Über sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse berichten die Medien ja eher selten. Umso erstaunlicher, dass letzte Woche ausgerechnet eine Geschichte über unregelmäßige englische Verben ihren Weg in die Presse gefunden hat — zum Beispiel auf Spiegel Online und die Webseite von Bild der Wissenschaft (vielen Dank and Sprachblogleser Wolfgang Hömig-Groß und Stefanie Pohle für den Hinweis).
An die unregelmäßigen Verben werden sich die meisten ja noch aus dem Englischunterricht erinnern: während die meisten englischen Verben die Vergangenheitsform und das Partizip Perfekt durch Anhängen der Endung -ed bilden, müssen bei den unregelmäßigen Verben alle Formen einzeln gelernt werden — go — went — gone, zum Beispiel, take — took — taken, sing — sang — sung oder hit — hit — hit. Das ist zwar nichts im Vergleich zu den hunderten von Verbformen, die man im Französischen oder Spanischen lernen muss, aber es erfordert trotzdem eine Menge stupiden Auswendiglernens.
Und vor dieser Aufgabe kann man sich auch nur schwer drücken, denn es sind gerade die am häufigsten gebrauchten Verben, deren Formen unregelmäßig gebildet werden. Diese Tatsache fiel auch einer Gruppe von Evolutionsbiologen der Harvard University auf und sie beschlossen, sich das genauer anzusehen:
Erez Lieberman von der Harvard University und seine Kollegen haben untersucht, wie sich die Vergangenheitsformen unregelmäßiger englischer Verben in den vergangenen 1500 Jahren verändert haben. … Die Ergebnisse lassen sich auf eine einfache Formel bringen: Je häufiger ein Wort im täglichen Sprachgebrauch verwendet wird, desto seltener verändert es sich im Laufe der Zeit. (Spiegel Online)
Zunächst eine Nebenbemerkung: das Partizip Perfekt ist ja eigentlich keine Vergangenheitsform, denn es wird ja auch verwendet, um den Passiv zu bilden, und zwar über alle Zeitformen hinweg, aber wir übernehmen hier trotzdem das Wort Vergangenheitsform als Oberbegriff.
Die Berichte über die Forschung der Harvarder Biologen erwecken den Eindruck, der Zusammenhang von Häufigkeit und unregelmäßiger Bildung der Vergangenheitsformen sei eine neue Entdeckung. Tatsächlich ist dieser Zusammenhang in der Linguistik aber schon lange bekannt. Wie lange genau, kann ich nicht sagen, aber in Barbara Strangs History of English von 1970 wird bereits selbstverständlich darauf hingewiesen, dass häufige Formen eine andere Entwicklung durchlaufen als seltene. Ich nehme aber an, dass man das schon viel länger weiß (vielleicht kennt ja ein/e historisch bewanderte/r Leser/in eine Quelle).
Lieberman selbst behauptet auch gar nicht, diesen Zusammenhang entdeckt zu haben. Er und seine Mitautoren nehmen für sich lediglich in Anspruch, ihn erstmalig genau quantifiziert zu haben:
The half-life of an irregular verb scales as the square root of its usage frequency: a verb that is 100 times less frequent regularizes 10 times as fast.
Die Halbwertzeit eines unregelmäßigen Verbs kann als Quadratwurzel seiner Gebrauchshäufigkeit beschrieben werden: ein Verb, dass 100 Mal seltener ist, wird 10 Mal schneller regelmäßig. (Aus Liebermans Zusammenfassung der Ergebnisse)
Das ist auf jeden Fall eine interessante kleine Ergänzung der bereits bekannten Tatsachen, auch wenn es sich um eine grobe Vereinfachung handelt: denn erstens gibt es auch Fälle von Verben, die sich von einer regelmäßigen zu einer unregelmäßigen Bildung der Vergangenheitsformen entwickelt haben, und zweitens haben sich die unregelmäßigen Verben natürlich in der untersuchten Zeitspanne auch verändert — ihre Vergangenheitsformen haben sich im Vergleich zum Altenglischen stark vereinfacht, sie sind eben nur nicht regelmäßig geworden.
Soweit so gut. Für mathematisch orientierte historische Linguisten dürfte die Formel von Lieberman ganz interessant sein, aber wenn eine breite Öffentlichkeit sich durch die Verwendungshäufigkeit von regelmäßigen und unregelmäßigen Verben faszinieren ließe, würde mich das sehr wundern. Warum haben die Medien die Geschichte also aufgegriffen?
Es ist natürlich der Bezug zur Evolutionsbiologie, der die Aufmerksamkeit der Redakteure erwecht hat. So schreibt Spiegel Online:
Mit mathematischen Methoden haben Forscher jetzt bewiesen, dass Wörter im Grunde nichts anderes als Gene sind — und sogar den gleichen Gesetzen gehorchen, die in der Biologie gelten.
Ob im Originalartikel tatsächlich ein Zusammenhang zur biologischen Evolution hergestellt wird, wie der Artikel auf Spiegel Online nahelegt, kann ich leider nicht beurteilen, da ich die dreißig Dollar, die der Artikel kostet, gerade nicht übrig habe. Aber die Zusammenfassung auf der Webseite der Fachzeitschrift Nature deutet eine Analogie an (leider ebenfalls hinter einer Bezahlwand versteckt, aber mit ein bisschen googeln auch kostenlos aufzutreiben):
This could be seen as analogous to the way that crucially needed genes tend to stay the same throughout biological evolution, whereas those for less-often-used or specialist traits have more freedom to evolve.
Das könnte man als analog zu der Tatsache betrachten, dass unbedingt benötigte Gene sich tendenziell im Laufe der biologischen Evolution nicht verändern, während spezialisierte oder weniger häufig benötigte Eigenschaften bei ihrer Evolution einen größeren Spielraum haben.
Auch der Vergleich von Sprachentwicklung und Evolution ist übrigens nichts neues, sondern wird in der Sprachwissenschaft seit vielen Jahren diskutiert.
Das obige Zitat übertreibt diesen Zusammenhang aber stark: die Analogie zwischen Wörtern und Genen ist sehr viel komplexer. Wörter sind natürlich etwas völlig anderes als Gene, die Ähnlichkeit besteht auf einer abstrakten Ebene: sowohl in der Evolution von Lebewesen als auch im Sprachwandel lassen sich die Prinzipien der Mutation (Veränderung) und Selektion (Auswahl) beobachten. Das wars dann aber auch schon — die konkreten Mechanismen und die größeren Zusammenhänge sind völlig unterschiedlich.
In der Evolution von Genen ist die entscheidende Frage, ob eine bestimmte Mutation sich auf die Angepasstheit des Organismus an seine Umwelt positiv, neutral oder negativ auswirkt. Wenn die Auswirkunken positiv sind, kann der Organismus sich besser fortpflanzen als seine Konkurrenten ohne diese Mutation, wenn sie neutral sind, bleibt alles beim alten und wenn sie negativ sind, stirbt der Organismus und/oder kann sich schlechter fortpflanzen. Mutation birgt also ein großes Risiko.
Die Stabilität der „wichtigen“ Gene hat also vermutlich etwas damit zu tun, dass Mutationen hier drastische Konsequenzen für die Überlebensfähigkeit des Organismus in seiner Umwelt haben, während Mutationen bei „unwichtigeren“ Genen auch im schlimmsten Fall häufig keine unmittelbare Auswirkungen auf die Überlebensfähigkeit haben (so stelle ich mir das als biologischer Laie auf jeden Fall vor — erklärt wird es in der Zusammenfassung von Nature nicht).
Bei der Regularisierung sprachlicher Formen zieht eine solche Erklärung nicht, denn die englische Sprache wäre ja nicht weniger funktional wenn die häufigen Verbformen regelmäßig gebeugt würden. Überhaupt haben die Mutation und Selektion sprachlicher Formen häufig nichts mit der „Angepasstheit“ der Sprache an ihre „Umwelt“ zu tun. Was genau die Prinzipien sind, nach denen Sprecher neue Formen selegieren, ist noch nicht vollständig erforscht. Ein wichtiger Grund ist aber in Beschränkungen während des Spracherwerbs zu finden.
Die unregelmäßigen Bildungsmuster der Vergangenheitsformen sind die letzten Überbleibsel eines sehr komplexen Systems im Altenglischen, in dem es eine Reihe von stärker oder schwächer gebeugten Verbklassen gab, die jede für sich dann relativ vorhersehbar (also regelmäßig) waren. Um die Formen eines Verbs „richtig“ zu bilden, mussten die Sprecher natürlich wissen, in welche dieser Klassen das jeweilige Verb gehört. Je seltener ein Verb ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass bei den Sprechern Unsicherheit über diese Frage besteht. Die Sprecher werden die Vergangenheitsformen dieser seltenen Verben also häufiger einmal nach einem anderen als dem eigentlich vorgesehenen Muster bilden und dabei auf das neutralste und regelmäßigste Muster zurückgreifen. Die Kinder, die das hören, gehen dann davon aus, dass dies die richtige Verbklasse ist und verwenden das Verb von vorneherein so, als gehöre es dort hinein. So wandern über viele Generationen hinweg immer mehr der seltenen Verben in diese neutrale Verbklasse hinein, während die häufigen Verben in ihren Klassen bleiben, da die Sprecher sie häufig genug hören, um zu wissen, dass sie dort hineingehören.
Das habe ich mir übrigens nicht ausgedacht — die Psychologen Mary Hare und Jeff Elman haben schon 1995 gezeigt, dass das ein plausibles Szenario für die Regularisierung von Bildungsmustern ist, in dem sie künstliche neuronale Netze an Daten trainierten, die in der Häufigkeitsverteilung regelmäßiger und unregelmäßiger Verben dem Altenglischen nachempfunden waren. Nach einer begrenzten Anzahl von Trainingszyklen wurde der Output dieser Netze dann als Input für eine neue Generation von Netzen verwendet, und so weiter. Hare und Elman fanden heraus, dass über mehrere Generationen von neuronalen Netzen hinweg eine Regularisierung der Bildungsmuster stattfand, und zwar umso eher, je seltener die Verben im ursprünglichen Input waren. Ein weiteres interessantes Ergebnis war übrigens, dass seltene Verben, die häufigen Verben lautlich und in ihren Bildungsmustern ähnlich waren, letztere beibehalten konnten. Das lässt sich im echten Sprachwandel auch beobachten, Lieberman und seine Kollgen schweigen dazu, soweit mir bekannt.
Über die Studie von Hare und Elman haben die Medien seinerzeit übrigens nicht berichtet, obwohl sie in der Zeitschrift Cognition erschien, die mindestens so renommiert ist, wie Nature — entweder die University of California, an der Hare und Elman damals forschten, hat eine schlechtere Presseabteilung als die Harvard University, bei der Lieberman und seine Kollegen beschäftigt sind. Oder das Wort „Evolution“ ist spannender als das Wort „neuronales Netz“, egal, ob damit tatsächlich irgendetwas erklärt wird oder nicht.
Literatur
HARE, Mary und Jeffrey L. ELMAN (1995): Learning and morphological change. Cognition 56: 61–98. [PDF]
Danke, sehr schön. Ich muss zugeben, dass ich auch an Sie gedacht hatte, nachdem ich den entsprechenden Artikel in der SZ gelesen hatte.
Der zitierte Satz aus dem Spiegel über Wörter und Gene ist ja geradezu beschämend.
Zu bedenken ist vielleicht noch, dass es einen Unterschied zwischen Genotypus und Phänotypus gibt: Eine genetische Veränderung muss sich nicht auswirken oder sie wirkt sich an ganz anderer Stelle aus.
Was die Ähnlichkeit von Sprachentwicklung und Evolution betrifft, ist diese womöglich durch den Betrachter gegeben. Will sagen: Beide Prozesse (und einige mehr) werden natürlich durch das gleiche menschliche Hirn modelliert.
Bernd,
„Was die Ähnlichkeit von Sprachentwicklung und Evolution betrifft, ist diese womöglich durch den Betrachter gegeben…“
Das ist richtig. Unser Gehirn liebt Analogien. Hinzu kommt allerdings, dass die abstrakten Prinzipien der gemeinsamen Abstammung, der Mutation und der Selektion tatsächlich für die Sprache (und auch für rein kulturelle Prozesse) ebenso gelten, wie für biologische Veränderung. Die Biologie und die Sprachwissenschaft haben sich (deshalb?) auf ihrem jeweiligen Erkenntnisweg immer wieder gegenseitig beeinflusst. Ich möchte da schon lange mal etwas zu schreiben, aber die Zeit fehlt mir im Moment…
Es ist erschütternd, dass selbst die Evolutionslehre, die als wissenschaftliche These ja mal eine ist, die Laien bei aufmerksamem Lesen gut verstehen können (wie Herr Stefanowitsch oben beweist!), von Journalisten offenkundig weder verstanden noch wiedergegeben werden kann. Abgesehen davon wäre es in diesem Kontext sicher sinnvoller statt zu Genen eine Parallele zu Memen zu ziehen — Dawkins ist ja gerade in aller Munde — oder den ganzen Effekt unter diesem Thema einzuordnen.
Wenn man nicht die Wörter, sondern die von Herrn Stefanowitsch erwähnten Verbklassen als Meme interpretiert, macht der Vergleich mE sogar Sinn.
Diese Verbklassen konkurrieren um die Verben, um so ihr eigenes “Überleben” zu sichern. Dabei sind Einfachheit und Regelmäßigkeit scheinbar Reproduktionsvorteile.
Ich finde die Parallelenziehung zwischen Sprachentwicklung und biologischer Evolution ehrlich gesagt problematisch bis ärgerlich, zumal sich darin vor allem evolutionsbiologischer Unverstand äußert.
Die Lage in der Evolutionsbiologie ist nun mal
a) wesentlich komplizierter als das volkstümliche Bild suggeriert und
b) in wesentlichen Aspekten noch nicht wirklich verstanden.
Sehr schönes Blog übrigens.
Falls du den Nature-Artikel mal lesen möchtest, meld dich. Das ließe sich arrangieren.
Genau.
Habe vergessen zu erwähnen: University of California gibt es eine in Berkeley, eine in LA, eine in… ich glaube, Sacramento… Haben sicher alle konkurrierende American-Football-Teams 🙂
Mit der folgenden Arhgumentation bin ich nicht 100%ig einverstanden:
Die Stabilität der ‘wichtigen’ Gene hat also vermutlich etwas damit zu tun, dass Mutationen hier drastische Konsequenzen für die Überlebensfähigkeit des Organismus in seiner Umwelt haben, […]
Bei der Regularisierung sprachlicher Formen zieht eine solche Erklärung nicht, denn die englische Sprache wäre ja nicht weniger funktional wenn die häufigen Verbformen regelmäßig gebeugt würden.
Es reicht ja bereits, daß man von seiner Umwelt nicht sofort verstanden wird, damit Sprache an Funktionalität einbüßt. Dieses Risiko ergäbe sich aber aus einer spontanen Ersetzung der tradierten unregelmäßigen Formen durch regelmäßige. Man muß den Zeitfaktor miteinbeziehen: Eine neue — wenn auch bessere — Systematik bedeutet allein wegen der Umstellung zunächst einen Nachteil. Insofern sehe ich durchaus eine Analogie zwischen Sprachwandel und biologisch/genetischem Evolutionsmodell.
Vielleicht hat es etwas mit der “Zufallswanderung” zu tun, bei der der durchschnittliche Abstand zum Ausganspunkt proportional zur Quadratwurzel der vergangenen Zeit (bzw. der zurückgelegten Schritte) ist, und das völlig unabhängig davon, in wievielen Dimensionen diese Wanderung stattfindet — sprich: wieviele Feiheitsgrade zur Verfügung stehen.
Es verwundert mich eigentlich kein bischen, wenn zwei so verschiedene Systeme wie Gene und Sprache — eben weil sie hinreichend komplex sind, um dem Gesetz der großen Zahl zu folgen — sich letztlich nach der selben statistischen Gesetzmäßigkeit verhalten.
Außerdem stimme ich Thomas Müller in 4 völlig zu.
Alles, was man über die Unregelmäßigen Englischen Verben zu wissen braucht ist auf Verbbusters zu finden.