Nachruf auf eine Sprache

Von Anatol Stefanowitsch

Sprachen ster­ben mit weniger Kla­mauk, als man glauben kön­nte, wenn man mit den apoka­lyp­tis­chen Fan­tastereien der Anglizis­men­jäger kon­fron­tiert wird. Wie ich hier beschrieben habe, ster­ben Sprachen in drei Phasen, von denen keine etwas damit zu tun hat, dass Infor­ma­tion­ss­chal­ter in Ser­vice Point umbe­nan­nt wer­den. Phase 1: Eine Sprachge­mein­schaft wird mas­siv mit ein­er wirtschaftlich oder poli­tisch dom­i­nan­ten frem­den Sprache kon­fron­tiert. Phase 2: Es entste­ht eine mehrsprachige Gesellschaft, die die neue Sprache im öffentlichen und die ursprüngliche im pri­vat­en Raum ver­wen­det. Phase 3: Die neue Sprache dringt auch in den pri­vat­en Raum vor, die Sprech­er geben die ursprüngliche Sprache auf. Eine Gen­er­a­tion wächst auf, die die ursprüngliche Sprache nicht mehr lernt. Diejeni­gen, die sie noch gel­ernt haben, wer­den älter und ster­ben, ein­er nach dem anderen, bis ein einziger Sprech­er übrig bleibt. Und wenn dieser Sprech­er stirbt, geht die Sprache unwieder­bringlich ver­loren. Selb­st, wenn es Lin­guis­ten gelingt, Wortschatz und Gram­matik der Sprache rechtzeit­ig festzuhal­ten, ret­ten sie damit nur einen Bruchteil dessen, was im Kopf selb­st eines einzi­gen Sprech­ers an sprach­lichem Wis­sen vorhan­den ist. Man kann eine Sprache the­o­retisch wieder­beleben, aber sie wird nie wieder so sein, wie sie vor ihrem Ausster­ben war.

Am ver­gan­genen Mon­tag ist eine Sprache für immer ver­loren gegan­gen. Wie Asso­ci­at­ed Press meldet, starb die Eyak-Indi­aner­in Marie Smith Jones im Alter von 89 Jahren im Schlaf in ihrer Woh­nung in Anchor­age (Alas­ka). Die Sprache ihres Stammes starb mit ihr, denn sie war deren let­zte Mut­ter­sprach­lerin. Die Sprache war übri­gens die let­zte eines ganzen Zweigs der Na-Dené-Sprachen. Der näch­ste ver­wandte Zweig ist der der derzeit noch etwa vierzig atha­pask­ischen Sprachen, die von etwa 180.000 Sprech­ern zwis­chen Nordalas­ka und Ari­zona gesprochen wer­den (auch die Sprachen der Apachen, dem Stamm des fik­tionalen Win­netou, gehören zu dieser Familie).

Der amerikanis­che Sprach­wis­senschaftler Michael Krauss arbeit­ete in den let­zten Jahren mit Jones daran, Wortschatz, Gram­matik und mündlich über­lieferte Geschicht­en der Eyak zu doku­men­tieren. Seine Aufze­ich­nun­gen sind alles, was bleibt. Die feinen Bedeu­tungss­chat­tierun­gen, die sub­tilen gram­ma­tis­chen Unter­schei­dun­gen und die einzi­gar­tige Welt­sicht ein­er lebendi­gen Sprache kön­nen sie nicht ersetzen.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

2 Gedanken zu „Nachruf auf eine Sprache

  1. Chat Atkins

    Wie ist das mit dem Geboren­wer­den von Sprachen? Ich denke beispiel­sweise an das, was Zeridun Zaimoglu als ‘Kanaksprak’ beschreibt, als eine eigene Sprache von Jugendlichen (inzwis­chen auch Erwach­se­nen) in unseren Vorstädten, die eben kein ‘defiz­itäres Deutsch’ ist, son­dern ein eigen­er Sozi­olekt mit eige­nen gram­ma­tis­chen Regeln und Wort­prä­gun­gen. Eine ‘Lehn­sprache’ gewis­ser­maßen, so wie das Jid­dis­che ‘eijne Art von Deitsch’ war …

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  2. Patrick

    mir fehlt noch das andere Szenario, wie eine Sprache ster­ben kann: Die Sprech­er wer­den sys­tem­a­tisch gemeuchelt bis kein­er mehr übrig ist, der die Sprache spricht… Beispiel Tasmanien

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