In der Welt-Online erscheint immer noch regelmäßig die Kolumne „Wortgefecht“, in der Textchef Sönke Krüger der geneigten Leserschaft sein mangelhaftes Verständnis der deutschen Sprache darlegt. In dieser Woche ging es ihm um „unnötige Silben“, mit denen wir seiner Meinung nach unsere Sprache verunstalten:
„Es ist nicht schwer, zu komponieren, aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen.“ Ein wahres Wort, das Johannes Brahms da gesprochen hat, und es gilt weit über die Musik hinaus, nämlich auch für die Sprache. Dort sind es keine Noten, sondern überflüssige Silben, die viele Texte schwerfällig machen und den Lesefluss aufhalten.
Leider tun sich viele Autoren schwer damit, Silbenballast abzuwerfen. So schreibt zum Beispiel der „Focus“: „Der Verfasser kann seinen Letzten Willen jederzeit abändern“ — obwohl ändern viel klarer klingt.
Weitere Beispiele, die er nennt, sind Rückantwort (er sähe lieber Antwort), Stillschweigen (er bevorzugt Schweigen), und Unkosten (er hält Kosten für angemessener) — es geht also gar nicht um „Silben“ (mit denen man rein lautliche Einheiten bezeichnet), sondern um Morpheme, Kombinationen aus Bedeutung und lautlicher Form.
Krügers Kolumne bietet eine schöne Gelegenheit, wieder einmal den Unterschied zwischen dümmlicher Sprachnörgelei und wissenschaftlicher Sprachbetrachtung deutlich zu machen. Der Sprachnörgler greift sich ein beliebiges sprachliches Phänomen heraus und beschließt, dass es das eigentlich nicht geben dürfte — z.B., weil es aus einer anderen Sprache entlehnt sein könnte, weil es in seinem eigenen Dialekt nicht vorkommt, oder — wie hier — weil es einer vermeintlich offensichtlichen Weisheit widerspricht: „In der Kürze liegt die Würze“, schreibt Krüger an den Anfang seiner Kolumne, und dieses durch nichts bewiesene, abgedroschene Sprichwort reicht ihm als Begründung aus, um Wortteile wegzuhacken, ohne über die Konsequenzen auch nur eine Sekunde nachzudenken.
Der Sprachwissenschaftler geht anders vor. Er beobachtet ein bestimmtes sprachliches Phänomen, und fragt sich dann, wie es funktioniert und welchem Zweck es dient. Wenn der Sprachwissenschaftler Wortpaare wie ändern/abändern findet, fragt er sich etwa, warum es zwei so ähnliche Wörter geben sollte und nach welchen Kriterien Sprecher sich für die eine oder die andere Variante entscheiden sollten. Sehen wir uns diese beiden Wörter also einmal sprachwissenschaftlich an, und nehmen wir der Vollständigkeit halber auch das Wort verändern dazu.
Eine wissenschaftliche Untersuchung beginnt im Normalfall mit einer Hypothese. Wie man zu der gelangt, ist aus wissenschaftsphilosophischer Sicht im Prinzip egal — man kann blind raten, man kann mehr oder weniger gezielt spekulieren, oder man kann auf dem vorhandenen Wissen aufbauen. In der Sprachwissenschaft kommt man zu einer Hypothese häufig, in dem man das Sprachgefühl eines Muttersprachlers anzapft — wenn man es mit der eigenen Muttersprache zu tun hat, kann man natürlich das eigene Sprachgefühl heranziehen. Konstruieren wir uns also drei Sätze, in denen wir die drei Wörter systematisch variieren und alles andere gleich lassen:
(1) Der Verfasser hat seinen Letzten Willen verändert.
(2) Der Verfasser hat seinen Letzten Willen geändert.
(3) Der Verfasser hat seinen Letzten Willen abgeändert.
Mein Gefühl sagt mir, dass die Sätze eine unterschiedlich starke Veränderung suggerieren: wenn jemand seinen letzten Willen verändert, klingt das für mich nach einer sehr drastischen Umformulierung — z.B. danach, als ob die bisherigen Erben leer ausgehen und das gesamte Vermögen nun an eine wohltätige Stiftung geht. Wenn jemand seinen letzten Willen ändert, klingt das nach einer deutlich kleineren Änderung — einige der bisherigen Erben gehen nun vielleicht leer aus, anderen bleibt ihr Erbe erhalten. Und wenn jemand seinen Letzten Willen lediglich abändert, klingt das für mich nach einer relativ nebensächlichen Änderung — die Katze, die bislang leer ausging, erhält nun auch ihren Anteil, o.ä.
Dies ist nicht der einzige Bedeutungsunterschied, den ich aufgrund meines Sprachgefühls vermute — weiterere Unterschiede liegen in der Nachhaltigkeit und der Ursache der Veränderung. So klingt verändern für mich nach einem längeren Prozess, der durch außen angeregt wird. Die anderen beiden Verben klingen eher nach kurzfristigeren Prozessen, die von innen heraus geleitet werden.
Aber bleiben wir bei der Dimension der Stärke der Veränderung und nehmen das, was ich hierzu gesagt habe, als Hypothese an. Diese Hypothese muss nun getestet werden, sonst ist sie auch nicht mehr Wert, als Krügers unqualifizierter Vorschlag, das ab doch einfach wegzulassen. Es sind verschiedene Tests denkbar, von der Untersuchung natürlichsprachlicher Verwendungsmuster bis hin zu psycholinguistischen Experimenten.
Ich möchte hier den ersten Weg gehen. Dazu müssen wir uns zunächst ein Verwendungsmuster überlegen, an dem der vorgeschlagene Unterschied deutlich werden könnte, wenn die Hypothese stimmen sollte. Ein solches Muster ist zum Beispiel die Verwendung von Adverben, die auf unterschiedlich starke Veränderungen hinweisen würden:
(4) Der Verfasser hat seinen letzten Willen komplett/stark/etwas/leicht/… verändert.
Wenn meine Hypothese stimmt, dann sollte verändern häufiger mit Adverbien verwendet werden, die auf eine starke Veränderung hinweisen (z.B. total, komplett, völlig, stark), während abändern häufiger mit Adverbien verwendet werden müsste, die auf eine schwache Veränderung hinweisen (z.B. etwas, ein Wenig, ein Bisschen, leicht).
Im Zeitalter des Internet lassen sich Vorhersagen dieser Art ganz einfach überprüfen. Ich habe mit der Suchmaschine Yahoo! nach dem Muster HABEN + DEN/DIE/DAS + X + ADVERB + VERÄNDERT/GEÄNDERT/ABGEÄNDERT gesucht. Dabei habe ich alle Flexionsformen von haben im Präsens verwendet. Zählt man die Ergebnisse für die Adverbien „starker“ Veränderung und die „schwacher“ Veränderung zusammen und errechnet deren Anteil an den Verwendungen des jeweiligen Verbs, so ergibt sich ein klares Bild (verändern — blau, gestrichelte Linie, Kreise; ändern — rot, durchgezogene Linie, Vierecke; abändern — grün, gepunktete Linie, Dreiecke):
Das Auftreten der drei Verben in natürlichen Verwendungszusammenhängen im deutschsprachigen Internet bestätigt also die Hypothese, die ich auf der Grundlage meines Sprachgefühls aufgestellt habe (die Unterschiede zwischen den drei Verben sind dabei statistisch höchst signifikant, und zwar sowohl bei einem Vergleich aller drei Verben, als auch bei einem paarweisen Vergleich von jeweils zwei der drei Verben — wer die genauen Werte haben möchte, kann sich gerne melden).
Das alles ist natürlich nur der Anfang einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Wörtern, aber eins ist schon jetzt deutlich: wenn man Wortteile verbietet (im irrigen Glauben, es käme nicht auf die Länge an), tut man der einer Sprache keinen Gefallen. Im Gegenteil — man beraubt sie feiner Bedeutungsschattierungen, und das wäre tatsächlich eine Verarmung.
Hmm, wie wäre es, mit einer zusätzlichen grundsätzlichen semantischen Betrachtung der Vorsilben “ver-” und “ab-”? Was also geschieht mit einem beliebigen Verb, wenn ein “ver-” oder “ab-” vorangesetzt wird? Das wird an folgenden Beispielen deutlich(er): abreisen, verreisen, reisen oder abkaufen, verkaufen, kaufen.
Schön. Wobei man natürlich besonders vorsichtig sein muss wenn der “Sprachnörgler” ein Journalist ist — diesem Gewerbe mag ja schon traditionell zuweilen ein um jeglichen ‘Ballast’ erleichtertes Wortfeuerwerk à la Marinetti (“Sätze wie Maschinengewehrsalven” oder so ähnlich) als höchstes Ziel der kommunikativen Bemühungen gelten (klingt dann ja auch “viel klarer”.
Danke für den Beitrag: In diesem Punkt hatte ich aus Wolf Schneiders Regierungszeit noch einen unnötigen Sparren im Kopf …
Ich bin definitiv “nur” Nutzer meiner Muttersprache. Kein Profi. Ich finde sehr interessant, wie man wissenschaftlich herleiten kann, was mir mein seit 53 Jahren aktives Sprachgefühl sagt: Vermeintliche Redundanzen dienen der Präzisierung des Gemeinten.
Schöne Grüße nach Bremen,
Ulf Runge
Sehe ich das richtig, daß auf der Grafik genau sechs “Meßpunkte” zu sehen sind und die Linien einfach nur gut aussehen sollen?
Wissenschaftlicher wäre wohl, die Hypothese als Zufallsexperiment zu modellieren und dann mittels Signifikanztest zu überprüfen.