Gerade sehe ich bei Ines Balcik, dass die Suche der Initiative deutsche Sprache und der Stiftung Lesen nach dem „Schönsten ersten Satz“ eines deutschsprachigen Romans beendet ist. Die Ergebnisse sind zwar (noch?) nicht auf der Webseite der Initiative zu finden, aber Spiegel Online kennt sie schon.
Gewonnen hat Günter Grass’ Der Butt, mit dem ersten Satz „Ilsebill salzte nach“. Mich überzeugt das nicht. Klingt eben typisch nach Grass und würde mich dazu bringen, das Buch sofort für immer zuzuklappen. Wie man der Webseite der Initiative bereits entnehmen kann, ist dieser Satz auch nicht etwa von den angeblich über 17.000 Teilnehmer/innen gekürt worden, sondern von einer Jury:
Hätte die Mehrheit der Wettbewerbsteilnehmer darüber entscheiden dürfen, welcher Satz die Kür zum schönsten ersten Satz gewinnt, so hätte Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ die besten Chancen gehabt. … Da aber nicht der am häufigsten gewählte Satz gewinnt, sondern vor allem die Begründung der Einsender mit in die Wertung eingeht, müssen sich die Teilnehmer noch etwas gedulden und auf das Urteil der Jury warten.
Also, für mich klingt das etwa so: „Die Teilnehmer haben sich leider falsch entschieden, da sie offensichtlich nicht verstanden haben, dass bei allem Literarischen immer Günter Grass gewinnen muss. Die Jury hat deshalb eine möglichst schwer nachvollziehbare Entscheidung getroffen, um den Teilnehmern klar zu machen, wer hier das Sagen hat“.
Der erste Satz der „Verwandlung“, um uns das kurz ins Gedächtnis zu rufen, lautet: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Also, da lese ich weiter, das ist mal sicher.
Das können wir aber besser, oder? Ab sofort suchen wir hier im Bremer Sprachblog den wirklich schönsten ersten Satz eines Romans. Und da wir alle Sprachen gleichermaßen lieben, muss er noch nicht einmal aus einem deutschen Roman stammen.
Ich mache mal selber den Anfang, kann mich allerdings nicht für einen einzigen Satz entscheiden und nenne deshalb drei, ohne eine Reihenfolge zu implizieren (als Anglist beschränke ich mich dabei selbstverständlich auf englischsprachige Literatur):
1. Walt said that the dead turned into grass, but there was no grass where they’d buried Simon. (Michael Cunningham, Specimen Days)
2. I’ll make my report as if I told a story, for I was taught as a child on my homeworld that Truth is a matter of the imagination. (Ursula K. LeGuin, The Left Hand of Darkness)
3. It’s a port city. Here fumes rust the sky, the General thought. (Samuel R. Delaney, Babel-17)
Beim dritten Satz habe ich geschummelt, es handelt sich offensichtlich um die ersten zwei Sätze.
Wo wir schon beim Schummeln sind, hier ist auch noch der für mich schönste letzte Satz eines Romans:
4. So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past (F. Scott Fitzgerald, The Great Gatsby)
Leider nicht im Original (ich kann kein Russisch):
“Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie aber ist auf ihre Art unglücklich.” (Leo Tolstoi: Anna Karenina, Beginn eines wirklich fulminanten Auftaktes!)
Ach, und noch ein wunderschöner, der mich sofort gefangen genommen hat, auch auf Deutsch, weil ich leider auch kein Portugiesisch kann:
“Bis ich sechs Jahre alt war, Iolanda, kannte ich weder die Familie meiner Mutter noch den Duft der Kastanienbäume, den der Septemberwind von Buraca herüberwehte mit dem Geruch der Schafe und Ziegen, die, von einem Alten mit Schirmmütze und den Stimmen der Toten vorwärts getrieben, über die Calcada zum aufgelassenen Friedhof hinaufsprangen.” (António Lobo Antunes: Die natürliche Ordnung der Dinge)
„Im Schatten des Hauses, in der Sonne des Flußufers bei den Booten, im Schatten des Salwaldes, im Schatten des Feigenbaumes wuchs Siddhartha auf, der schöne Sohn des Brahmanen, der junge Falke, zusammen mit Govinda, seinem Freunde, dem Brahmanensohn.“ (Hermann Hesse, Siddharta)
1. Um bei Hesse zu bleiben: “Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?” (Demian) Auch geschummelt…
2. “It all began some time in the last century, in an age when lovers wrote letters to each other sealed up in envelopes.” (Stephen Fry, The stars’ tennis balls)
3. “It is a truth universally acknowledged, that a single man in possession of a good fortune must be in want of a wife” (Jane Austen, Pride and Prejudice)
Herr Stefanowitsch, bei Ihrem 2. Satz würde ich auch sofort weiterlesen…
Im Allgemeinen finde ich es spannend, was die Wahl der Sätze über den Wählenden aussagt, oder auch nicht?! Warum entscheidet man sich gerade für diesen einen Satz?
Ich hätte zwei Anfänge, die ich leider nur auf Deutsch habe und nicht im Original und einen Satzanfang eines deutschen Romans. Warum gerade die? Zum einen gefallen sie mir gut und haben mich zum Weiterlesen eingeladen, zum anderen finde ich die Romane im Ganzen bemerkenswert:
1.: “An einem windstillen Sommertag eines unbestimmten Jahres, mehr als ein Jahrhundert nach der Gründung von Cornell, erklomm ein Mann, der vom Lügen lebte, den Hügel, um einen Drachen steigen zu lassen” (Matt Ruff, Fool on the Hill)
2.: “Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, daß eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Eßzimmer befand, ihr Herz suchte.” (Javier Marias, MEIN HERZ SO WEISS)
3.: Ein Allgemeinplatz am Ende, der mir gefällt und gleichzeitig der Beginn eines wahrlich verstörenden Romans ist: “Das Helle vergeht, doch das Dunkle, das bleibt” (Matthias Politycki, Herr der Hörner).
Ich denke, die Wahl sagt zumindest über den Wählenden aus, dass ihm der ganze Roman gefällt und das wiederum lässt dann wohl erst weitere Schlüsse auf Selbigen zu…
1.“In den letzten Tagen dachte und dachte ich an des Nordlandsommers ewigen Tag” (Knut Hamsun, “Pan”)
2. If you really want to hear about it, the first thing you’ll probably want to know is where I was born, and what my lousy chilhood was like, and how my parents were occupied and all before they had me, and all that David Copperfield kind of crap, but I don’t feel like going into it, if you want to know the truth. (J.D. Salinger, “The Catcher in the Rye”)
3. “Der lange, lange Pfad über das Moor in den Wald hinein — wer hat ihn ausgetreten?” (Knut Hamsun, “Segen der Erde”)
Uff, leider bin ich nicht so gebildet oder lese nicht so aufmerksam, als dass ich hier einen eigenen gefundenen ersten Satz beisteuern kann. Aber einen Hinweis zu Grassens “Ilsebill salzte nach” kann ich liefern: Ich weiß ganz genau, dass in irgendeinem Buch von Wolf Schneider dieser Satz (wie etwa auch der erste Satz von Thomas Manns “Felix Krull” — vielleicht habe ich ja doch einen Kandidaten?) als Muster eines auffälligen, paukenschlagenden ersten Satzes zitiert wird. So stimmt das ja auch.
Nur erzeugt das in mir den Verdacht, dass die Bestimmer des schönsten ersten Satzes — im Zweifel — lieber erst mal nachgesehen haben, was die anderen sagen, anstatt selbst etwas zu sagen. Falls nötig, kann ich den Beweis liefern …
Ach so, noch etwas: Neben dem ersten Satz gibt es ja auch noch den Rest des Buches. Und da möchte ich — ergänzend zu Constanze (“Die drei Musketiere” hat nicht nur einen grauenhaften ersten Satz, es geht auch entsagungsvoll weiter …) — Leser ohne konkrete Idee, was “Der Fänger im Roggen” sein könnte definitiv raten, selbst dann weiter zu lesen wenn ihnen der erste Satz nicht gefällt. Ein unglaubliches Buch!
Ich finde es grundsätzlich ziemlich albern, den besten ersten Satz eines Romans zu küren. Jeder Leser hat doch ganz andere Kriterien, nach denen er einen Romanbeginn bewertet. Den ausgewählten Satz “Ilsebill salzte nach” finde ich zum Beispiel völlig nichtssagend.
Das Ganze ist genauso überflüssig wie all die anderen Versuche, irgendwelche Menschen und Dinge in Bestenlisten zu quetschen, sei es der beste Deutsche im ZDF, die besten Songs in den nervtötenden Chartshows oder die besten Wissenschaftler beim Nobelpreis. In den meisten Fällen sind die Auswahlkriterien dafür extrem subjektiv. Denn was macht eigentlich ein Lied, eine wissenschaftliche Leistung oder eben einen Buchanfang besser als andere? Fragen Sie 100 Leute und Sie bekommen 150 verschiedene Antworten.
Aber anscheinend lieben es die Leute, solche Hitlisten zu erstellen und so zieht sich jeder Hinz und Kunz seine eigene Liste aus der Nase. Und die Leser freuen sich, wenn ihre Lieblinge dort auftauchen.
Platz eins für mich: “Jetzt ist schon wieder was passiert.” Wolf Haas in allen Brenner-Romanen. Das finde ich vor allem konsequent.
Das wahre Glück des Menschen ist eine zarte Blume; tausenderlei Ungeziefer umschwirret sie, ein unreiner Hauch tötet sie.
Jeremias Gotthelf: Geld und Geist
Zu Stephan: Ja, Charts sind Pop.
Bezwingend schlicht:
»Hier fängt die Geschichte an.«
(Walter Moers, »Die Stadt der Träumenden Bücher«)
If you really want to hear about it, the first thing you’ll probably want to know is where I was born, and what my lousy childhood was like, and how my parents were occupied and all before they had me, and all that David Copperfield kind of crap, but I don’t feel like going into it.
Ich stimme für Nr. 3 von Frau Constanze (in meiner Ausgabe fehlt übrigens der Nachsatz “if you want to know the truth.” J.D.Salinger, the catcher in the rye, Penguin books geschenkt bekommen 1989)
“Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.”
Marcel Proust beginnt so sein gewaltiges Werk auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Und in der Tat verspricht bereits dieser erste Satz somnambules Lesevergnügen. Da soll sich doch keiner hinterher beschweren, er sei bei der Lektüre furchtbar müde geworden — er vorher hinreichend wurde gewarnt!
“Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer” (Heimito von Doderer: Ein Mord, den jeder begeht). Die Folgesätze haben es auch in sich …
Was ich interessant finde: es gibt für mich keinen direkten Zusammenhang zwischen schönen ersten Sätzen und meinen Lieblingsbüchern. Zwar mag ich die Romane, aus denen meine ersten Sätze stammen, alle sehr, aber auf meine persönliche Bestsellerliste (Top Ten) würde es wohl nur LeGuins Left Hand of Darkness schaffen. Umgekehrt haben die anderen Bücher auf dieser Liste nicht unbedingt schöne (oder vielversprechende) erste Sätze. Meine Nummer 1 fängt zum Beispiel so an: „The elevator continued its impossibly slow ascent“ — nicht schlecht, aber sicher nicht außergewöhnlich. Da stellt sich die Frage, was einen guten ersten Satz ausmacht (subjektiv, natürlich, für jeden anders). Mir gefallen lakonische Sätze, die Glaubenssätze oder grammatische Strukturen in Frage stellen. Für andere scheint ein Satz dann schön zu sein, wenn er ein Versprechen auf ein interessantes Leseerlebnis enthält.
Ich scheine eher auf erste Sätze anzuspringen, die schnell ein interessantes Leseerlebnis versprechen — das können allerdings auch gerade verquere sein. Ganz verschnupft reagiere ich allerdings, wenn man das Originalitätskalkül des Autors durchriecht.
Ich weiß nicht, ob sie die Idee schon von woanders hat, aber von Kathrin Passig kenne ich die interessante Überlegung, dass ein Mensch in seinem Leben wohl kaum mehr als 5.000 verschiedene Bücher lesen kann — ein jeder mag für sich selbst nachrechnen, aber das ist schon hoch geschätzt. So viele Bücher erscheinen in Deutschland im Quartal (rate ich). Das hat Kathrin Passig zu einem “Drive-thru-Literaturzirkel” inspiriert, mich aber eher noch unwilliger gemacht hat, mehr als 50 Seiten zu investieren, bevor ich zu der anderen auf mich wartenden Literatur weiterrücke — deren Autoren es ihren Lesern vielleicht leichter macht. Noch nicht einmal durch die “Weltliteratur” kommt man mit 5.000 Büchern …
@ 18: Für mich sind Schlusssätze viel interessanter. Wenn ich mich durch einige hundert Seiten Text geackert habe, dann gibt mir das ein Recht auf einen würdigen Abgang. Legendär ist natürlich der Schluss des Werther: “Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.”
“ALL THESE WORLDS ARE YOURS EXCEPT EUROPA. ATTEMPT NO LANDINGS THERE.”
aus Arthur C. Clarkes
2010: Odyssey Two
Dem Menschen was verbieten wollen, da weiß man gleich was als Nächstes kommt, bloß noch nicht wie.
Pax
@Chat Atkins: Da stimme ich absolut zu, die letzten Sätze sind die, die viel mehr hängen bleiben von guten Büchern. Und wenn man sich an den letzten Satz eines Romans erinnert, heißt das zumindest, dass man ihn auch bis zum Ende gelesen hat (wenn man nicht diese unselige Angewohnheit hat, zuerst den letzten Satz zu lesen). Und auch da könnte ich den oben von mir bereits erwähnten Roman “Der Herr der Hörner” von Matthias Politycki nennen: “Denn das Helle vergeht, doch das Dunkle, das bleibt”…
Vorne hatten wir, hinten hatten wir. Aber auch mittendrin stehen manchmal Sätze, die nachdrücklich haften bleiben. So bei mir geschehen bei der Lektüre von Thomas Manns “Zauberberg”. Das ganze Buch besteht — wie typisch für Th. Mann — aus sehr langen Sätzen, die Satzlänge markiert m.W. für die deutsche Literatur die Obergrenze. Umso mehr kracht es, wenn dann ein ganz kurzer Satz mittendrinsteht wie dieser, der beschreibt, was Hans Castorp empfindet, als er die Knochen seiner Hand auf dem Röntgenschirm sieht: “Er sah in sein eigenes Grab.” Treffend, gespenstisch, und mir ganz freiwillig Jahrzehnte in Erinnerung geblieben.
Obwohl mir dieser Hinweis ernst ist, kann ich nach ihm die obige Diskussion nur damit zusammenfassen, dass schöne Sätze in Literatur wie Leben stets ein Gewinn sind, egal wo sie stehen …
“The sky above the port was the color of television, tuned to a dead channel.” — William Gibson: Neuromancer. Vielleicht der berühmteste erste Satz eines Science-Fiction-Romans, setzt nicht nur die Stimmung des Werkes fest, sondern ist auch noch ein sehr anschauliches und originelles (und technisches!) sprachliches Bild.
Der Klassiker unter den Anfangssätzen fehlt noch: “Ich bin nicht Stiller!” (Max frisch: Stiller)
Kafka dürfte in dieser Hinsicht aber kaum zu toppen sein. Brutaler kann man wohl nicht in medias res gehen.
“It was a bright cold day in April, and the clocks were striking thirteen.” 1984, glaube ich.
Ich bin definitiv zu spät, aber der Klassiker ist doch wohl ” Es war einmal vor langer langer Zeit …”
Nee, der echte Klassiker ist immer noch:
“It was a dark and stormy night; the rain fell in torrents, except at occasional intervals, when it was checked by a violent gust of wind which swept up the streets (for it is in London that our scene lies), rattling along the housetops, and fiercely agitating the scanty flame of the lamps that struggled against the darkness.”
Meines Wissens nie ueberboten.
@ Armin
Nie überboten, aber oft und gut parodiert, nicht selten unfreiwillig.
Man arbeitet übrigens hart an einem Nachfolger:
http://www.bulwer-lytton.com/ zB.
http://www.bulwer-lytton.com/lyttony.htm
Lustiges Neues!
@ Dark & Stormy,
aha, noch ein Connosseur (sp?) der echte Qualitaet erkennt und zu schaetzen weiss 😉
Long, long ago in a galaxy far, far away…
…später gefolgt von…
If you can read this, you don’t need glasses.
Nachtrag
Das hier war wohl eine (bis auf einen Namen zutreffende) Voraussage:
“On reflection, Angela perceived that her relationship with Tom had always been rocky, not quite a roller-coaster ride but more like when the toilet-paper roll gets a little squashed so it hangs crooked and every time you pull some off you can hear the rest going bumpity-bumpity in its holder until you go nuts and push it back into shape, a degree of annoyance that Angela had now almost attained.”
Rephah Berg, Oakland CA (2002 Winner)
(http://www.bulwer-lytton.com/lyttony.htm)
Ich würde gerne diesen Beitrag nutzen, um nach [b] typischen [/b] Anfangssätzen zu suchen; Ich arbeite an einem Quizspiel und als eine Quizaufgabe schwebt mir vor, Anfangssätze mit ihren Büchern zu verbinden. Ein paar habe ich schon, über weitere Anregungen würde ich mich freuen!
Der Schwierigkeitsgrad sollte so sein, dass der Satz nun nicht den Titel bereits verrät, es sollte aber auch von Nicht-Literaturwissenschaftlern lösbar sein 🙂