Die Sprachkritische Aktion nimmt seit dem 18. Oktober mal wieder Vorschläge für das „Unwort des Jahres“ entgegen. „Unworte“ werden von den sprachkritischen Aktionären dabei definiert als
… sprachliche Missgriffe in der öffentlichen Kommunikation, die 2007 besonders negativ aufgefallen sind, weil sie sachlich grob unangemessen sind und möglicherweise sogar die Menschenwürde verletzen.
Wie der Stern diese Woche berichtet, haben sich bislang etwa 860 Einsender an der Suche beteiligt. Allerdings stoßen nicht alle Einsendungen auf die ungeteilte Begeisterung des Hauptaktionärs, Prof. Horst Dieter Schlosser:
Er habe innerhalb weniger Tage mehr als 100 Mails bekommen, in denen „Kopftuchverbot“ als Unwort vorgeschlagen werde, berichtete Schlosser. Eine muslimische Organisation in Deutschland habe zur Unterstützung dieses Worts aufgefordert und angekündigt, bis zum Einsendeschluss für die Unwort-Vorschläge am 7. Januar rund 1000 Mails zu schicken.
Aber von dieser Art Engagement lassen sich die Unwortjäger natürlich nicht aus der Ruhe bringen:
„Solche Unterstützeraktionen beeindrucken uns aber überhaupt nicht“, betonte Schlosser. Nicht die Masse der Einsendungen, sondern ein besonders krasses Missverhältnis zwischen Wort und Sache sind für die sechs Juroren bei der Wahl des Unworts ausschlaggebend.
Ich stimme Schlosser zu, dass ein solches Missverhältnis bei dem Wort Kopftuchverbot nicht besteht. Es drückt genau das aus, was es bezeichnet: ein Verbot von Kopftüchern. Schlosser durchschaut denn auch messerscharf, dass es den Einsendern gar nicht um das Wort geht, sondern um die Sache:
Zudem sei das „Kopftuchverbot“ kein Unwort, sondern — zumindest aus Sicht der Einsender — ein Unding, habe also ohnehin keine Chance.
Richtig so. Aber — halt! Was war nochmal das Unwort des letzten Jahres? Ach ja: freiwillige Ausreise. Das ist doch eigentlich auch kein Unwort sondern bestenfalls ein Unding (nämlich dann, wenn man, wie die Sprachkritiker, vermutet, dass es mit der Freiwilligkeit nicht weit her sein könnte). Und in der Presseerklärung werden als positive Beispiele für „Unwortverdächtiges“ noch Wörter wie Bundestrojaner und Herdprämie genannt — beides äußerst treffende Bezeichnungen, die das Bezeichnete in entlarvender Klarheit als das darstellen, was es ist: in einem Fall ein Computerprogramm, das die Bundesregierung heimlich auf den Rechnern freier Bürger installieren will, um deren Daten auszuspionieren und im anderen Fall eine staatliche Transferleistung an Frauen, die sich freiwillig aus dem Arbeitsmarkt entfernen.
Ich nehme deshalb an, dass es auch hier nicht die Wörter sind, die als „un“ empfunden werden, sondern die Dinge, die sie bezeichnen. Mit anderen Worten, politische Nörgelei als Sprachkritik verpacken darf nur die selbsternannte Jury der „Sprachkritischen Aktion“, nicht aber eine „muslimische Organisation“.
Dabei kommt mir eine Unidee. Die „Sprachkritische Aktion“ schränkt in ihrer Pressemeldung den Teilnehmerkreis stilsicher ein:
Vorschläge können von allen Deutschsprachigen im In- und Ausland gemacht werden.
Warum schließt man Muslime nicht einfach mit der Begründung aus, dass sie per Definition keine „Deutschsprachigen“ sind?
Wer trotzdem noch Lust hat, sich an der sprachlich verbrämten Gesellschaftskritik zu beteiligen, kann unter der Email-Adresse unwort@em.uni-frankfurt.de noch bis zum 7. Januar 2008 Vorschläge machen.
Wäre ‘Sprachkritiker’ nicht ein guter Vorschlag? Das ist schließlich ein ‘Unwort’ und ein ‘Unding’ zugleich …
😉
Vielleicht “Internet-Tagebuch”? Ich habe schon so oft in den Offline-Medien von diesen gelesen, aber obwohl ich seit 10 Jahren im Netz aktiv bin noch nie jemanden gesehn, der sein Tagebuch ins Internet stellt.
Es geht bei der Aktion doch um die Diskrepanz zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem, also dem gesuchten Unwort — im Falle von z.B. “Herdprämie” besteht diese doch durchaus. Der Begriff ist eine Parodie (oder ein Dysphemismus) auf den von Ihnen genannten politischen Vorschlag. “Freiwillige Ausreise” dient bisweilen als Euphemismus für “Abschiebung”.
Parodie bzw. Dysphemismus und Euphemismus sind doch perfekte Beispiele für einen tiefen Graben zwischen Wort und “Ding”. Im Falle des “Kopftuchverbots” kann ich nichts dergleichen ausmachen. Ob man solche im öffentlichen Diskurs gebrauchte sprachliche Stilmittel nun unbedingt einer Sprachkritik unterziehen muß sei mal dahingestellt… aber Sprachkritik ist es, nicht bloße “politische Nörgelei” wie im Falle der “muslimischen organisation”.
Herr Müller, Diskrepanz liegt doch aber im Auge des Betrachters. Für mich besteht bei der „Herdprämie“ keine Diskrepanz, der Begriff beschreibt aus meiner Sicht entlarvend genau, worum es den Erfindern des „Betreuungsgeldes“ eigentlich geht. Für mich wäre also der Begriff „Betreuungsgeld“ das eigentliche Unwort, wenn ich an Unwörter glauben würde — wie kann man Geld dafür erhalten, sein eigenes Kind zu betreuen!
Und genauso ist es beim „Kopftuchverbot“. Für mich besteht da keine große Diskrepanz zwischen Wort und Bedeutung — es geht darum, bestimmten Personen in bestimmten Situationen das Tragen von Kopftüchern zu verbieten. Die nicht näher genannte „muslimische Organisation“ dürfte das anders sehen: sie sieht vermutlich die Religionsfreiheit bedroht — und aus dieser Sicht ist das Wort Kopftuchverbot natürlich ein verharmlosender Euphemismus, nicht anders als freiwillige Ausreise.
Die „Sprachkritische Aktion“ tut so, als könne zwischen Wörtern und dem, was sie bezeichnen, eine objektive Diskrepanz bestehen. Tatsächlich macht sie aber ihre eigene, nicht näher dargelegte Weltsicht zur Norm an der sie, unter dem Vorwand der Sprachkritik, andere Weltsichten misst.
Es ist ja durchaus möglich, sich Begriffe aus dem öffentlichen Diskurs herauszugreifen und über eine Dekonstruktion dieser Begriffe dahinter stehende Konzepte und Wertsysteme zu analysieren (so wie es die Framing-Analyse tut). Aber das ist weit entfernt von dem, was die „Sprachkritische Aktion“ verzapft…
Sie haben Recht — die Diskrepanz ist eine Sache der Perspektive. Mir ging es nur darum, daß ich mir nicht vorstellen konnte, wie man “Kopftuchverbot” entsprechend interpretieren könnte. Ihr Ansatz ist aber einleuchtend, zugegeben. 🙂
Wer noch Lust hat: Ein Gespräch mit Jury-Chef Hans-Dieter — Schlosser http://www.welt.de/welt_print/article1411550/Zigeuner_heissen_jetzt_mobile_ethnische_Minderheit.html
Was ist eigentlich ein(e) Herd?
Ich bin etwas verzweifelt: als ich heute (gestern) im DLF einen Politiker sagen hörte, die “Herdprämie” habe etwas mit “Frauen zurück an den Herd” zu tun, habe ich laut aufgelacht ob seiner Unwissenheit.
Ich war mir ganz sicher, daß das Wort etwas mit Tierzucht zu tun hat. Ich wollte dies eben im Netz verifizieren, und was finde ich: lauter Hinweise auf den Backofenherd!
Irgendwo habe ich es mal gehört und mir gemerkt, aber anscheinend niemand außer mir. So wie im “Herdbuch” die Abstammung der Tiere festgehalten wird, belohnt die Herdprämie Frauen für das “Werfen” von Nachwuchs.
Und deshalb!, deshalb hat sich Mixa so aufgeregt, weil er diese Wortbedeutung kennt.
Und jetzt weiß es nicht mal der große Anatol S.
Habe ich nun also etwas in den völlig falschen Hals gekriegt, oder kann Irgendjemand bestätigen, daß der Begriff “Herd” sich hier nicht auf ein Haushaltsgerät bezieht sondern auf eine Tierherde?
@rauskucker
Also ich denke, beim Herd in Herdprämie ist schon der zum Kochen gedachte Herd gemeint. Sollte Herd im Sinne von (Tier-) Herde gemeint sein, müsste das Kompositum meiner Meinung nach “Herdenprämie” heissen, was es aber nicht tut.
Ein anderer interessanter Punkt an Deinem Kommentar ist Dein Benutzername: Ein Dozent von mir schreibt — wie Du — auch immer “kucken”, obwohl ich eigentlich fast nur “gucken” kenne, z.B. aus Comics, die ich in meiner Kindheit immer gelesen habe. Dann fällt mir auf, dass man tatsächlich [kʊkŋ] sagt und nicht [gʊkŋ].
Danke Patrick.
a) es heißt aber auch “Herdbuch” und nicht “Herdenbuch”.
b) Es heißt nun mal “rauskuck” und “rauskucker”, punktum. In Texten benutze ich beides, “gucken” und “kucken”, je nach Zusammenhang. Machmal auch “sehen”, aber nie “schauen”.
Wäre das Wort Herdprämie schon sehr alt, könnte ich mir das mit der Herde besser vorstellen — ich habe mal ein bißchen im Deutschen Wörterbuch der Grimms geblättert und da findet sich Herdochse, Herdsau in der Herde-Bedeutung (zumindest bei letzterem steht es explizit dabei), alle anderen Zusammensetzungen mit Herd- beziehen sich aber auf den Ofen (oder auf die Erde).
Ich habe ein wenig nach der Etymologie von Herdbuch gesucht, und bin dabei über Wikipedia auf Meyers Konversationslexikon gestoßen, das schreibt:
In England legte man schon 1808 ein General stud book an, […] 1822 wurde das Shorthorn-Herdbook begründet, und auch in andern Staaten ist man dem englischen Vorgehen gefolgt. […] 1865 begründete Settegast ein “Deutsches H.” (bis 1875: 4 Bde.; fortgesetzt von der Deutschen Viehzucht- und H.-Gesellschaft, Bd. 5, 1882) […]
Es kann also sehr gut sein, dass das Erstglied Herd- einfach aus dem Englischen übernommen wurde, da es im Deutschen noch immer verständlich war und vielleicht auch, weil es an Herdochse und Herdsau angeschlossen werden konnte — wie verbreitet die beiden Wörter waren, weiß ich natürlich nicht.
Da das Wort Herdprämie aber meines Wissens neu und nicht entlehnt ist (es bezeichnet ja das Betreuungsgeld der CSU), hätte es für die Herde-Bedeutung wirklich den Kompositionsregeln des Neuhochdeutschen folgen müssen, wonach die von Patrick genannte Form zu erwarten wäre.
Kristin, vielen Dank für deine ausgiebigen Nachforschungen.
Ich will das auch alles gerne glauben. Das Problem ist, daß ich auf eine positive Bestätigung gehofft habe, Negativbelege helfen da nicht. Weil ich mir ziemlich sicher bin, daß Jemand mal in die Tierproduktionsrichtung hin das Wort (und Mixas Reaktion darauf) erklärt hat, vermutlich war das auch im Radio. Daß vieles dagegenspricht, ist klar. Aber ich hab mir das doch nicht ausgedacht?
Na, vielleicht dann doch…
*hehe* Ja, mir ist schon klar, dass ich es höchstens ein wenig unplausibler gemacht habe. Vielleicht kannst Du ja mal bei der Wortwarte nachfragen, ob die Entstehung des Wortes irgendwo greifbar ist.