Man muss Reinhard Mey nicht mögen, aber da er nun einmal ein großer deutscher Liedermacher ist, sollte man ihm trotzdem zum 65. Geburtstag gratulieren. Das haben wir am 21. Dezember übersehen, und deshalb holen wir es heute nach. Ich selbst bin kein allzugroßer Fan. Zum einen sind seine Texte deutlich weniger geistreich, als allgemein behauptet wird. Zum anderen nervt es mich, dass er sich mit seinem mäßig durchdachten Gerede über eine Quote für deutschsprachige Musik im Radio vor den Karren des „Vereins Deutsche Sprache“ spannen lässt.
„Es führt bei dem Verhalten unserer Medien kein Weg an einer Quote für deutschsprachige Musik vorbei“, sagt Mey auf der Webseite des VDS und in einem Artikel im Cicero aus dem Jahr 2004 führt er vier Argumente für eine solche Quote ins Feld:
1. Er mag keine englischsprachige Musik:
Wenn ich in meiner Heimatstadt Berlin das Radio anmache, fliegt mir die angloamerikanische Meterware nur so um die Ohren. Darunter Uralt-Hits, bei denen ich damals, im vorigen Jahrhundert, schon beim ersten Hören die ungute Vorahnung hatte, dass ich mir diesen Scheiß mein ganzes Leben lang werde anhören müssen. [Cicero 6/2004, S. 1]
2. Deutsche, die englischsprachige Lieder singen, haben in England und Amerika keinen Erfolg:
In England oder Amerika kriegen unsere englisch singenden Deutschen keinen Fuß in die Tür, da sind sie Lachnummern, die höchstens mal einen Erfolg dort verbuchen können, wo man noch schlechter Englisch versteht und mit mehr Akzent spricht als in Deutschland, also in Froonkreisch, Russland und Südkorea… [Cicero 6/2004, S. 2]
3. Junge deutschsprachige Musiker haben es schwer, ganz im Gegensatz zu ihm selbst:
Mir könnte das alles wurscht sein, ich habe die schönsten CDs im Auto. Mir ist es wurscht, dass ich im Radio nicht gespielt werde, mein Publikum kennt mich und beschert nach wie vor jeder meiner Platten Gold-Status und findet auch trotz strengster Geheimhaltung den Weg in meine Konzerte. [Cicero 6/2004, S. 3]
4. Die Abwesenheit von deutschsprachiger Musik im Radio ist ein großer Verlust.
So viel geht uns da verloren, so viel Gutes hören wir nicht, so viele Talente blühen, warten und verzweifeln und müssen irgendwann kläglich aufgeben, weil unsere Medien sie diskriminieren […] [Cicero 6/2004, S. 4]
Lassen wir das erste Argument einmal beiseite. Ich mag auch so gut wie nichts von dem, was ich so im Radio höre, aber das ist natürlich kein Grund für mich, eine Quote für meine CD-Sammlung zu fordern (für unsere jüngeren Leser: eine CD-Sammlung ist eine Art nicht-virtueller iTunes-Playlist). So sehr mich das manchmal wundert, mein persönlicher Geschmack ist kein allgemein anerkannter Standard, und dasselbe gilt für Reinhard Mey.
Das zweite Argument ist schlicht falsch (die Scorpions waren mit ihrer englischsprachigen „Lachnummer“ Winds of Change zum Beispiel auf Platz 2 der britischen und Platz 4 der US-amerikanischen Charts, Nena führte mit 99 Red Balloons die britischen Charts an und Falco erreichte mit dem wenigstens teilweise englischsprachigen Rock me, Amadeus sogar Platz 1 der amerikanischen Billboard 100). Dass so etwas nicht häufig vorkommt, sehe ich schon, aber am schlechten Englisch liegt es garantiert nicht — ausländische Künstler haben es in den USA auch dann schwer, wenn sie perfekt Englisch können (fragen Sie Robbie Williams). Aber selbst, wenn Mey Recht hätte, es wäre wohl kaum ein Argument für mehr deutschsprachige Musik im deutschen Radio.
Das dritte Argument ist fraglos richtig. Junge deutsche Musiker haben es schwer, sich gegen hauptsächlich amerikanische Schwergewichte durchzusetzen. Aber auch das hat nichts mit Sprache zu tun, sondern mit Wirtschaftsmacht, und deshalb ist kein Argument für eine Quote für deutschsprachige Musik. Junge deutsche Musiker haben es schwer, egal, ob sie nun Deutsch oder Englisch singen.
Das vierte Argument ist auch richtig, aber auf triviale Art und Weise. Die meisten Künstler bekommen nie einen Plattenvertrag, und bei denen, die doch einen bekommen, liegt es nicht immer am Talent. Es geht uns also ohnehin die Mehrzahl aller Talente verloren, und über diejenigen zu jammern, die uns verloren gehen, weil eine Plattenfirma sie wegen ihrer deutschen Texte wegschickt, ist genauso sinnlos, wie über diejeningen zu jammern, die uns verlorengehen, weil sie die Kontrolle über ihre Musik nicht der Plattenfirma überlassen wollen, oder weil sie nicht mit dem Produzenten schlafen wollen, oder weil sie mit 345 Euro im Monat zwei Kinder großziehen müssen und ihr Talent deswegen nie entdecken.
Um das klarzustellen: ich höre sehr gerne Musik mit deutschen Texten. Ich schätze, dass etwa ein Drittel meiner Musiksammlung aus deutschsprachigen Werken besteht. Ich hätte auch gar nichts dagegen, wenn es mehr gute deutschsprachige Künstler gäbe, aber eine Quote ist nicht der Weg dahin. Quoten als Mittel zur Unrechtsbekämpfung funktionieren nur dort, wo wir belastbare Informationen über die Grundgesamtheit haben, also wissen, welche Gruppen/Kategorien zu welchem Anteil unterrepräsentiert sind. Wissen wir das nicht, sind Quoten auf eine beliebige Art ungerecht: irgendeine als vernachlässigt wahrgenommene Kategorie wird herausgegriffen und bevorzugt behandelt. Andere vernachlässigte Kategorien fallen dann genauso unter den Tisch, wie die bislang bevorzugte Kategorie. So bekommt man dann mehr von dem, was bevorzugt wird, aber die Ungerechtigkeit bleibt, und die Qualität wird auch nicht gesteigert. Wir müssten also wissen, wie viel deutschsprachige, spanischsprachige, russischsprachige, türkischsprachige, klingonischsprachige und sonstige nicht-englischsprachige Musik es im Vergleich zur derzeit bevorzugten englischsprachigen Musik Wert wäre, im Radio gespielt zu werden. Da wir das nicht wissen, können wir auch keine Quote festlegen.
Ich hätte zum Beispiel sehr viel dagegen, wenn gute englischsprachige Künstler aus Deutschland (oder sonstwo her) benachteiligt würden. Ich möchte auf die vielen guten englischsprachigen Bands aus dem deutschen Sprachraum nicht wegen einer Quote verzichten müssen, die sich ein wohlmeinender aber kurzdenkender Beschützer deutschen Kulturguts ausgedacht hat — von (um eine beliebige Auswahl zu nennen) Alphaville und Camouflage über Element of Crime, Fury in the Slaughterhouse und Wolfsheim bis zu Bananafishbones und Mariha (a propos Mariha, ich hoffe, von der werden wir noch mal hören).
Aber selbst, wenn man meinen Argumenten nicht folgen mag, gibt es empirische Belege dafür, dass eine Quote überflüssig ist. Die folgende Grafik zeigt die Anzahl der deutschsprachigen Stücke an den Top-20-Jahrescharts der letzten dreißig Jahre:
Der Anteil deuschsprachiger Stücke geht auf und ab (man beachte die einsame Spitze 1982, dem Jahr der Neuen Deutschen Welle). Wie die Regressionslinie (rot, gestrichelt), zeigt, gibt es aber einen eindeutigen Aufwärtstrend, der auf die starke und vor allem nachhaltige Präsenz deutschsprachiger Musik in den letzten Jahren zurückzuführen ist. Diese Präsenz ist nicht durch Quoten erreicht worden, sondern durch eine Reihe hervorragender deutscher Bands (und natürlich auch durch Tokio Hotel). Unterstützt wurde dieser Trend durch mediale Einzelleistungen wie Stefan Raabs „Bundesvision Song Contest“, der im Februar zum vierten Mal stattfindet, und solche Aktionen sind auch der richtige Weg.
Ich bin auf das Thema überhaupt nur gekommen, weil ich letzte Woche über folgendes Zitat des stellvertretenden Bravo-Chefredakteurs Alex Gernandt gestolpert bin:
Junge deutsche Rockbands mit deutschen Texten hatten in den vergangenen Jahren viel Erfolg. Wie viel Potenzial hat die deutsche Welle noch? Wächst sie 2008 weiter?
Nein, im Gegenteil. Auf Deutsch ist so langsam alles gesagt, was zu sagen war. Wir werden 2008 etwas Neues erleben: Amerikanische Acts sind im Kommen. [Braunschweiger Zeitung/Wolfsburger Nachrichten]
Die Bravo ist ja kein Leichtgewicht in der deutschen Musiklandschaft und deshalb habe ich mich über diese Aussage so aufgeregt, dass ich meine Meinung über eine Deutschquote fast spontan geändert hätte. Aber dann ist mir klar geworden, dass Gernandt so weit an der Realität vorbeiredet, dass es schlicht keine Aufregung Wert ist. Wenn auf Deutsch alles gesagt wäre, wieviel mehr müsste das für das Englische gelten! Und was soll das heißen, „amerikanische Acts sind im Kommen“? Waren die weg, ohne das es jemand gemerkt hat?
Nur war Nena mit ihrer deutschen Version von 99 Luftballons im Amiland wesentlich erfolgreicher als mit der englischen. Die Amis wollten sogar lieber die deutsche Version hören, als die englische.
Zu dem dritten Argument beschreiben Sie, daß die Wirtschaftsmacht den deutschsprachigen Künstlern den Erfolg erschwert. Doch genau das ist der Knackpunkt! Wir können doch nicht zulassen, daß uns Wirtschaftler in der Kultur herumpfuschen! Zum Schutze des Kulturguts sollte die Regierung handeln.
Ob eine Quote nun sinnvoll wäre sei dabei mal dahingestellt. Ich persönlich wäre in der Beziehung ja für eine positive Nutzung der sonst meist verschwendeten GEZ-Gelder in dieser Richtung. 😉
Demnach sollten schlicht die staatlichen Radiosender mehr deutsche Musik spielen, denn das Geld bekommen diese sowieso. So ersparen wir uns auch die Quote, wenn der Staatsfunk allein richtig handeln würde. Vielleicht am besten mit talentfördernden Projekten. So werden auch gleich wieder Kosten bezüglich der entsprechenden Plattenfirmen eingespart, und im Endeffekt käme das dann auf eine Nullrechnung.
Das Problem liegt wohl insgesamt daran, daß deutschsprachige Musik entweder qualitative Grütze ist (wir können uns bestimmt denken, was ich meine), oder durch die meist privat gelenkten Massenmedien nicht einmal gespielt wird.
Doch die positive Entwicklung der Statistik nach ist bestimmt auch eine Folge des steigenden Internetkonsums, der eine leichtere Möglichkeit bietet, sich nach Alternativen umzuschauen.
Mein Bremer Kollege Andreas Ammann schreibt mir per Email:
Ja, Element of Crime texten seit 1991 deutsch — ich habe mich hier auf die ersten vier Alben bezogen. Ich finde die neuen Sachen auch nicht schlecht (Mittelpunkt der Welt kenne ich noch nicht), aber die englischen Stücke sind schon sehr gut, auch textlich.
@Burbbel:
Ich kann deine Gedanken gut verstehen, aber lies noch mal die Argumentation zum Thema “Quote” im obigen Artikel. Spätestens danach liegt auf der Hand, dass Politik die Kultur so wenig retten kann wie ein Nokiawerk — entweder die retten sich selbst oder “there is no way”. Wie sagt man das auf Deutsch?
Handelt es sich bei “die Wolfsheim” um einen Fehler oder schreibt sich die Band mit weiblichem Artikel? Habe Wolfsheim vor mehr als 10 Jahren mal ganz gerne gehört, aber noch nie einen Artikel mit dem Namen verbunden, “die” klingt für mich befremdlich…
Und “Mittelpunkt der Welt” kann ich auch nur empfehlen, bin aber persönlich auch ein Anhänger von Sven Regeners Texten…
[Anmerkung A.S.: Ist korrigiert, danke!]
Gibt es für die Statistik auch Quellen oder ist die “selbsterstellt”?
…oder es ged håid neeed.
(Durchgehend mit [ɛ].)