In den letzten Wochen ist mal wieder eine Studie durch die Presse gegeistert, in der Biologen sich über Sprachwandel auslassen. Diesmal wollen sie gezeigt haben, dass Sprachen sich nicht langsam entwickeln, sondern in sprunghaften Schüben.
Mark Pagel, einer der Autoren, fasst die Studie folgendermaßen zusammen:
Our research suggests that rapid bursts of change occur in languages, and this reflects a human ability to adjust languages at critical times of cultural evolution, such as during the emergence of new and rival groups. The emergence of American English took place when the American English Dictionary was introduced by Noah Webster. He insisted that ‘as an independent nation, our honor requires us to have a system of our own, in language as well as Government’. This illustrates that language is not only used as a means of communication, but it is also important for social functions, including promoting group identity and unity.
Unsere Forschungsergebnisse deuten an, dass es in Sprachen plötzliche, explosionsartige Veränderungen gibt, und das dies ein Ausdruck der meschlichen Fähigkeit ist, Sprachen in kritischen Phasen kultureller Evolution anzupassen, etwa während der Entstehung neuer, rivalisierender Gruppen. Das amerikanische Englisch entstand, als Noah Webster das American English Dictionary veröffentlichte. Er war der Überzeugung, dass “unser Ehrgefühl als eigenständige Nation von uns ein eigenes System verlangt, in der Sprache ebenso wie in der Regierung”. Dies zeigt, dass Sprache nicht nur als Kommunikationsmittel verwendet wird, sondern dass sich auch für soziale Funktionen eine wichtige Rolle spielt, unter anderem der Erzeugung von Gruppenidentität und ‑zusammenhalt.
Ich habe leider keinen Zugriff auf die Originalstudie. Falls unter den Sprachblogleser/innen jemand ist, der das ändern kann, schreibe ich gerne eine ausführlichere Kritik, aber wenn das Sprachverständnis der Autoren ungefähr so verdreht ist, wie es dieses Zitat vermuten lässt, dann mache ich mir keine Illusionen über die Qualität ihrer Studie. „Das amerikanische Englisch entstand, als Noah Webster das American English Dictionary veröffentlichte“? Diese Aussage ist ungefähr so sinnvoll, wie die Aussage „Die Vielfalt des tierischen Lebens entstand, als Alfred Brehm Brehms Tierleben veröffentlichte“ (a propos Vielfalt des tierischen Lebens — die ID-Kreationisten haben Pagels Forschungsergebnisse sofort als Beweis gegen die Evolutionstheorie deklariert).
Wenn die Autoren ernsthaft hinter Pagels Aussage stehen, dann ist es kein Wunder, dass sie an plötzliche Schübe in der Sprachentwicklung glauben — die deutsche Sprache würde sich nach diesem Verständnis jedes Mal dann verändern, wenn eine neue Auflage des Duden erschiene. Aber Wörterbücher bilden Sprachwandel nur ab, sie erzeugen ihn nicht. Sprache lässt sich — sehr zum Leidwesen der Sprachnörgler — durch nichts und niemanden ernsthaft regulieren, sondern sie wird von ihren Sprechern mit jedem Kommunikationsereignis ein kleines bisschen verändert. Sprunghafte Entwicklungsschübe gibt es nur in einer einzigen Situation — wenn durch Sprachkontakt eine völlig neue Sprache entsteht.
[Ein vernünftiger Artikel über die Studie findet sich auf Welt Online. Geschrieben hat ihn meine ehemalige Hamburger Kommilitonin Doris Marszk, die selber promovierte Sprachwissenschaftlerin ist.]
Da muss so um Pfingsten herum passiert sein:
“..und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.” (Apostelgeschichte 2, 1–4)
:-)))
“The emergence of American English took place when the American English Dictionary was introduced by Noah Webster”
wuerde ich persoenlich anders uebersetzen als oben.
insbesondere z.B. …kam auf als…
Ob da jetzt ein kausaler Zusammenhang anstatt einer parallelen Entwicklung gemeint ist, laesst sich meiner Meinung nach nur anhand dieses Zitats schwer sagen.
Ich habe mir den Artikel heruntergeladen und werde ihn demnaechst mal durchlesen (bin allerdings kein Sprachforscher)
Im Uebrigen denke ich, dass es durchaus moeglich ist, Sprachen gezielt zu steuern, z.B. fuer politische oder ideologische Zwecke.
Als Beispiel faellt mir Neu-Hebraeisch ein, das mehr oder weniger kuenstlich aus einer toten Sprache hervorging und inzwischen Millionen Menschen als Muttersprache gilt.
Roy
P.S. Ich finde den Blog sehr interessant und unterhaltsam. Es wurde Zeit, dass mal jemand den Sprachkreuzrittern die Stirn bietet 😉
Als der ‘Protestantismus’ in der deutschsprachigen Welt auftauchte, da musste die gesamte ‘ecclesia sancta’ auf ‘Gottesdienst teutsch’ umstellen. Das dürfte schon befruchtend auf die Sprache eingewirkt haben. Ebenso ‘revolutionär’ wirkte wohl die neue Begrifflichkeit der Aufklärung ab 1750. Das geschieht aber sicherlich nicht sprunghaft von Jetzt auf Nu — und schon gar nicht als Folge einer einzelnen Buchveröffentlichung. Eher folgen die Bücher dem neuen Sprachgebrauch, der dort in den Debattierclubs, den Salons und auf den Rednertribünen entstand …
Habe mich durch Ihren Beitrag zu einem etwas allgemeineren Post im Brightsblog inspirieren lassen:
http://brightsblog.wordpress.com/2008/02/09/punctuated-equilibria/
Pagel und Kollegen haben vermutlich nur mißverständlich formuliert, aber schon damit liefern sie ID’lern Munition.
Es ist allerdings nicht so, dass jedes Kommunikat (K‑Ereignis) und jeder Kommunikant (K‑Teilnehmer) dasselbe Gewicht auf die Sprachentwicklung ausübte. Der Duden-Verlag ist mit seinen sporadischen Publikationen schon ein ziemliches Schwergewicht, aber in unserer telemedialisierten Welt kann auch ein Werbetexter, ein Redenschreiber, ein Bürokratiejurist, ein Journalist, ein Musiker oder sonstwer, dessen orale oder literale Auswürfe hinreichend wiederholt und verbreitet werden, einen ziemlichen Peak auf der chronographischen Sprachskala auslösen. Das geschieht manchmal gewollt, aber nie gezielt – tatsächlich funktioniert Sprachsteuerung nicht, bewusste Sprachbeeinflussung hingegen schon, wenn man die publizisitischen oder autoritativen Möglichkeiten hat.
Die von den Biologen/Anthropologen „beobachteten“ Entwicklungssprünge sehe ich äußerst skeptisch.
Es hat sicher soziologische, politische, geologische, meteorologische und andere Ereignisse gegeben, die einen deutlicher messbaren Einfluss auf Sprache(n) hinterlassen haben als das geschichtliche Rauschen drumherum und vielleicht haben sie auch recht damit, dass sowas als Initialzündung für einen sprachgeschichtlichen Boom mit anschließender Abflauphase dienen kann, aber das Webster-Beispiel ist einfach fal…–unglücklich gewählt. Mal davon abgesehen, dass es ihm m.W. eher um Orthographie und Aussprache ging, war Websters Arbeit selbst wie der Dialekt eine Reaktion auf die historischen Ereignisse und Gegebenheiten. Zur Etablierung des Dialektes, also zur Aufrechterhaltung des postulierten Booms, trugen seine Werke allerdings entscheidend bei.
An verschiedenen Stellen in diesem Blog wurde bereits beschrieben, dass sich Sprache immer aus einem Sprachbedürfnis heraus entwickelt. Wenn sich etwas Wichtiges mit der bestehenden Sprache nicht oder nur sehr umständlich ausdrücken lässt, wird ein neues Wort erfunden oder entlehnt. Sonstige Einflüsse können zum Aussterben der Sprache führen (http://www.iaas.uni-bremen.de/sprachblog/2007/02/19/sprachsterben) oder erzeugen eine kurzlebige Modewelle (http://www.iaas.uni-bremen.de/sprachblog/2007/03/01/sprachverwirrungen), sind aber grundsätzlich nicht geeignet eine Sprache nachhaltig zu verändern.
Zwar mögen historische Ereignisse wie Liturgiereformen, Erfindung und Verbreitung des Buchducks oder das Auftreten von Massenmedien zu dem Bedürfnis führen, neue Dinge auszudrücken und daher die Sprache zu verändern — allerdings glaube ich nicht, dass diese Entwicklung sprunghaft ist und die Sprache sonst stillsteht. Interessant wäre in diesem Zusammenhang, in wie weit neue Entdeckungen Sprache wirklich verändern — hieße dies ja, dass der Entdecker grundlegend neue Dinge ersinnen aber nicht benennen konnte. Ist es überhaupt möglich Dinge zu denken ohne sie zu benennen?!