiner Körpersprache.
@ Mate Madunic: Ähhh, das wollte ich auch ungefähr genau so sagen — wie man sieht …
Lieber Juniorprofessor AS,
bislang habe ich Ihren Aussagen oft zustimmen können. Diese Aussage erfordert jedoch sofortiges Eingreifen.
Spätestens nachdem ich bei Ihrem Amtsvorgänger Prof. Wagner Ende der 70er Jahre mal eine Staatsexamensarbeit über “Nonverbale Kommunikaion” schreiben durfte (nachdem er mich lange genug mit Transformationsgrammatik gequält hatte), weiß ich, dass weder die einen noch Ihre Zahlen (“100%”) stimmen. So verriet uns Ihr unsteter Blick und häufigeres Augenflackern im ZDF diese Woche ein ansonsten gut kontrolliertes “Lampenfieber”.
Wie der Prozentsatz letztlich ist — und da haben Sie wieder einmal Recht — hängt von der Situation / dem Kontext ab. Aber dass Sprache 100% “digital” ist, das können Sie zwar gerne behaupten, aber den Beweis erbringen Sie dafür m. E. nicht.
Man merkt, dass Sie als Angestellter im Öffentlichen Dienst mit C‑Besoldung (?) nie Gehaltsgespräche führen mussten ;-))
Und ich nochmal hinterher: Es gibt da ja nicht nur den Chef — ich denke, der wird sich auch genau ansehen, _wie_ ich meine Forderung (meinen Wunsch?) nach mehr Gehalt vortrage: Selbstsicher, so, als hätte ich noch Trümpfe im Ärmel? Oder schüchtern, als würde ich selbst nicht an die Berechtigung meiner Forderung glauben?
In jedem Fall gibt es Alphatierchen, die schmelzen einen ohne Worte weg!
Interessanterweise bleiben zwei Kardinalfälle der rein sprachlichen Äußerung unberücksichtigt: Telefon, weil man da die Signale des anderen nicht sieht, und Internet (i.e. Kommentare in diesem Blog), wo noch nicht einmal der Tonfall ausgewertet werden kann.
Mir fällt leider nicht selten auf, dass meine Kommentare hier, wenn ich sie fertig lese, mir selbst missverständlich vorkommen, weil dann die innere Stimme nicht mehr klingt, die beim Verfassen noch gesprochen hat.
Obwohl ich mich hier aufgrund des undialektischen und auch etwas unfairen Verhaltens des Sprachblogführers nie wieder sehen lassen wollte, ist das Thema doch wichtig genug, um wenigstens ein Wort dazu zu sagen.
In der Tat, Sprache ist viel, viel mehr, als nur Worte. Leider muß man diese Trivialität immer wieder betonen, denn die Vorreiter des Frühenglischen in deutschen Schulen und Kindergärten definieren Sprache tatsächlich nur als eine Menge von Bezeichnungen für Dinge, etwas syntaktisch geordnet, um ihr Süppchen umso leichter zu kochen, die Muttersprache durch eine oberflächliche Globalsprache zu verdrängen.
Wenn man nun dem folgt, was Frau Tesche anschließend geäußert hat, meint sie natürlich “Eine Botschaft ist viel mehr, als nur Worte”. Aber selbstverständlich .. Frau Tesche ist dann nur in die verkehrte Richtung gesaust. Es geht nicht um 93% Ton- und körperlicher Information, sondern nichtsprachlicher Information, die implizit, abhängig von den Partnern und eren Kontext an jedem Laut und der Lautkombination der Botschaft hängt. Eine Botschaft verkörpert nämlich ein semiotisches Netz (Sinnprozeßnetz), das ich intern zusammengestellt habe, um eine Botschaft an eine (vertraute, bekannte, lose bekannte oder fremde) Person, oder ein Auditorium, das denselben tagesaktuellen Kontext hat wie ich, loszuwerden. Und je nach Empfänger und gemeinsamem Kontext kann ich in die Botschaft mehr oder weniger semiotische Information hineinverschlüsseln. Wenn ich heute z.B. Liechtenstein sage, so ist das was anderes, als wenn ich es vor 3 Wochen gesagt hätte.
Das Wesentliche bei einer Botschaft ist die nichtsprachliche Information. Sie kann in der Tat bei vertrauten Personen bis zu 90% ausmachen,ohne Körpersprache. Bei fremden Personen geht es allerdings bis auf normales Tageskontext- oder Lexikon-Niveau herunter. Weil die bisherige Linguistik diesen Aspekt fast völlig übersehen hat, bzw. schlicht in dem nebelhaften Begriff “Pragmatik” versteckt, ist z.B. Rechnerlingiistik bis heut noch auf keinen grünen Zweig gekommen, sie saust sogar in die verkehrte Richtung (statistische Methoden, kleben nur noch am Text).
Eins ist jedoch sicher — Sprache ist viel mehr als eine Sammlung von Wörtern, die Dinge oder Zusammenhänge bedeuten.
Über das modernste und adäquateste Modell der Sprache als solche möchte ich mich aus Zeitgründen aber hier nicht auslassen.
Herr Madunic, Wivo, Herr Heidtmann, Herr Hömig-Groß, ich habe mich da wohl etwas zu subtil und deshalb missverständlich ausgedrückt. Sie alle haben vermutlich Recht, dass Kommunikation nie zu 100 Prozent auf der sprachlichen Ebene abläuft. Ich habe ja geschrieben, „die Kommunikation [geschieht] nach allem, was wir wissen, zu 100 Prozent durch die Sprache und wollte damit darauf hinweisen, dass für diese Situationen keine Forschungsergebnisse vorliegen.
Herr Heidtmann, wenn Sie dazu auf der Grundlage Ihrer Examensarbeit Genaueres sagen können, würde ich mich über einen Gastbeitrag für das Bremer Sprachblog sehr freuen.
Wivo, die spezielle Situation, die Sie beschreiben, ist ja wieder die, auf die die Formel eventuell anwendbar ist: die Kommunikation von Gefühlen/Einstellungen.
Herr Heidtmann, zum „Augenflackern“ — das war nicht einem gut kontrollierten Lampenfieber geschuldet, sondern dem Aufbau von Monitoren und Telepromptern im Studio, von denen ich mich, als Medienneuling, habe ablenken lassen. Da sieht man, wie leicht Körpersprache falsch interpretieren kann… Und zu Ihrer Anmerkung, dass ich „als Angestellter im Öffentlichen Dienst mit C‑Besoldung (?) nie Gehaltsgespräche führen musste“ — erstens bin ich ja nicht als Professor geboren worden, sondern habe jahrelang mein Geld in der freien Wirtschaft verdient, und zweitens werde ich nach W‑Besoldung bezahlt, Gehaltsgespräche gehören damit für mich auch an der Universität zum Arbeitsalltag…
Lieber AS, W‑Besoldung, da kann mal sehen, was es inzwischen alles gibt!
Klaus Däßler hat m. E. Recht, wenn er
die vernachlässigte “Pragmalinguistik” hier benennt. Leider haben Linguisten m. E. viele Jahre rein quantitative Methoden bevorzugt.
Doch auch Noam Chomsky hat dann ja noch eine entscheidende Kurve im Leben genommen, nachdem er sich jahrelang vom Pentagon hat bezahlen lassen, nur um herauszufinden, ob man russische Texte auch von einem Computer übersetzen lassen kann. Doch schon beim Satz “Jeanette loves firemen who are very sexy” hat das System angesichts “ambiguer” Deutungen angefangen zu klemmen.
Nee, mit einer Staatsexamensarbeit von 1979 möchte ich mich hier nun wirklich nicht mehr nachträglich blamieren. Es gibt da wunderbare Bücher von prominenteren und kompetenteren Kollegen, ich denke da nur an Sammy Molcho oder auch an Horst Rückle, der über “Körpersprache im Beruf” geschrieben hat.
Als Trainer u. a. auch im Bereich Verkauf (ja, da kann man mit einem Staatsexamen Englisch, Schwerpunkt Linguistik auch landen), achte ich heute immer noch auf körpersprachliche Signale. Denn diese sind meist “ehrlich”, weil schwer kontrollierbar.
khh
Ob mein Chef die Arme verschränkt oder nicht kommt auch darauf an wie ich mein Anliegen rüber bringe. Ob nonverbal oder verbal, wichtig ist das ich sein Interesse erwecke. Und hier kommt mir die nonverbale Kommunikation sehr zu Hilfe. Genauso wie ich erkennen kann wir er darauf reagiert, kann ich ihn ein Gespräch leiten.Die Kunst ist es Rapport mit ihm zubekommen und dafür brauchen wir die nonverbale Kommunikation. Wir müssen uns an dem anderen anpassen um erst einmal in Einklang zukommen. Das heißt körperlich und stimmlich. Reden kann man viel.
WER HILFT? „DETERMINIERENDE SÄTZE“ GESUCHT!
Ich bin auf der ergebnislosen Suchen nach dem Namen eines Stilfigur der geschriebenen Sprache: Sätze, die sich beim Lesen/in Interaktion mit dem Leser „verselbständigen“/“lebendig werden“. So etwas in Richtung von „Wer dies liest, ist doof.“ (nur natürlich viel, viel intelligenter. Ich las einmal einen äußerst interessanten Artikel über dieses sprachliche/schriftliche Phänomen, doch leider bleibt meine gegenwärtige Suche frustran. Wer kann mir mit Info über dieses „sich selbst erfüllende“ Sprachspiel helfen? Wer weiß, wie man so etwas nennt? Dankeschön.
Die Stichworte “Rekursion” und “Eigenwerte” (= “seltsame Attraktoren”) fallen mir dazu ein.
In den Vorträgen Heinz von Foersters werden solche Beispiele öfters mal bemüht, aber weiterführende Literatur kann ich dazu nicht angeben.
Meinen Sie performative Sätze? Bei denen der gesprochene Akt durch das Aussprechen vollzogen wird, zB. “Ich gratuliere Ihnen.”
Davon abgeleitet: Performativer Widerspruch, zB. “Ich lüge gerade”, “Pauschale Aussagen sind niemals wahr.”
Ihhh… was hat das mit meinem End-Tag für die Italics gemacht?