Es ist klar, dass eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf deutschen Autobahnen eine gute Idee wäre: sie würde mit einem Schlag den Benzinverbrauch, die Unfallrate und den Adrenalinspiegel entfesselter Fahrer von übermotorisierten Oberklassewagen senken. Es ist auch klar, dass selbst entfesselte Fahrer meistens nicht viel von der Abwesenheit einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung haben, da sie sich ja doch mit lokalen Geschwindigkeitsbegrenzungen herumärgern müssen. Und es ist klar, dass es in Deutschland in absehbarer Zeit keine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung geben wird, denn die Fiktion vom schnellen Fahren ist längst ein Sinnbild für Freiheit und Unabhängigkeit geworden.
Das alles muss man im Kopf haben, wenn man die Diskussion um ein allgemeines Verbot von Feuerwaffen in den Vereinigten Staaten verfolgt. Natürlich wissen wir, dass man den meisten Menschen unter keinen Umständen ein Gewehr oder eine Pistole in die Hand geben sollte, und dass die amerikanische Gesellschaft von einem Verbot deshalb nur profitieren könnte. Aber genauso wissen die Amerikaner, dass kein Mensch jemals schneller als 120 Stundenkilometer fahren sollte und deshalb gibt es auf allen Autobahnen in den USA Tempolimits. Aber der Besitz von Feuerwaffen ist für die Amerikaner ein Symbol ihrer Freiheit, das nicht wegzudenken ist.
Das Recht auf diesen Besitz leiten sie aus dem zweiten Zusatz ihrer Verfassung ab, der wie folgt lautet:
A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed.
Ins Deutsche übersetzt bedeutet das… ja, das ist genau das Problem. Was genau dieser Satz eigentlich bedeutet ist höchst umstritten und immer wieder Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen gewesen. Im nächsten Monat wird sich sogar der United States Supreme Court, das Verfassungsgericht der Vereinigten Staaten, mit dieser Frage auseinandersetzen (die juristische Vorgeschichte des Falles erspare ich mir, sie ist hier gut zusammengefasst).
Die Frage, mit der sich auch in der Vergangenheit schon amerikanische Gerichte beschäftigen mussten, ist die, ob der Zweite Verfassungszusatz tatsächlich ein individuelles Recht auf den Besitz von Feuerwaffen garantiert, oder ob damit lediglich das Recht einzelner Bundesstaaten sichergestellt werden soll, bewaffnete Milizen aufzustellen.
Ein grundsätzlicher Unterschied wie dieser sollte, zumal bei einem Gesetzestext, ja eigentlich klar sein, aber der Satz birgt einige sprachliche Finessen, die genau diese Frage berühren. Nun würde es sich anbieten, bei der Interpretation solcher Finessen Sprachwissenschaftler zu Rate zu ziehen, aber die Gerichte haben das stets äußerst ungern getan. Glücklicherweise gibt es im amerikanischen Rechtssystem ein Konstrukt, dass es jedem erlaubt, einem Gericht auch ungefragt seine Meinung zu einem laufenden Verfahren vorzulegen. Amicus curiae, „Freund des Gerichts“, nennt sich diese Regelung, von der in der anstehenden Verhandlung auch drei Sprachwissenschaftler — die Sprachhistoriker Dennis E. Baron und Richard W. Bailey und der Diskursanalytiker Jeffrey P. Kaplan — Gebrauch gemacht haben (die vierzigseitige Amicus-Curiae-Petition findet sich hier [PDF, 228 KB]). Die drei sind der Meinung, dass der Verfassungszusatz sich ausschließlich auf das Recht der Bundestaaten bezieht, armeeartige Milizen zu betreiben.
Übersetzen wir als Orientierungshilfe den Satz erst einmal auf eine Art ins Deutsche, die der (angeblichen) Vieldeutigkeit des englischen Originals Rechnung trägt, auch wenn das dann etwas holprig klingt:
Eine wohlgeordnete Miliz, notwendig für die Sicherheit eines freien Staates seiend, das Recht der Menschen, Waffen vorzuhalten und zu tragen, soll nicht eingeschränkt werden.
Die Sprachwissenschaftler liefern nun insgesamt drei Gründe für ihre Interpretation dieses Satzes:
- Der Teilsatz a well regulated Militia, being necessary to the security of a free State kann aus grammatischen Gründen nur als Rechtfertigung des folgeneden Hauptsatzes interpretiert werden.
- Das Partizip well regulated deutet eindeutig darauf hin, dass nur Mitglieder einer staatlichen paramilitärischen Organisation Waffen tragen dürfen.
- Die Redewendung bear arms bezog sich zur der Zeit, in der die Verfassung entstand, ausschließlich auf militärische Kontexte.
Der erste Punkt erschließt sich einem deutschen Muttersprachler vielleicht nicht unmittelbar, denn es handelt sich bei dem betreffenden Teilsatz um eine sogenannte „absolute Konstruktion“, die es in der deutschen Sprache so nicht gibt (aber wer in der Schule Latein hatte, sollte solche Sätze kennen). Diese Konstruktion kann im Englischen zusammen mit dem Partizip Präsens nur eine einzige Sache bedeuten: was in der absoluten Konstruktion steht, liefert die Begründung für das, was im darauf folgenden Hauptsatz steht.
Eine korrekte Übersetzung dieses Teils lautet also unzweifelhaft:
Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist…
Nun muss das nicht unbedingt heißen, dass nur Milizionäre Waffen tragen dürfen. Die Verfasser könnten durchaus ein allgemeines Recht auf Waffenbesitz im Kopf gehabt haben, das dann eben unter anderem die Grundlage für eine bundesstaatliche Miliz sein könnte.
Hier kommt der zweite Punkt ins Spiel. Die drei Sprachwissenschaftler weisen darauf hin, dass das Wort militia in der Verfassung häufig ohne Einschränkungen wie well regulated vorkommt, und dass die Urheber der Verfassung diese Phrase hier nicht verwendet hätten, wenn es ihnen nicht darum gegangen wäre, die geordneten Umstände zu betonen, unter denen die Bürger Waffen tragen dürfen. Ihrer Meinung nach ergibt sich daraus, dass eben nicht jederman, sondern nur die Mitglieder einer bundesstaatlichen Miliz Waffen tragen dürfen.
Der dritte Punkt ist vielleicht am interessantesten, da er allein fast ausreichen würde um die anderen beiden Argumente überflüssig zu machen. Ich habe ihn, anders als die beiden anderen Gründe, in früheren Diskussionen um den Verfassungszusatz auch nie gehört.
Wenn ich auf Deutsch sage, dass ich eine Waffe trage bedeutet das schlicht, dass ich eine Waffe dabei habe. Wozu ich diese Waffe verwenden will und ob ich sie überhaupt besitzen darf, darüber sage ich damit nichts. Aber das ist nicht mit allen Redewendungen so. Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich eine Waffe führe, kommuniziere ich damit, dass ich zum Tragen dieser Waffe berechtigt bin. Ein Polizist, ein Jäger oder ein Sportschütze kann eine Waffe führen, ich aber habe keinen Waffenschein und kann das deshalb nicht. Und wenn ich sage, dass eine Gruppe von Leuten unter Waffen steht, kann das nur bedeuten, dass sich diese Leute in einem kriegerischen Konflikt befinden oder damit rechnen, dass ein solcher Konflikt bevorsteht. Eine Gruppe von Jägern oder Sportschützen steht nicht unter Waffen.
Baron und seine Kollegen argumentieren nun, dass es mit der Redewendung bear arms zur Zeit der Gründerväter ähnlich war: sie haben alle verfügbaren Dokumente dieser Zeit untersucht und herausgefunden, dass diese Redewendung immer nur dort verwendet wird, wo es um Soldaten oder Milizionäre geht. Das gilt allerdings nur für die einfache Form der Redewendung: es finden sich durchaus Fälle, wo etwa von der Jagd die Rede ist, aber dann ist die Redewendung immer modifiziert (z.B. bear arms for the purpose of killing game „Waffen zum Zwecke des Tötens von Wild tragen“). Da im Verfassungszusatz solche zusätzlichen Informationen nicht vorkommen, kann man davon ausgehen, dass sich die Redewendung hier nur auf die militärische Verwendung von Waffen bezieht.
Eine korrekte Übersetzung ins Deutsche würde nach dieser Argumentation also etwa so lauten:
Da eine wohlgeordnete Miliz notwendig für die Sicherheit eines freien Staates ist, darf das Recht der Menschen, unter Waffen zu stehen, nicht eingeschränkt werden.
Ich bin überzeugt davon, dass die drei Sprachwissenschaftler mit ihrer Argumentation Recht haben. Nützen wird das allerdings nichts. Ob ein Gericht die Einwände eines Amicus Curiae in Betracht zieht, liegt in seinem eigenen Ermessen. Und meine Vorhersage ist, dass den Richtern ein Ursymbol amerikanischer Freiheitsfantasien mehr Wert sein wird, als sprachlicher Realismus.
…da sie sich ja doch mit lokale Geschwindigkeitsbegrenzungen herumärgern müssen.
Sollte es in diesem Fall nicht “lokalen Geschwindikeitsbegrenzungen” heissen?
mfg
Josef Zierer
[Danke! A.S.]
Da ich Waffen lt. Gesetz, z.B. auf befriedetem Besitztum (§ 12), u.U. ohne Erlaubnis führen darf und bei unberechtigtem Führen bestraft werde (§ 52), nehme ich gerade nicht an, dass jeder, der nach der Sprache der Juristen eine Waffe führt, auch einen Waffenschein hat.
Dirk, das ist ein interessanter Hinweis. Die Verwendung des Wortes führen im Waffengesetz zeigt genau das, worauf es mir ankam: wenn ich sage, dass ich eine Waffe führe beziehe ich mich damit auf ein gesetzliches Rahmenwerk. Wenn ich sage, dass ich eine Waffe trage, sage ich damit nur, dass ich sie dabei habe.
Das mit den Waffen ist mir, slightly OT, schon immer ein schöner Indikator dafür gewesen, dass Deutsche (Europäer?) und Amerikaner unterschiedlicher kaum sein könnten: bei uns hält man schnelles Autofahren auf breiter Front für völlig ungefährlich und für ein Symbol der Freiheit, Waffen hingegen für sehr gefährlich; in Amerika ist es — wie oben beschrieben — genau umgekehrt.
Einen ähnlichen Gegensatz der Bewertung gibt es bei Sex und Gewalt: Wir halten Sex für normal und Gewalt für krank; in den USA ist es eher umgekehrt — eine solche Debatte wie sie bei uns um das Verbot “Gewalt beherrschter”(sic!) Spiele geführt wird scheint mir in den USA unvorstellbar.
Das nährt meinen Verdacht, dass im Sozialen (im Sinne von Gesellschaftlichen) nichts normal, unnormal oder hartes Faktum ist — soziale Wirklichkeit erscheint mir irgendwie zunächst nach Belieben konstruiert und anschließend als normativ missbraucht. Und weder Konstruktion noch Missbrauch folgen irgendwelchen der Sache innewohnenden rationalen Kriterien, sondern eher Regeln, um deren Erforschung sich Niklas Luhmann verdient gemacht hat.
Dazu kommt noch die Interpunktion aus dem 18. Jahrhundert… es ist ziemlich klar, dass der erste und der dritte Beistrich nur Pausen anzeigen oder so und nach heutiger Praxis weggelassen werden würden, aber andere Interpretationen sind auch schon vorgetragen worden.
Was zu tun ist, ist für mich völlig klar: Die simple Tatsache, dass die Bedeutung des 2. Verfassungszusatzes nicht automatisch einleuchtet, beweist, dass er verändert werden muss. Genau das wird aber kaum passieren — es würde einen weiteren Verfassungszusatz verlangen, und dafür braucht man 3/4 der Staaten usw. usf.…
Deutschland ist das letzte Land ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Nicht, dass sich tatsächlich jemand an die 130 km/h auf Autobahnen halten würde, aber existieren tut die Beschränkung.
Es gibt sie — nach jedem Schulmassaker findet sich jemand, der solche Spiele verantwortlich macht –, aber auf sehr kleiner Flamme, scheint mir.
Dem “sic” kann ich mich übrigens anschließen. Entweder “Gewalt” ist ein Instrumental/Ablativ, oder gewaltbeherrscht ist ein einziges Wort. Instrumental oder Ablativ haben wir auf deutsch keinen, also…
Mit der Auseinanderschreiberei ist die Rechtschreibreform eh schon gegen den Trend gegangen, aber “Gewalt beherrscht” ist sogar nach dieser Logik falsch.
Jeder der eine Waffe bei sich hat, führt, gleichviel, ob er sich im Einklang mit dem Gesetz befindet, oder nicht. Ihre differente Betrachtungsweise findet weder in der Praxis, noch im Gesetz eine Stütze. Im Strafrecht wird explizit das Führen einer Schußwaffe unter Ahndung gestellt, vorausgesetzt, die erforderliche behördliche Erlaubnis fehlt. Daher wankt Ihre Argumentation erheblich.
Die drei Gründe kommen jeweils von unterschiedlichen Amici curiae? Ich hatte bisher nur was über die Begründung mit der Absolutkonstruktion gelesen (WIMRE im Blog Concurring Opinions).
Hmm, nochmal hochgescrollt: Die haben einen gemeinsamen Schriftsatz verfaßt. Da wundert es mich jetzt irgendwie doch, daß der Autor bei C. O. bloß den ersten Punkt aufgegriffen hat …
“Dazu kommt noch die Interpunktion aus dem 18. Jahrhundert…”
Ich meine mich (wieder aus dem Eintrag bei C. O.) daran zu erinnern, daß verschiedene Fassungen des Verfassungszusatzes mit unterschiedlicher Kommasetzung existieren und der daher von Senat, Repräsentantenhaus und gesetzgebenden Organen der Bundesstaaten zum Teil in verschiedenen Fassungen beschlossen wurde.
“Was zu tun ist, ist für mich völlig klar: Die simple Tatsache, dass die Bedeutung des 2. Verfassungszusatzes nicht automatisch einleuchtet, beweist, dass er verändert werden muss. Genau das wird aber kaum passieren — es würde einen weiteren Verfassungszusatz verlangen, und dafür braucht man 3/4 der Staaten usw. usf….”
Ist ja in Deutschland genauso. Aber das Problem dürfte sein, daß die US-Bundesstaaten untereinander unterschiedlicher sind als die deutschen Bundesländer.
(“Wo kommen Sie her? Aus Iowa?” — “Nein, aus Utah.” — “Oh, das tut mir leid” — Na, aus welchem Film stammt das?)
Fargo?
Vielen Dank für diese interessante Analyse! Wenn ich auf einen Nebenaspekt reinzoomen dürfte:
“The right of THE people” ist direkt nur mit dem Recht des Volkes übersetzbar, nicht mit dem Recht der Menschen (das wäre “the right of all people” oder dergleichen).
Ich fühle mich nicht sprachkompetent genug, beurteilen zu können, ob das Attestieren des Rechts für ein ganzes Volk dieses Recht in diesem Kontext wirklich für jeden einzelnen bedingt. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass dem eigentlich nicht so sein sollte, was nochmal bestätigen würde, dass die Verfasser nicht an bewaffnete Freelancer dachten.
(Mir ist bewusst, dass der Beitrag 8 Jahre nach erscheinen nicht mehr viel Traffic haben dürfte. Sei’s drum.)
Kommt mir so ein bisschen vor, wie Leute, die über Bibelstellen oder Koransuren diskutieren.
Die sprachhistorische Analyse, die akribischen Textstellenvergleiche, der Fanatismus, der teilweise zu Tage tritt…
Im konkreten Fall: die NRA könnte zukünftig als “Miliz” firmieren, und sich staatenweise organisieren. Die jeweiligen Staaten unterschreiben das. Fertig. Mit amtlichen Stempel ist alles “Wohlgeordnet”.